Allende lebt
Heute vor 50 Jahren putschte Augusto Pinochet in Chile und führte den Neoliberalismus ein. Damit beendete er Salvador Allendes cyber-sozialistisches Experiment, das heute wie ein Wirtschaftsmodell aus der Zukunft wirkt.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, unsere Epoche beginnen zu lassen. Üblich ist der 9. November 1989, als der Mauerfall das Zeitalter der Globalisierung einleitete. Andere verweisen auf das Jahr 1979, in dem Deng Xiaoping China auf marktwirtschaftlichen Kurs brachte, die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte und damit ihren Untergang besiegelte, die Iranische Revolution den Islamismus in die Welt setzte und Margaret Thatcher mit ihren neoliberalen Reformen begann, die unsere Welt bis heute bestimmen.
Neoliberaler Modellstaat
Letztere haben jedoch noch einen anderen Ursprung. Am 11. September 1973, also genau vor 50 Jahren, putschte der General Augusto Pinochet in Chile und errichtete den ersten neoliberalen Modellstaat. Dafür holte er eine Gruppe liberaler Ökonomen nach Santiago, die sogenannten „Chicago Boys“, die vom späteren Nobelpreisträger Milton Friedman ausgebildet wurden. Auf ihren Rat kürzte Pinochet Sozialleistungen, deregulierte Preise und privatisierte Unternehmen.
Das Laboratorium Chile zeigt, dass der Neoliberalismus autoritäre Wurzeln hat, also gar nicht so freiheitlich ist, wie er klingt: Am Putsch des rechten Generals waren nicht nur CIA-Agenten beteiligt, sondern auch alte Nazis aus Deutschland. Pinochets Militärdiktatur herrschte bis 1990, folterte und tötete tausende Oppositionelle in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Aber dem Wirtschaftswachstum schadete das nicht. Die Arbeitslosigkeit schnellte zwar in die Höhe, doch Chile boomte, wurde zum reichsten Land Lateinamerikas und zum Vorbild für Strukturreformen, die Weltbank und Weltwährungsfonds in vielen Entwicklungsländern durchsetzten. Auch Industriestaaten bauten ihre Wirtschaft nach chilenischem Modell um. Thatcher und Reagan machten den Anfang, es folgten Mitte-Links-Regierungen unter Clinton, Blair und Schröder. Postsozialistische Staaten in Osteuropa schlossen sich an, und auch an der Europäischen Union und China ging die neue Wirtschaftsphilosophie nicht spurlos vorüber. Überall wollte der Staat schlank und dezent auftreten, um das freie Spiel der Marktkräfte nicht zu behindern. Der Neoliberalismus war vermutlich die einflussreichste politische Idee des späten 20. Jahrhunderts.
Cyber-Sozialismus
Dem Experiment mit Strahlkraft war jedoch ein anderes vorausgegangen, das durch Pinochet vorerst begraben wurde, aber gerade heute wieder interessant sein könnte. Unter der Führung Salvador Allendes, des ersten demokratisch gewählten marxistischen Staatsoberhauptes, hatte Chile ab 1970 soziale Reformen durchgesetzt, die großen Kupferminen verstaatlicht und mit dem Aufbau eines kybernetischen Sozialismus begonnen. Unter dem Projektnamen „Cybersyn“ wollten Wirtschaftsminister Fernando Flores und der britische Kybernetiker Stafford Beer die Bedarfslage computergestützt in Echtzeit ermitteln, den Marktmechanismus also durch einen sich selbst erstellenden Plan ablösen. Unternehmen und Logistik wurden durch ein System von Fernschreibern verbunden. Arbeiter hatten ein Mitspracherecht. Über ihre Fernseher sollten auch die Bürger einbezogen werden. Die Informationen liefen in einem Kontrollzentrum in Santiago zusammen. Es bestand aus Bildschirmen, über die unablässig Wirtschaftsdaten flimmerten, und sieben Drehsesseln, von denen man annahm, dass sie die Kreativität förderten.
Was für ein Unterschied zum Sowjetkommunismus, der Gehorsam verlangte und, wie nicht wenige meinen, daran zugrunde ging, dass er die digitale Revolution verschlief. In Allendes Chile hingegen, das einen dritten Weg zwischen US-Kapitalismus und Sowjetbürokratie suchte, wurde sie vorweggenommen – und entwickelte schnell ein Eigenleben. Der Cyber-Sozialismus brachte nichtintendierte Ergebnisse hervor.
