Andreas Reckwitz: „In der kommenden Regierung wird die neue Mittelklasse stark vertreten sein“
FDP und Grünen kommt bei der nächsten Regierungsbildung eine zentrale Rolle zu. Der Soziologe Andreas Reckwitz erläutert im Interview, warum zwischen beiden durchaus Gemeinsamkeiten bestehen und es für die Zukunft einen „einbettenden Liberalismus“ braucht.
Herr Reckwitz, die Bundestagswahl hat gezeigt: CDU und SPD sind keine großen Volksparteien mehr. Wie deuten Sie diesen Wandel?
Das ist in der Tat eines der wichtigsten Ergebnisse der Wahl: Nach der Erosion der SPD ist nun auch die Wählerbasis der Union erodiert. Beide zusammen kamen früher einmal auf mehr als 90 Prozent der Stimmen, heute sind es nur noch 50 Prozent. Auch in Deutschland zeigt sich also eine Tendenz zur „Niederlandisierung“ des Parteiensystems: Die ehemaligen Volksparteien der Konservativen und Sozialdemokraten sind bestenfalls mittelgroß, eine größere Zahl weiterer Parteien etabliert sich, Regierungsbildungen werden schwieriger und sind dabei eher Umgruppierungen aus der Mitte heraus, der klassische Rechts-Links-Gegensatz verblasst. Der Hintergrund ist eine sich verändernde Sozialstruktur seit den 1980er Jahren, von der organisierten Moderne zur Spätmoderne. In der organisierten Moderne unter der „Herrschaft des Allgemeinen“ konnten Volksparteien dominieren, die durchaus recht verschiedene Lebenswelten vereinigten. In der Spätmoderne verlangen die sich ausdifferenzierenden Milieus und kulturellen Klassen, die sich jeweils „singularisieren“, passend zugeschnittene Identifikationsangebote der Parteien. Davon profitieren Parteien mit eindeutigen Profilen wie die Grünen, die FDP oder die AfD.
FDP und Grüne wollen nun den Takt vorgeben und zunächst auf die SPD zugehen. Das ist, als Verfahren, neu. Sehen Sie in dieser Veränderung ein Zeichen, gar eine Chance?
Das bedeutet eine überraschende, aber eigentlich konsequente Blickverschiebung. Wenn die Unterschiede zwischen „groß“ und „klein“ verblassen, suchen sich die etwas kleineren die etwas größeren Partner. Das bedeutet eine Depotenzierung der einstigen Volksparteien, die nun umgekehrt den kleineren Partnern entgegenkommen müssen. Darin zeigt sich auch eine größere Egalität im pluralisierten Parteiensystem, die man durchaus begrüßen kann. Dass nun gerade FDP und Grüne erst einmal miteinander sprechen, ist aber auch aus sozialstruktureller Warte interessant: Im Zuge der spätmodernen Bildungsexpansion und Akademisierung gewinnt eine neue Mittelklasse an sozialem, kulturellem und politischem Gewicht, also vor allem Hochqualifizierte aus den Metropolregionen. Grüne und FDP sind letztlich die Repräsentanten der beiden Flügel dieser neuen Mittelklasse, sozialhistorisch gesprochen die Erben von Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum. Gegenseitig beäugt man sich durchaus kritisch – vor allem hinsichtlich der „feinen Unterschiede“ der Lebensstile und Werte –, aber letztlich teilt man einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten, etwa die starke Bildungs- und Leistungsorientierung, die positive Haltung gegenüber der Globalisierung, gegenüber Europa und dem Westen oder die Bedeutung von Bürgerrechten, ebenso ist die Ausweitung der Digitalisierung ist ein wichtiges Thema. Ob nun Ampel- oder Jamaika-Koalition: Das wird eine Regierung, in der die neue Mittelklasse stark vertreten ist.
Der zentrale Dissens zwischen FDP und Grünen liegt in der Bewertung von Verboten. Während die Grünen sie als Innovationsmotor befürworten, lehnt die FDP sie ab. Sie haben viel über den Kreativitätsimperativ moderner Leistungsgesellschaften nachgedacht. Was meinen Sie: Liegt im Verbot ein Kreativitätspotenzial?
Statt von Verboten würde ich eher von Regeln sprechen. Aber es stimmt, gerade wenn es um die Klimapolitik geht, setzen die Grünen eher auf staatliche, die FDP auf marktwirtschaftliche Mechanismen. Seit dem Beginn der Moderne ist dieser Gegensatz ein politischer „Dauerbrenner“. Denn es stand stets zu Frage, inwiefern Märkte selbst die effizientesten Motoren von Verteilung und gesellschaftlichem Wandel sind und inwiefern sie staatlicher Vorgaben bedürfen. Nach 1945 war zunächst die Regulierungsfraktion stark, nach 1980 dann die Dynamisierungs- und Vermarktlichungsfraktion. Nun werden die Regulierungen wieder wichtiger, man denke nur an die globale Unternehmensbesteuerung, Mindestlohn, Klimapolitik, aktive Wohnungspolitik. Realistisch besehen geht es politisch immer um eine Balance zwischen beiden. Wie eben diese Balance zwischen Grünen und FDP verhandelt werden wird, ist sicherlich interessant zu sehen.
