Aleida Assmann: „Die Geschichte der USA steht auf der Kippe“
Wie der Sturm auf das US-Kapitol in das kollektive Gedächtnis eingehen wird, ist radikal offen, meint die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Ein Gespräch über Geschichtspolitik und das Trauma des 6. Januar.
Frau Assmann, vergangene Woche jährte sich der Sturm auf das Kapitol in Washington. Die US-Amerikaner sind über die Bewertung dieses Tages tief gespalten und die Aufarbeitung der Ereignisse ist noch in vollem Gange. Dennoch sprachen die Demokraten am Jahrestag bereits von Gedenken und der Notwendigkeit, „die Geschichte des 6. Januars zu erhalten.“ Wie bewerten Sie diesen frühen Rückgriff auf eine Sprache des Gedenkens und die Historisierung der Ereignisse, die noch sehr mit der Gegenwart verwoben sind?
Sie haben recht. Das ist noch gar kein Ereignis, was abgehandelt ist, indem es gemeinsam gedeutet, eingeordnet und bewertet wurde. Die Vorkommnisse stehen noch mitten im Konflikt zwischen zwei Parteien. Das Wort Gedenken im Sinne von „commemoration“ kommt nicht vor. Man spricht vom „one-year anniversary“. Es geht um den Jahrestag und wir wissen, dass der in der Erinnerung eine unglaublich wichtige Rolle spielt. An einem Jahrestag kommen die Dinge noch einmal mit einer starken emotionalen Kraft und sinnlichen Präsenz zurück. Das ist der Biorhythmus des Erinnerns – unabhängig von demokratischer oder republikanischer Perspektive. Aber Sie haben schon recht, Biden hat auch von einem „day of remembrance“ gesprochen. Er hat den 6. Januar also zu einem Erinnerungstag gemacht. Dieser Schritt war besonders auffällig, weil er das ganze Jahr geschwiegen hat. Es gab über diesen Tag ein Schweigen an der Spitze. Dadurch baute sich eine Erwartung auf. Nun hat Biden den Jahrestag durch seine sehr gewichtige Rede symbolisch herausgehoben und gesichert, dass er nicht einfach vorbeigeht. Das war auch ein Akt der Dramatisierung und Inszenierung.
In seiner Rede sagte Joe Biden, dass „die Demokratie der Attacke standgehalten“ und dass „das Volk gesiegt“ habe. Vizepräsidentin Kamala Harris erklärte den 6. Januar zum Teil des kollektiven Gedächtnisses. Diesen Interpretationen aber steht entgegen: fast alle Republikaner blieben den Gedenkveranstaltungen in Washington fern. Aufzeichnungen aus dem Abgeordnetenhaus etwa zeigen leere Bänke. Sind die Worte der führenden Demokraten damit nicht primär das, was John Austin performative Sprechakte nennt – also Äußerungen, welche die Welt nicht einfach beschreiben, sondern versuchen, bestimmte Zustände hervorzubringen und zu fixieren?
Genau deswegen ist es so ein spannender Moment, den wir gerade erleben. Kamala Harris beginnt ihre Rede mit einem bemerkenswerten Satz: „Es gibt nicht nur Daten, die einen Ort in unserem Kalender haben, sondern auch einen Ort in unserem kollektiven Gedächtnis.“ Was sie hier macht, ist eine Geschichtspolitik. Sie stellt das Ereignis in eine Reihe mit zwei Ereignissen, die tief in das amerikanische Gedächtnis eingebrannt sind. Pearl Harbor ist absolut unvergesslich. Das ist jenseits aller Parteipolitik akzeptiert. Das Gleiche gilt für den 11. September. Und jetzt ordnet sie den 6. Januar in diese Liste ein. Sie schafft damit eine Art Memo-Technik für alle Amerikaner. Aber es bleibt natürlich ein Ereignis, in dem die Spaltung der Gesellschaft so sichtbar geworden ist, wie sonst überhaupt nicht. Insofern ist die Reihung der drei Daten außerordentlich interessant. Diese Erinnerungen sollen das Selbstbild der Gesellschaft bestimmen. Erinnerte Geschichte ist nicht vergangen. Diese Vergangenheit ist dazu bestimmt, gegenwärtig zu bleiben und Orientierung für die Zukunft zu geben.
