Christian Neuhäuser: „Wenn wir extremen Reichtum verbieten, steigern wir das Innovationspotenzial“
Einem Oxfam-Bericht zufolge ist das Vermögen der zehn reichsten Menschen der Welt seit Beginn der Pandemie um eine halbe Billion Dollar gewachsen. Das ist mehr als genug, um Impfstoffe für die Weltbevölkerung bereitzustellen. Im Interview argumentiert der Philosoph Christian Neuhäuser, warum Reichtum dieses Ausmaßes abgeschafft werden sollte.
Herr Neuhäuser, wäre die Forderung einer COVID-Solidaritätsabgabe von sehr reichen Menschen Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Solch eine Forderung kann ich nachvollziehen, halte sie in dieser Form allerdings für sehr plakativ und wenig zielführend. Ich stimme allerdings der grundlegenden Ansicht zu, dass Reichtum ein moralisches Problem darstellt. Entsprechend sollten die Musks und Bezos dieser Welt natürlich darüber nachdenken, wie sie ihr Geld nutzen können, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Noch wichtiger als der Blick auf Einzelne scheint mir aber der auf das gesamte Wirtschaftssystem zu sein. Denn die angesprochenen Ungleichheiten machen ja deutlich: Das System hat massive Fehler. Erstens bietet es für die meisten im Katastrophenfall nicht schnell und ausreichend genug Schutz. Und zweitens spült es jenen weitere Ressourcen zu, die sie nicht brauchen.
In Ihrem Buch Reichtum als moralisches Problem (Suhrkamp, 2018) plädieren Sie deshalb für eine Abschaffung von Reichtum.
Zunächst einmal gibt es natürlich einen Unterschied zwischen Menschen, die wohlhabend sind und anderen, die illegitim reich sind. Menschen, die bis zum Dreifachen des Durchschnittseinkommens ihres Landes zur Verfügung haben, definiere ich als wohlhabend und damit als moralisch recht unproblematisch. Wenn wir allerdings von Leuten reden, die über eine Millionen Euro im Jahr an Einkommen oder 30 Millionen an Vermögen besitzen, ist das schon etwas anderes. Nicht zu reden von absurd reichen Menschen, wie den 62 Milliardären, die so viel Kaufkraft besitzen, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Im Hinblick auf diese Fälle brauchen wir Umverteilungsmechanismen. Und zwar nicht unbedingt beim Einkommen, sondern vor allem beim Vermögen, weil wir dort die größten Ungleichheiten haben.
Welche Mechanismen wären das?
Sehr effiziente Mittel sind solche Steuern, die tatsächlich Vermögen umverteilen und nicht in erster Linie mehr Einnahmen für den Fiskus bedeuten. Wenn diese Umverteilung stattgefunden hat, braucht es dann noch weitere Eingriffe, um ein Zurückschwingen des Pendels zu vermeiden, also sogenannte prädistributive Maßnahmen. Das sind jene, die eine ungleiche Verteilung von vorneherein verhindern. Letztlich argumentiere ich also für eine Demokratisierung von Unternehmen, weil nur diese dafür sorgt, dass Unternehmen nicht von wenigen Personen genutzt werden können, um extrem viel Macht auszuüben und sich entsprechend zu bereichern. Aber auch ein bedingungsloses Grundeinkommen sollte man in Erwägung ziehen, wenn man ausgehend von der Würde über Reichtum nachdenkt.
Was hat Würde denn mit der Erforschung von Reichtum zu tun?
Wer die Idee einer liberalen Gesellschaft ernst nimmt, dem kann nicht nur daran gelegen sein, dass Menschen ihr Leben frei im Sinne einer rein individualistischen Freiheit gestalten können, sondern der muss auch anstreben, dass sie in Würde leben können. Neben der Wahrung der individuellen Personenrechte impliziert das, dass Menschen Achtung vor sich selbst und vor anderen als gleichrangiges Gesellschaftsmitglied besitzen. Eine ganz ähnliche Idee vertrat bereits der Philosoph John Rawls, der von der Selbstachtung als psychologische Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft sprach. Nur wenn die Grundstrukturen einer Gesellschaft so sind, dass die Menschen in Selbstachtung leben, ist ein gutes Zusammenleben möglich. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner großen Fantasie, um zu sehen, dass die Selbstachtung einer Busfahrerin auf dem Spiel steht, wenn Manager am Tag verdienen, was sie in einem Jahr macht.
Der Philosoph John Locke vertrat die Auffassung, dass die eigene Freiheit dort enden sollte, wo sie jene von anderen beschneidet. Denken Sie die Würde hierzu analog?
Das ist ein spannender Punkt. Dann wäre Reichtum insofern problematisch, als dass sie anderen die Grundlage entzieht, um in Würde leben zu können. Was Locke in jedem Fall richtig gesehen hat, ist, dass sehr viele Güter in Relation zu deren Verfügbarkeit und zur Verfügbarkeit für andere gesehen werden müssen. Dass also die Frage, ob ich mir Land kaufen kann maßgeblich von der Frage abhängt, ob dann noch genug für andere da ist.