Regeln verhindern also per se weder Innovation noch ermöglichen sie diese zwangsweise?
Komplett durchgeregelte Sozialräume sind sicherlich innovationshemmend, das Neue steht hier unter Verdacht und wird sofort ausgebremst. Dabei können Sie auch an die katholische Kirche im Mittelalter denken: In dieser wurde gerade nicht das Neue gefördert, sondern die Reproduktion des Alten. Für die modernen Gesellschaften ist indes typisch, dass sie soziale Regime des Neuen etablieren, also gesellschaftliche Räume, in denen die Novität, die kreative Schöpfung, die Reform, die Differenz üblicherweise positiv bewertet werden. Das gilt gerade für die kapitalistische Ökonomie, für die Wissenschaft und für die Kunst, in mancher Hinsicht auch für die Politik. Diese sind zugleich aber nie völlig regellose Räume. Auch hier können Regeln und Machstrukturen zwar Innovation verhindern – zum Beispiel monopolisierte Märkte oder bürokratisierte Wissenschaft –, gleichwohl können Regeln Freiräume für Innovation aber auch erst schaffen. Ganz ohne Ermöglichungsregeln kommt Dauerinnovation jedenfalls nicht aus. Hinzu kommt: Natürlich können Regeln auch Standards bedeuten, die man kreativ überschreiten und sich kritisch an ihnen abarbeiten kann. Soziale Bewegungen und künstlerische Revolutionen sind ohne diese kritische Absetzung von den Regeln des Bestehenden gar nicht denkbar.
Zurzeit beschäftigen Sie sich intensiv mit Verlusten. Wie denken Sie darüber nach, dass wesentliche Errungenschaften der Moderne – Beschleunigung, Mobilität, Reichweitenmaximierung usw. – in Zeiten des Klimawandels plötzlich zur Bedrohung werden?
Das ist eine sehr grundsätzliche Frage. Verlusterfahrungen begleiten die Moderne von Anfang an. Aber sie entsprechen nicht dem Masternarrativ des Projekts der Moderne. Das geht zunächst nämlich vom Fortschritt aus: Das Kommende ist das Bessere, das Vergangene überholt. Dieses Muster ist tief in den modernen Institutionen und Lebensformen verankert. Verlusterfahrungen erscheinen dann nicht immer legitim oder werden an spezialisierte Bereiche „delegiert“, beispielsweise an die Psychotherapie, die Kunst oder die intellektuelle Kulturkritik, auch an die Reste der Religion. In der Spätmoderne wird das Fortschrittsnarrativ dann jedoch vollends brüchig, wofür nicht nur der Klimawandel, sondern auch die Erfahrungen der Modernisierungsverlierer oder die Artikulation der Opfer der Gewaltgeschichte der Moderne Gründe sind. Es gibt in der Spätmoderne eine Verlusteskalation und Verlustsensibilisierung, ebenso eine zukunftsbezogene Verlustangst. Die Zukunft erscheint nicht mehr als Raum zweifelsfreier Verbesserung, sondern als einer kommender Verluste, ja gar Katastrophen. Das Selbstverständnis der Moderne wird damit deutlich erschüttert – mit offenen Konsequenzen.
Im Philosophie Magazin haben Sie einmal zum Thema Resilienz gesagt, dass wir eine „Doppelstruktur” brauchen. Ein „Standbein” für die Stabilität. Und ein „Spielbein” für die Eroberung von Möglichkeitsräumen. Standbein, Spielbein: Wäre das auch ein treffendes Bild für eine mögliche Ampelkoalition?
Gleich welche Koalition am Ende Realität wird: Das, was ich in Das Ende der Illusionen „einbettenden Liberalismus“ genannt habe, scheint mir die generelle Herausforderung kommender Politik zu sein. Einerseits muss man einsehen, dass die grenzenlose Dynamisierungspolitik des Wettbewerbsstaates negative Konsequenzen hat, die nun neue Regeln verlangen. Die prekäre Beschäftigung, der Klimawandel, die Vernachlässigung der Infrastruktur in puncto Verkehr, Wohnen und Bildung, das alles wären Anforderungen für eine neue Einbettung. Andererseits muss man aber auch einsehen, dass die Innovativität und Pluralität dieser Spätmoderne keinesfalls abgewürgt werden sollte, sondern man sie in mancher Hinsicht weiter fördern oder erst recht florieren lassen muss. Ob nun beim Thema Digitalisierung, globaler Handelsfreiheit oder Diversität der post-migrantischen Gesellschaft, das alles erfordert wiederum Liberalität. Beides zusammenzudenken und daraus ein Projekt zu machen – darauf sollte es meiner Ansicht nach ankommen. •
Andreas Reckwitz lehrt als Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2017 veröffentlichte er das viel beachtete Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (Suhrkamp). 2019 erschien „Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ (Suhrkamp).
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