Bidens erste Worte machen aber auch deutlich, dass es darum geht, eine bestimmte Deutung der Ereignisse zu etablieren. Wichtig ist nicht nur „dass“, sondern „wie“ erinnert wird.
Die ganze Rede handelte davon, dass es in diesem Fall – anders als bei Pearl Harbor und den Twin Towers – nicht um einen Angriff von außen geht, der die Nation eint. Genau das war der 6. Januar nicht! Der Sturm auf das Kapitol war im Gegenteil ein Angriff von innen, der die Nation spaltet. Es war ein Angriff auf das Allerheiligste des Landes in Form einer feindlichen Übernahme. Die Spaltung des Landes, die mit diesem Akt erfolgt ist, kann man sich nicht stärker vorstellen. Deshalb stellt sich hier auch nicht mehr nur die Frage: republikanisch oder demokratisch, sondern: amerikanisch oder unamerikanisch. Es geht um das Selbstverständnis Amerikas. Biden hat in seiner Rede diese Entscheidung in den Mittelpunkt gestellt: Um was für ein Land geht es hier? Was für eine Zukunft wünschen wir uns? Wer sind die wahren Patrioten? Und welcher Präsident regiert eigentlich dieses Land, Biden oder immer noch Trump? Diese Fragen sind offen und vor diesem Hintergrund spricht Biden alle Amerikaner an: „Überlegt euch, auf welche Seite ihr euch schlagen wollt.“ Welchem Prinzip wollt ihr folgen? Lügen oder Fakten? Wut oder Gesetz? Was für eine Art von Amerikanern wollt ihr sein?
Die Rede versucht also klare Verhältnisse zu schaffen, indem sie von den Amerikanern eine Entscheidung fordert.
Es ist ihnen überlassen, sich der Macht dieser Worte zu entziehen oder ihnen zu widersprechen. Letztlich aber kann nur die kommende Wahl über diese Fragen entscheiden. Deswegen ist es ein dramatisch offener Moment. Er ist nicht unabgeschlossen, weil das Ereignis noch so jung ist, sondern weil es in seiner Deutung grundsätzlich offen ist. Jeder will das Land vor dem anderen retten. Erst die nächste Wahl wird dies entscheiden, der nächste Sieger wird diese Geschichte deuten.
Sie erwähnten es bereits: ein zentraler Unterschied zu anderen gewichtigen Ereignissen wie etwa dem 11. September ist, dass der Angriff diesmal von innen kam. Dennoch steht das Volk in Bidens Rede auf der Seite des Guten, „das Volk hat sich durchgesetzt.“ Damit mindert seine Rede doch den Fakt, dass ein Teil des Volkes auch Teil der Bedrohung war. Kann eine Aufarbeitung gelingen, ohne dies direkter anzusprechen?
Deswegen ist es eine politische Rede. Biden nimmt diesen Moment jetzt wahr, um allen Amerikanern die Entscheidungs- und Schicksalsfrage zu stellen. Sie müssen sich zu den Ereignissen und der Zukunft des Landes positionieren. Biden verwandelt diese Frage in eine Entscheidung über die Grundwerte Amerikas. Entweder Wahl und Gesetz oder Wut und Chaos.
Die Gedenkveranstaltungen fokussierten den Geist der Einheit und beschworen den Zusammenhalt der Nation. Ist dies das einzig denkbare Register des Erinnerns? Wäre es nicht möglich und sinnvoll gewesen, bei dem Zweifel, dem Schrecken und der anhaltenden Spaltung zu bleiben? Schließlich scheint das der Status quo zu sein. Eine wachsende Zahl an US-Amerikanern meint etwa, dass Gewalt gegenüber der Regierung in gewissen Fällen gerechtfertigt ist.