Wenn Sie allerdings ein Leben in Würde für zentral ansehen, könnten dann Reiche nicht auch sagen, dass ein Privatjet für sie integraler Bestandteil eines würdevollen Lebens ist? Und wäre damit eine Umverteilung nicht wiederum problematisch?
Vorneweg muss man sagen, dass sehr reiche Menschen ja selbst Produkt der Absurditäten des Wirtschaftssystems sind. Und zwar insofern, als dass sie sich ihren Reichtum ja nicht ausgesucht haben, sondern ihnen dieser gewissermaßen zugestoßen ist, nachdem sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort eine Geschäftsidee hatten, die zu einem Monopol geführt hat. Da spielt enorm viel Glück mit in die Gleichung. Dennoch besitzen sie natürlich dieses enorme Vermögen nun mal und werden das ungern hergeben. Umverteilung kann deshalb auch nicht von heute auf morgen passieren, sondern muss auf eine Art und Weise begleitet werden, die auch die Würde dieser Personen wahrt. Es müsste ihnen also die Möglichkeit gegeben werden, ihre Vorstellung vom guten Leben anzupassen. Allerdings kann man das durchaus erwarten, da ihre aktuelle Vorstellung auf Ungerechtigkeit beruht.
Würde allerdings eine Begrenzung des Reichtums nicht einen maßgeblichen Anreiz für Unternehmertum und damit Innovation tilgen?
Dieser Einwand liegt nahe, lässt sich aber leicht entkräften. Denn was wir wissen, ist, dass Leute nicht innovativ und risikobereit sind, weil sie reich werden wollen oder auch nur die Aussicht darauf haben, reich werden zu können. Denken Sie an Bill Gates, der bahnbrechende Technologien in die breite Anwendung gebracht hat, und zwar sicherlich nicht, weil damit die direkte Aussicht auf Reichtum verbunden war. Wohlhabend zu werden kann hingegen sehr wohl ein Anreiz sein. Deshalb würde ich sogar im Gegenteil sagen, wenn wir extremen Reichtum verbieten und die Ressourcen besser verteilen, steigern wir das Innovationspotenzial in der Breite, weil mehr Menschen in die Lage versetzt werden, Risiken eingehen zu können, ohne Angst vor dem Existenzverlust haben zu müssen. Man streut das Kapital also mehr in die Breite. Die Gefahr durch Reichtum ist sicherlich größer als die Gefahr einer Begrenzung von Vermögen für die Innovationskraft. Und zwar politisch wie auch ökologisch.
Politisch, da reiche Menschen durch Wahlkampfspenden auf Entscheidungsträger einwirken können?
Das ist ein Faktor, den man aber recht leicht regulieren kann, was ja in Deutschland auch recht effektiv getan wird. Was man meiner Ansicht nach wesentlich schlechter in den Griff bekommt, ist der sogenannte Drehtür-Lobbyismus. Politiker also, die in die Wirtschaft und wieder zurück in die Politik wechseln und so Entscheidungen durchsetzen können, denen die Politik in vielen Fällen machtlos gegenübersteht. Und ein noch viel größeres Problem ist die massive soziale Ungleichheit, wenn man auf die Bekämpfung des Klimawandels und den Rechtspopulismus schaut.
Inwiefern?
Solange es große ökonomische Ungleichheiten gibt, ist jeder Kampf ein Verteilungskampf, weil immer die Frage aufkommt: Und wer bezahlt das? Das gilt aktuell für die Pandemie wie auch für den Kampf gegen die Erderwärmung. Der Grund, warum wir so schlecht darin sind, dem Klimawandel zu begegnen, ist der, dass immer die Frage aufkommt, wer dafür aufkommt: Warum wir so viel und die anderen so wenig? Wären die Ungleichheiten kleiner, wäre hingegen von vornherein klar, dass die Kosten solidarisch getragen werden. Der zweite Punkt ist: Bei einer sehr großen sozio-ökonomischen Ungleichheit sehen viele Menschen die eigene Würde bedroht. Sie fühlen sich nicht als gleichrangige Gesellschaftsmitglieder anerkannt und sind empfänglicher für radikale Ideen. Das zerstört die Handlungsfähigkeit liberaler Staaten und erhöht die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen. •
Christian Neuhäuser ist Juniorprofessor für Philosophie und Politikwissenschaft an der TU Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien der Würde, der Verantwortung und des Eigentums. Zum Thema des Gesprächs erschien von ihm u. a. 2018 „Reichtum als moralisches Problem“ bei Suhrkamp.
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Die Redaktion des Philosophie Magazin trauert um Imre Kertész. In Gedenken an den ungarischen Schriftsteller veröffentlichen wir ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2013.
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„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe.
Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ oder „Der Spurensucher“. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.
Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.

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