Antizionismus als Ersatzreligion
Zwei Jahre nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist Antizionismus so salonfähig wie lange nicht, und die vielleicht wirkmächtigste Integrationsideologie der Gegenwart.
Dieser Text erscheint am zweiten Jahrestag des größten Massenmords an Juden seit der Shoa. Am 7. Oktober 2023 tötete ein islamistisches Terrorkommando aus Gaza auf bestialische Art und Weise etwa 1.200 Menschen in Israel. Die genauen Zahlen sind noch immer nicht verifiziert, da unklar ist, wie viele der rund 250 nach Gaza verschleppten Geiseln zum Zeitpunkt der Entführung bereits tot waren. Gegenwärtig befinden sich noch 48 Geiseln in der Gewalt der Hamas, 20 sollen nach Angaben der israelischen Armee noch am Leben sein. Außer in Israel selbst scheinen dieser traumatische Tag und seine Folgen für den jüdischen Staat zwei Jahre später weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt zu sein. Zwar schieben deutsche Qualitätsmedien wie die Tagesschau, die Zeit oder der Spiegel noch immer pflichtschuldig einen Zweizeiler über den 7. Oktober hinterher, wenn sie über den Israel vorgeworfenen „Genozid“ in Gaza berichten. Überwiegend medial durchgesetzt hat sich aber – und dies erst recht außerhalb Deutschlands – die Propaganda der Dschihadisten, wonach Israel der rücksichtlos kindermörderische Aggressor sei, der in genozidaler Absicht wahllos Zivilisten angreife – eine im Grunde leicht durchschaubare Projektion der islamistischen Mordlust auf deren prospektive Opfer.
Von der eindeutig völkerrechtswidrigen, die eigene Bevölkerung als Märtyrermasse missbrauchenden Guerillataktik der Hamas ist sowohl in den täglich erscheinenden journalistischen Gesinnungsaufsätzen als auch bei der UN-Generalversammlung kaum noch die Rede. Man scheint diese barbarische Geringschätzung individuellen Lebens als palästinensische Eigenart akzeptiert zu haben, wenn sie nicht klammheimlich oder ganz offen als Heroismus der romantisierten palästinensischen Volksgemeinschaft bewundert wird.
Die Schlagzeile eines Spiegel-Leitartikels aus Anlass der Bombardierung ranghoher Hamas-Funktionäre in Katar brachte Anfang September die irre Sichtweise weiter Teile der westlichen Öffentlichkeit auf den Gazakrieg ebenso konzentriert wie subtil zum Ausdruck. Israel sei „der Störenfried der Region“. Ohne den ewig störenden jüdischen Staat, so liest es sich zwischen den Zeilen, nicht etwa ohne die Hamas oder andere das Leben und individuelles Glück verachtende islamistische Terrorbanden, wäre der Nahe Osten ein wahres Eden der Harmonie und des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Ob die Autorin dies wirklich so gemeint haben will oder nicht – gerade das unbedachte Wort und das misslungene Bild können tiefe Einblicke in die kollektiv uneingestandenen Wünsche des ‚israelkritischen‘ Milieus eröffnen. (Anders als das Adjektiv „israelkritisch“ hat es die Chinakritik, Irankritik oder Sudankritik nicht bis in den Duden der deutschen Rechtschreibung gebracht.)
Die israelfeindliche internationale Arbeitsteilung funktioniert gerade deshalb so beklemmend gut, weil die stets wohlmeinenden, um das Völkerrecht besorgten ‚Israelkritiker‘ eine adäquate, nämlich raunend-gehemmte Sprache für ihr in postnationalsozialistischen Zeiten in Sachen explizitem Judenhass häufig ebenfalls noch gehemmtes Publikum finden. Der in Wort und Schrift mühsam kaschierte Israelhass der feinen Gesellschaft geht auf diese Weise Hand in Hand mit den islamistischen Mordtaten, ohne dass die Hände der engagierten Friedensmahner und Menschenrechtler dabei schmutzig werden müssten.