In einer gespaltenen Welt ist der Zweifel politisch nicht effektiv, weil er die Polarisierung bestätigt und womöglich auch vertieft. Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Ereignis nach wie vor eine offene Zukunft hat. Diese Offenheit ist das Drama und das Trauma dieses Tages. Der Versuch, dem nun eine Gestalt und eine klare Bedeutung zu geben, ist der Versuch diese radikale Offenheit zu überwinden. Und letztlich geht es auch um die Frage: Werden wir in diesem Land weiter freie Wahlen haben oder werden wir sie abschaffen? Das Wahlsystem der USA ist akut bedroht. Wahlgesetze könnten dramatisch verändert werden, sodass die Schwarzen und andere Minderheiten strukturell behindert werden und damit ihr Einfluss im Land beschnitten wird. Biden hat seine Rede benutzt, um immer wieder auf die Wahl zurückzukommen und die Amerikaner daran zu erinnern: die Tradition ist, dass das Volk entscheidet, aber es entscheidet über den Wahlzettel – „the ballot“. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich würde nicht sagen, er hätte den Republikanern mehr Raum geben sollen. Das ist eine Perspektive, die nur weit weg vom Geschehen möglich ist und das Selbstverständnis dieses Landes nicht berücksichtigt. Die USA sind ein unglaublich stolzes Land. Sein Stolz und sein Selbstbild fußt darauf, eine echte Demokratie begründet zu haben – die gerade abgeschafft oder manipuliert wird. Biden zeigt, was auf dem Spiel steht. In so einer Situation ist ein klares Wort gefragt und nicht der Zweifel.
Wie würde denn die Deutung des 6. Januar aus der Perspektive von Trump ausfallen?
Er müsste den Angriff und die rohe Gewalt rechtfertigen, und das ist gar nicht so einfach. Er muss dabei den Mob als die authentische Stimme des Volkes darstellen. Dass die Republikaner da mitmachen, um an die Macht zu kommen, finde ich sehr beunruhigend, denn es wird in der Bevölkerung zur Desorientierung und Radikalisierung beitragen.
Der Sturm auf das Kapitol ist nicht das einzige Ereignis, dessen Platz in der Erinnerung umstritten ist. Auch andere Teile der US-amerikanischen Geschichte rücken zunehmend in den Fokus gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Man denke z.B. an den anhaltenden Streit darüber, ob Sklaverei im Schulunterricht behandelt werden soll. Welche Richtung wird das kollektive Gedächtnis der USA – und die Erinnerung an den Sturm auf das Kapitol – einschlagen?
Ich würde sagen, der 6. Januar ist wirklich etwas vollkommen Neues, weil plötzlich die ganze Geschichte der USA auf der Kippe steht. Beim 11. September saß der Schock so tief, dass man fünf oder sechs Jahre brauchte, um das Trauma zu bewältigen. Über den 6. Januar dagegen kann noch nichts Abschließendes gesagt werden, weil noch nicht entschieden ist, wer diese Deutung für sich gewinnen wird. Die Deutungsoffenheit des Ereignisses ist abhängig von der nächsten Wahl. Diese Wahl wird auch darüber entscheiden, wann die Schwarzen es endlich schaffen, mit ihrer Vergangenheit Teil der nationalen amerikanischen Geschichte zu werden. Das Symbol dafür ist die Jahreszahl 1619, die oft auf den Baseball-Kappen von Afro-Amerikanern zu sehen ist. 1619 kam ein Sklavenschiff in Virginia an; 1620 ein Schiff mit weißen Puritanern in Massachusetts. Es gab die Immigration in die USA und es gab die Verschleppung in die USA. Letzteres ist noch nicht Teil der amerikanischen Geschichte. Auch diese Forderung ist bisher ungeklärt. Letztlich werden diese Fragen nicht von oben entschieden, sondern an der Wahlurne. Durch das binäre Parteiensystem des Landes steht dabei alles auf einer polarisierten Kippe – das empfinde ich als zutiefst verstörend. Die Zukunft ist in beide Richtungen völlig offen. •
Aleida Assmann ist Kulturwissenschaftlerin und Anglistin. Ihre Forschung beschäftigt sich mit dem kulturellen Gedächtnis, der Erinnerung und dem Vergessen. Zuletzt erschien von ihr „Die Wiedererfindung der Nation“ (2020). Für ihre Arbeit wurde ihr gemeinsam mit Jan Assmann 2018 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.