Als nämlich im Herbst 1972 zehntausende Fuhrunternehmer die Straßen Santiagos blockierten, konnte die Regierung die Versorgung der Stadt durch loyale Transportunternehmen gewährleisten, denen sie Fernschreiber zur Verfügung stellte. Doch sie griffen dabei nicht auf das Cybersyn-Programm zurück, sondern nutzten die Fernschreiber, um sich untereinander zu koordinieren. Ungeplant entstand hier ein frühes „sozialistisches Internet“, wie Flores später sagte.
Cybersyn blieb jedoch ein unabgeschlossenes Projekt, das vom Militärputsch beendet wurde. Das Kontrollzentrum wurde abgebaut und gilt als verschollen, die Protagonisten flohen, viele wurden Digital-Pioniere in Kalifornien. Gui Bonsiepe etwa, der das Kontrollzentrum entworfen hatte, gestaltete für eine US-Softwarefirma Interfacedesigns. Fernando Flores zog nach Palo Alto, arbeitet mit John Searle und dem KI-Philosophen Hubert Dreyfus zusammen und hatte Erfolg als Informatiker und Unternehmer. Die Cybersyn-Software wurde vom US-Unternehmen Novell übernommen und kommerziell vertrieben. So wurde das sozialistische Projekt nicht nur durch Pinochet gestoppt, sondern vom Kapitalismus vereinnahmt, der Widerstand also durch Integration unschädlich gemacht. Der Neoliberalismus, so schien es, hatte auf ganzer Linie gesiegt.
Allendes Wiederauferstehung als KI?
Aber vielleicht ist dieses Urteil voreilig. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hat der Neoliberalismus seinen Glanz verloren. Sozialdemokraten und sogar einige Konservative sind von ihm abgerückt, da seine Schwächen unübersehbar sind: Wachsende Ungleichheit, erhöhter Arbeitsdruck und Unsicherheit haben zu Protestbewegungen geführt, die für neue Regulierungen eintreten. Auch die ökologische Krise verträgt sich mit dem Vertrauen auf Marktmechanismen nur schlecht. Und im Handelskrieg zwischen den USA und China, oder den BRICS und dem Westen, vertraut kaum ein Land auf die Versprechen des Freihandels, die geopolitisch naiv wirken. Der Neoliberalismus steckt in einer tiefen Krise.
Doch was kommt nach ihm? Hier ist plötzlich wieder Raum für sozialistische Gedanken. Einige berufen sich ausdrücklich auf das Allende-Flores-Beer-Projekt. Wie in der Traumatherapie reisen sie zurück an den Ursprung der Staatskybernetik, um korrigierend auf die Vergangenheit einzuwirken, indem sie einen anderen Abzweig nehmen. Denn inzwischen hat sich die Technologie derart weiterentwickelt, dass die Ersetzung des Marktes durch den Cyber-Plan eher möglich scheint als 1970 in Chile. Internet, künstliche Intelligenz und Robotik, entstanden aus dem Geist des kapitalistischen Gegners, scheinen plötzlich im Dienste des Sozialismus zu stehen, wie etwa Slavoj Žižek mit Blick auf die kommende Revolution schreibt: Die elektronische Verschaltung aller Menschen ermöglicht die Herausbildung eines Gemeininteresses und erlaubt eine Produktionsweise ohne Markt.
Die besseren Technokraten
Großunternehmen verfahren längst planwirtschaftlich. Amazon ermitteln seinen Bedarf mithilfe von KI. Man müsste also – eine erzliberale Idee – nur die Betriebswirtschaft auf die Volkswirtschaft übertragen, und schon hätte man den Sozialismus. Dies ähnelt einem Gedanken des Ökonomen Joseph Schumpeter, der einen bruchlosen Übergang zum Sozialismus vorhersagte – schlicht durch Ausweitung der unternehmerischen Planungstätigkeit. So könnte die Geschichte der Jahres 1973 doch noch einmal umgeschrieben werden: Der Sozialismus, der zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig ramponiert wirkte, bekam von Allende ein neues Leben geschenkt, das Pinochet abgewürgt hat, jedoch bald wiederauferstehen könnte.
Diesen Eindruck bekommt man jedenfalls bei Evgeny Morozovs Podcast über die „Santiago Boys“, der seit diesem Sommer online verfügbar ist. In neun grandios erzählten Episoden stellt der belarussische Tech-Theoretiker die Hauptfiguren des Cybersyn-Experiments vor, ihre Ideen und was wir daraus lernen können: Allem voran die Möglichkeit eines anderen, nichtkommerziellen Internets und die Einrichtung der Gesellschaft nach den Regeln der algorithmischen Vernunft. Vielleicht waren die Utopisten aus Santiago also einfach nur die besseren Technokraten, die dem heraufziehenden Zeitalter der „Anpassung“ (Philipp Staab) eher entsprechen als die neoliberalen Schwärmer, deren Zeit nun vorbei ist. •