Ungehemmter Antizionismus
Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt reagierte bereits 1976 mit seinem Essay über Israel auf den immer ungehemmteren Antizionismus der damaligen Zeit. Unter dem Eindruck des Sechstagekriegs von 1967, mit dem Israel durch einen Präventivschlag den aufmarschierenden arabischen Armeen zuvorkam, sowie des Jom-Kippur-Kriegs von 1973, bei dem die arabischen Armeen am höchsten jüdischen Feiertag einen Überraschungsangriff auf Israel starteten, beschrieb Dürrenmatt die Gemütslage der westlichen Beobachter wie folgt: „Kein Mensch ist heute mehr Antisemit, man versteht nur die Araber. Der Siegesrausch der Araber vor dem Sechstagekrieg ist vergessen, vergessen die Sperrung des Golfs von Akaba durch Nasser, vergessen die Prahlereien Arafats, vergessen, daß jedermann den Angriff der Araber vermutete, vergessen der gewaltige Aufmarsch der ägyptischen, jordanischen und syrischen Truppen (…). Vergessen das alles, die Juden hätten die Araber nur nicht ernst nehmen sollen, es war alles gar nicht so gemeint gewesen. Seitdem sind die Juden die Aggressoren. (…) Den Juden gegenüber hat sich die Welt nicht verändert, verändert haben sich nur die Begründungen, die man gegen sie ins Feld führt. Lagen sie einst im Glauben, später in der Rasse, liegen sie nun im Imperialismus, den man zwölf Millionen Juden andichtet.“ Man merkt: Die Welt hat sich auch 50 weitere Jahre später für Juden nicht verändert.
Mit dem letzten zitierten Satz deutet Dürrenmatt die Kontinuität vom mittelalterlichen Antijudaismus der Christen und Muslime über den Rasseantisemitismus ab dem 19. Jahrhundert und im Nationalsozialismus bis hin zum völkerrechtsbewegten Antizionismus nach 1945 an. Dürrenmatt gab seinem Essay den Titel Zusammenhänge. Damit pointierte er zielgenau, woran es bis heute im empörungsgeschwängerten Bewusstsein gebricht, sobald von Israel und dem sogenannten Nahostkonflikt die Rede ist: die Kontinuität des jahrtausendealten Ressentiments zu erkennen und ernst zu nehmen. Die zivilisatorisch erworbene Fähigkeit zum differenzierten Denken und Urteilen geht regelmäßig dann verloren, wenn über das tatsächliche und weit überwiegend das imaginierte und projektiv zugeschriebene Handeln von Juden debattiert wird. Um herauszufinden, warum das so ist, müssten die uneingestandenen Wünsche und pervertierten Bedürfnisse im Antisemitismus aufgeklärt werden. Als wirkmächtiger erweist sich indes die alte Suggestion, dass ja wohl etwas dran sein müsse am Ressentiment, wenn es sich seit Jahrhunderten tradiere. So verschafft sich der Antisemitismus stets aufs Neue seine eigene Legitimationsgrundlage.
Antisemitismus als Ritual der Zivilisation
Anstatt kollektives Fehlverhalten an den Opfern dingfest machen zu wollen, wodurch die Aggressionen gegen Juden im Modus der Täter-Opfer-Umkehr lediglich rationalisiert werden, haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer um Zusammenhänge bemühten Kritik den Antisemitismus als „Ritual der Zivilisation“ (Dialektik der Aufklärung) zu dechiffrieren versucht. Ein Ritual ist eine der Form nach bis ins magische Zeitalter der Menschheit zurückreichende, sich wiederholende religiös-symbolische Handlung, die der Integration und damit der Beherrschbarkeit des Naturschreckens dient. Im säkularisierten Zeitalter der Moderne ist der Antisemitismus mehr und mehr zu einer „Ersatzreligion“ (Detlev Claussen) geworden, mit der die gesellschaftlichen Schrecken der nunmehr beinahe vollends zivilisierten Welt kollektiv ausagiert werden. ‚Der Jude‘ wird für alles Leid verantwortlich gemacht, das die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in der Moderne erzeugt: Ausbeutung, soziales Elend, Revolutionen, Weltkriege. Auf diese Weise besteht ein „innigste[r] Zusammenhang“ (Adorno/Horkheimer) zwischen dem Antisemitismus und der gesellschaftlichen Totalität, die nicht als anonyme, unpersönliche Herrschaft polit-ökonomischer Gesetzmäßigkeiten begrifflich aufgeklärt, sondern als verschwörerische Machenschaft böser Strippenzieher der Erfahrung pseudokonkret zugänglich gemacht wird.
