Annie Ernaux: „Die Abhängigkeit des Begehrens ist mit dem Akt des Schreibens unvereinbar“
Im literarischen Schaffen von Annie Ernaux geht es immer wieder um ihren Hang, sich sexuell zu unterwerfen. Wie ist diese Dynamik zu begreifen, aus der sie nur ihre Arbeit zu befreien vermag? Ein Gespräch mit der französischen Literaturnobelpreisträgerin über weibliche Lust im Kraftfeld männlicher Macht.
Vor fast 50 Jahren hat sich Annie Ernaux in der neu erbauten Planstadt Cergy niedergelassen. Diese Stadt beherbergt entwurzelte Menschen, die von anderswo kommen, manchmal aus anderen Regionen Frankreichs, manchmal von sehr weit her. Als Nobelpreisträgerin für Literatur hätte die Schriftstellerin die finanziellen Möglichkeiten, auch da zu wohnen, wo es hippe Cafés und Boulevards gibt, doch im Gespräch wird sie mir verraten, dass sie keinen Umzug plant. Und lässt sich hier nicht viel besser in Worte fassen, worum es ihr in ihrem autobiografischen Schreiben geht? Annie Ernaux ergründet die Gewalt der Wirklichkeit. Selbst aus dem Arbeitermilieu stammend, interessiert sie sich für die weibliche Existenz im Lichte ihrer Herkunft, die sie auf eine bestimmte Weise in die Welt stellt und sie bis in ihr Begehren hinein prägt. Klar und präzise erzählt die Autorin in ihren Büchern, wie sie sich selbst in sexuelle Abhängigkeit begibt und sich der männlichen Lust unterwirft. Annie Ernaux empfängt mich in ihrem Wohnzimmer mit Blick auf einige Bäume und das Oise-Tal. Sie hat eine unaufgeregte, fröhliche Art zu sprechen. Gleichzeitig ist sie kompromisslos, wenn es darum geht, dem Urteil anderer die eigene Sicht entgegenzusetzen.
Philosophie Magazin: Frau Ernaux, in Ihren Büchern entwickeln Sie eine Art antifreudianische Theorie des Begehrens. Wo bei Freud der Trieb zum Treibstoff wird, zeigen Sie, wie das Begehren manchmal die Existenz erstarren lässt und stattdessen zur Passivität führt.
Annie Ernaux: In meinem Tagebuch habe ich oft systematisch die Tatsache beschrieben, dass das Begehren mit dem Schreiben konkurriert.
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