Das Erbe geht um
In Deutschland konzentriert sich Reichtum zunehmend in wenigen Händen – besonders dank gering versteuerter Erbschaften und Schenkungen. Kritik in der Bevölkerung daran gibt es kaum. Woran liegt das? Wer das Erbe allein nach Prinzipien von Freiheit und Gleichheit bewertet, verkennt seine emotionale Bedeutung. Auf den Spuren einer wirkmächtigen Idee.
Im Gegensatz zum Einkommen ist das Erbe etwas, zu dem man als Empfänger nichts beiträgt. Einen Nachlass „verdient“ man nicht. Man hat nicht für ihn gearbeitet, nichts geleistet, sondern er ist, so könnte man sagen, eine Sache des Glücks, eine günstige Fügung. Für den älteren Horkheimer war das Glück des Erbes eine der wenigen überhaupt noch möglichen Formen der Gerechtigkeit in einer Welt, in der auf nicht mehr viel zu hoffen ist. Denen, die „kreischen (…) ‚Wie ungerecht!‘“, wenn einer viel Geld erbt, antwortet er in einem in den 1950er-Jahren verfassten Aphorismus: „Ahnt ihr denn, dass dies das bisschen Gerechtigkeit ist, das auf dieser Welt übrig bleibt? Glück – ohne Verdienst?“
So kann man das natürlich sehen. Eine Gesellschaft, in der man immer etwas zu leisten hat und sich alles verdienen muss, hat etwas zutiefst Ungerechtes. In ihr wird ein Nachlass zum letzten unverhofften Segen. Allerdings ist ein Erbe selten so zufällig wie ein Lottogewinn, sondern ziemlich klar verteilt. In Deutschland besitzt allein das reichste 1 Prozent rund 35 Prozent des Vermögens; die Hälfte aller Schenkungen und Erbschaften entfallen auf 10 Prozent der Bevölkerung. Absolut betrachtet nimmt die Ungleichheit in unserer Gesellschaft durch diese Übertragungen weiter zu. Und Menschen, die erben, haben es einfacher, auch in Zukunft weiteres Vermögen zu generieren.
Entgegen dem neoliberalen Geist
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Sind Sie eher Prozac oder Paroxetin? Effexor oder Seroplex? Wenn Ihnen diese Namen nichts sagen, gehören Sie zu den wenigen, die vom modernen Übel der Depression verschont sind. Samuel Lacroix fragt nach den Hintergründen dieser psychischen Krankheit und geht mit einem Philosophen auf die Reise, der selbst schwer depressiv war.

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