Die im religiösen Ritual aufgespeicherte Hoffnung auf Erlösung verband sich schon im christlichen Passionsspiel mit dem antijüdischen Ressentiment des Gottesmörders. Die mittelalterlichen Pogrome sind nach Adorno und Horkheimer die wahren Ritualmorde, die anschließend den Juden vorgeworfen werden. Dieser projektive Mechanismus, den Opfern die eigenen Vernichtungsabsichten oder -taten zu unterstellen, erleichtert die Integration der eigenen (sei es auch nur vorgestellten) Grausamkeit in das Selbst, das mit seinem schlechten Gewissen konfrontiert ist. Der zur geschlossenen Weltanschauung tendierende moderne Antisemitismus, der alle globalen Übel durch die Universalformel ‚Der Jude ist schuld‘ zu erklären beansprucht (oder in der zeitgenössischen Form eben häufig in der Spielart „Israel ist schuld“), imaginiert sich sodann als „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus), der Antisemit ist „Verbrecher aus guter Absicht“ (Jean-Paul Sartre).
Der jüdische Historiker Saul Friedländer spricht in diesem Zusammenhang vom „Erlösungsantisemitismus“ des Nationalsozialismus. Nicht nur soll die Welt vorgeblich von Herrschaft, Gewalt und Leid erlöst werden, auch soll der Einzelne seiner individuellen Verantwortung innerhalb dieses gesellschaftlich erzeugten Elends ledig werden. Der Schuldige ist ausgemacht und darf nun ungestraft ausgegrenzt, gedemütigt, gequält und vernichtet werden. In einer globalisierten kapitalistischen Ökonomie mit ihren alltäglichen Verheerungen und periodischen Krisen, denen die Menschen ohnmächtig und begriffslos gegenüberstehen, verspricht der Antisemitismus kollektive Handlungsmacht durch Suspendierung individueller Verantwortung: „Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden.“ (Adorno/Horkheimer)
Rausch der Vergemeinschaftung durch Regression
Das Berauschende an dieser Vergemeinschaftung durch Regression darf nicht unterschätzt werden. Es ist ein verborgenes Motiv auch der gegenwärtigen unzähligen ‚Solidaritätsdemos‘ für Palästina, aus denen heraus in den vergangenen 24 Monaten weltweit immer wieder der islamistische Terror massenhaft als heroischer Widerstandsakt glorifiziert („From the river to the sea“, „Yalla Intifada“, „Decolonization is not a metaphor“) und spezifisch in Deutschland ein Schlussstrich unter das Holocaust-Gedenken („Free Gaza from German guilt“) gefordert wurde. Der gegenwärtige Antizionismus ist die modernisierte Variante der antisemitischen Integrationsideologie, durch die versprengte gesellschaftliche Atome zur Masse zusammenschmelzen. Sie sind durch wenig mehr als ihr geteiltes Feindbild geeint. Politisch unvereinbare Gegensätze werden plötzlich vereinbar. Homophobe islamistische Anhänger der Scharia können gemeinsam mit Queers for Palestine marschieren. Autoritäre stalinistische Sekten und linke Bundestagsabgeordnete mit Regenbogenfahne können sich gemeinsam als Teil einer Graswurzelbewegung imaginieren.
„Palestine will set us free“, lautet die erlösungsantizionistische Formel einer zukunftsverlorenen akademischen Jugend, die nunmehr glaubt, den globalen Klimawandel nur noch stoppen zu können, wenn Gaza befreit wird („No climate justice on occupied land“, Greta Thunberg). Antisemitismus ist eben immer auch pseudorevolutionäre Ersatzhandlung, Simulation von Selbstermächtigung. Derweil scheint das spanische Volk dank Israels Krieg in Gaza nach einem langen Jahrhundert der quälenden inneren Kämpfe (Franco-Diktatur, Separatismus) zu einer endlich geeinten Nation werden zu können. Auch das macht der Antizionismus möglich, wenn Israel zum „Juden unter den Staaten“ (Léon Poliakov) geworden ist.
Ein Eingriffspunkt für die Ansprechbaren innerhalb dieser kollektiven Massenpsychose könnte darin bestehen, die Entstehungsgeschichte des Antizionismus, der so alt ist wie der Zionismus selbst, in seinen groben Zügen noch einmal nachzuzeichnen. Gerade unter frisch anpolitisierten jungen Menschen aus der ‚Palästinasolidarität‘ besteht der Irrglaube, dass der Antizionismus eine Reaktion auf wahlweise die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland nach 1967 oder die angeblich ‚siedlerkolonialistische‘ Landnahme im Zuge der Staatsgründung von 1948 sei. Der Nahostkonflikt wird also durch die Schablone der dekolonialen Theorie gedeutet, so als wäre der Zionismus eine rassistische Ideologie wie diejenige des südafrikanischen Apartheidregimes. Nicht nur ist daran abenteuerlich, jüdische Israelis als ‚weiße Kolonisatoren‘ zu imaginieren, wodurch die mizrachischen Juden, die aus dem arabischen Raum nach Israel einwanderten, kurzerhand zum Verschwinden gebracht werden, auch verkennt es die historische Spezifik des Zionismus als der Nationalbewegung der Juden vollkommen. Neben den religiös-kulturellen Aspekten, die die Verbindung des Judentums zum historischen Gebiet von ‚Eretz Israel‘ und seiner 3000-jährigen durchgängigen jüdischen Präsenz begründen, ist es die jahrhundertelange antisemitische Verfolgung in der Diaspora, die den Wunsch der Juden nach einem souveränen Nationalstaat zum Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt – und eben kein koloniales Eroberungsstreben.
Fundament des politischen Zionismus
Das 19. Jahrhundert schien den jüdischen Minderheiten in Europa zunächst endlich die ersehnte bürgerliche Emanzipation zu verschaffen. Die rechtliche Gleichstellung der Juden in den sich herausbildenden Nationalstaaten ging jedoch mit dem sich formierenden modernen Antisemitismus einher, der im ‚Juden‘ wahnhaft den Verursacher von Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen erblickte. Unter dem Eindruck der antisemitischen Dreyfuß-Affäre in Frankreich verfasste der jüdische Wiener Journalist Theodor Herzl (1860-1904) schließlich seine Schrift Der Judenstaat (1896), mit der er das Fundament für den politischen Zionismus legte. Herzl schreibt: „Nur der Druck presst uns wieder an den alten Stamm, nur der Haß unserer Umgebung macht uns wieder zu Fremden. So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu (…) In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft.“
Bereits ein Jahr später fand der erste Zionistenkongress in Basel statt, um eine nunmehr organisierte Einwanderung nach Palästina zu planen, die unkoordiniert bereits seit den 1880er Jahren in Reaktion auf die Pogrome im russischen Zarenreich stattfand. Auf diplomatischem Wege sollten die von nun an jährlich stattfindenden Zionistenkongresse um Zustimmung für die Ansiedlungspläne beim Osmanischen Reich und den europäischen Mächten werben. Eine besonders folgenreiche antisemitische Reaktion auf diese Zusammenkünfte war die um 1903 im zaristischen Russland entstandene Fälschung namens „Protokolle der Weisen von Zion“, die sinistre jüdische Weltverschwörungspläne zu enthüllen vorgab. Diese frei erfundenen „Protokolle“ sollten nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch den islamischen Antisemitismus bis heute zutiefst beeinflussen. Die Hamas bezieht sich in ihrer nach wie vor geltenden Gründungscharta von 1988 in Artikel 32 ganz explizit auf dieses antisemitische Pamphlet.
Um 1900 lebten rund 450.000 teils sesshafte, teils nomadische Araber und ca. 50.000 Juden im späteren Mandatsgebiet Palästina. Die Gründung neuer jüdischer Siedlungen, ermöglicht durch Landkauf von arabischen Großgrundbesitzern, verlief nicht konfliktfrei, doch aufgrund weitflächig unbebauten Gebiets noch ohne größere Zusammenstöße. Mit dem Untergang des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Verwaltung des sogenannten Völkerbundmandats für Palästina. Aus machtstrategischen Erwägungen setzte die britische Mandatsverwaltung den aus einer einflussreichen Familie stammenden Mohammed Amin al-Husseini (1896-1974) als Großmufti von Jerusalem ein. Al-Husseini, der seit seiner Jugend ein glühender Antisemit war, wurde damit zum geistlichen Führer der arabischen Mandatsbevölkerung und zum Begründer des palästinensischen Nationalismus.
Von Beginn an machte al-Husseini deutlich, dass er keinerlei jüdische Einwanderung ins Mandatsgebiet dulde und der Zionismus vernichtet werden müsse. Nicht alle arabisch-palästinensischen Politiker dachten seinerzeit so. Hassan Shukri, Bürgermeister von Haifa, sendete 1921 folgendes Telegramm an die britische Regierung: „Wir betrachten das jüdische Volk nicht als Feind, der uns vernichten will. Im Gegenteil. Wir betrachten die Juden als ein brüderliches Volk, das unsere Freuden und Sorgen teilt und uns beim Aufbau unseres gemeinsamen Landes hilft. Wir sind überzeugt, dass es ohne jüdische Einwanderung und finanzielle Unterstützung keine zukünftige Entwicklung unseres Landes geben wird.“ Doch diese um Ausgleich und wechselseitige Kooperation bemühte Position fand keine Mehrheit innerhalb des palästinensischen Nationalismus. Stattdessen erschütterten 1920, 1921 und 1929 größere antisemitische Pogrome die vor europäischer Verfolgung fliehenden Einwanderer.
Auch der sich formierende Nationalsozialismus in Deutschland war von Beginn an antizionistisch gesinnt. So verkündete Adolf Hitler in seiner frühen Hofbräu-Rede vom 13. August 1920: „Der ganze Zionistenstaat soll nichts werden, als die letzte vollendete Hochschule ihrer internationalen Lumpereien und von dort aus soll alles dirigiert werden.“ Und auch der spätere NS-Chefideologe Alfred Rosenberg schrieb bereits 1922 ein Pamphlet namens Der staatsfeindliche Zionismus. Darin heißt es: „Zionismus ist, bestenfalls, der ohnmächtige Versuch eines unfähigen Volkes zu produktiver Leistung, meistens ein Mittel für ehrgeizige Spekulanten, sich ein neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung zu schaffen.“ Doch wieso begrüßten die Nazis nicht eine jüdische Auswanderung nach Palästina, wenn sie doch vordergründig das ‚Judenproblem‘ in Deutschland hätte ‚lösen‘ können? Wladimir Zeev Jabotinsky, Vertreter des illusionslosen revisionistischen Flügels innerhalb der zionistischen Bewegung, bemerkte dazu lakonisch in seinem Buch Die jüdische Kriegsfront (1940): „Der Sadismus möchte sein Opfer nicht verlieren.“ Ohne dass Jabotinsky den modernen Antisemitismus als eine wahnhafte und personalisierende Reaktionsweise auf die anonyme Herrschaft des Kapitalverhältnisses durchschaut, kommt er doch zu der hellsichtigen Beobachtung, dass der Antisemit die Juden erfinden müsste, wenn es sie nicht bereits gäbe. Eine Beobachtung, die wenig später auch Jean-Paul Sartre machte. Da die realen Juden für den Antisemitismus nur eine Projektionsfläche darstellen, sind sie zugleich Adressat neidvoll-eifersüchtiger wie hasserfüllter, auf Vernichtung zielender Impulse.
In Mohammed Amin al-Husseini fanden die Nazis in den 1930er und 1940er Jahren einen antisemitischen Bruder im Geiste, der nicht nur den arabischen Aufstand von 1936-1939 im Mandatsgebiet orchestrierte, sondern durch die Zusammenstellung einer bosnischen SS-Division auch direkt am Holocaust beteiligt war. Auch der in seinen späteren Jahren immer wieder als ‚gemäßigt‘ verklärte Jassir Arafat (1929-2004), langjähriger Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der Palästinensischen Autonomiebehörde, war gelehriger Schüler dieses NS-Kollaborateurs. So war der Antisemitismus von Beginn an ein zentrales Ideologem der palästinensischen Nationalbewegung, sowohl in ihrer tendenziell säkularen als auch in ihrer islamistischen Spielart. Die britische Mandatsherrschaft knickte aus kriegsstrategischen Gründen schließlich Ende der 1930er Jahre vor dem palästinensischen Nationalismus ein und vergaß kurzerhand das in der Balfour-Deklaration von 1917 ergangene Versprechen, die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu unterstützen. Stattdessen wurde die jüdische Einwanderung mit dem britischen Weißbuch von 1939, wenige Monate nach den deutschen Novemberpogromen im Dritten Reich, auf maximal 75.000 Menschen innerhalb der nächsten fünf Jahre beschränkt, jüdischer Grunderwerb wurde fortan untersagt. Diese Politik änderte Großbritannien während des gesamten Zweiten Weltkriegs und des Holocausts nicht mehr.
Israel als Schutzraum
Anders als von postkolonialen Geschichtsrevisionisten behauptet, ist der Staat Israel also weit eher als Resultat antikolonialer Kämpfe anzusehen. Die Staatsgründung konnte sich zwar auf den UN-Teilungsplan von 1947 berufen, der mehrheitlich Zustimmung (bei Enthaltung Großbritanniens und vehementer Ablehnung aller arabischen Staaten) erhielt, doch einen Tag nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 14. Mai 1948 griffen alle umliegenden arabischen Staaten Israel an. Der jüdische Staat konnte seine Unabhängigkeit als wehrhafter, souveräner Schutzraum für alle von Antisemitismus Verfolgten im Krieg behaupten. Die Gründung des jüdischen Staats ging mit Gewalt, der Flucht und Vertreibung von bis zu 750.000 arabischen Palästinensern einher, die jedoch nachweislich keinem Masterplan folgte, sondern sich situativ, im Kontext des Kriegsgeschehens ereignete. Dennoch – diese historische Hypothek lastet auf dem jüdischen Staat. Sie wird in der selbstkritischen israelischen Öffentlichkeit durchaus aufgearbeitet. Ganz anders in den muslimischen Ländern, in denen zwischen 1948 und den 1970er Jahren etwa 850.000 Juden von Flucht und Vertreibung betroffen waren, sodass die muslimische Welt mittlerweile nahezu ‚judenrein‘ ist, während im heutigen Israel rund 2,1 Millionen arabische Staatsbürger leben und arbeiten.
Bis heute ist die allzu verständliche Staatsdoktrin dieses noch stets von Feinden umgebenden Landes mit der ungefähren Größe des Bundeslands Hessen, dass Juden nie wieder in der Geschichte dem Vernichtungswillen von Antisemiten schutzlos ausgeliefert sein sollen – ein Selbstbewusstsein, das am 7. Oktober 2023 empfindlich getroffen wurde. Nimmt man diese Gründungsidee des Zionismus zur Kenntnis, ergibt sich ein anderer Blick auf den „Störenfried in der Region“, als ihn heutige Antizionisten haben. Dann wird u.a. deutlich, dass es ein ‚Rückkehrrecht‘ für inzwischen 5,9 Millionen Palästinenser (deren Flüchtlingsstatus sich aufgrund absurder UNRWA-Sonderregelungen mittlerweile bis in die Urenkelgeneration ‚vererbt‘, was ein weltweit einmaliger Vorgang ist) auch ins israelische Kernland nicht geben kann, ohne den jüdischen Staat als jüdischen Staat zu zerstören.
Das Wissen um seine historische Entstehung und seine Notwendigkeit als Schutzraum enthebt Israel freilich nicht der Verantwortung für Kriegsverbrechen im aktuellen Gazakrieg. Doch darum geht es denjenigen gar nicht, die Israel fortwährend dämonisieren. Ihr Urteil ist längst gesprochen. Während die stark geschwächte, aber eben noch nicht besiegte Hamas öffentlich kundtut, bereits die nächsten Terrorangriffe zu planen, soll sich Israel nach dem Wunsch der Weltöffentlichkeit seinen fanatischen Todfeinden in die Arme werfen. Das ist im Bestfall unfassbar naiv und erfahrungsresistent, im schlimmsten Fall bewusste Fraternisierung mit der mörderischen Bedrohung. •
Michael Heidemann studierte Philosophie und Politikwissenschaft in Münster und Oldenburg, ist freiberuflicher Referent und Lektor sowie Mitarbeiter im Peter-Bulthaup-Archiv. Heidemann ist Mitglied der Gesellschaft für kritische Bildung (GfkB).
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