Ausweitung der Kampfzone
In vielen Ländern militarisiert sich die Polizei. Das führt zu einer gefährlichen Umstülpung der Freund-Feind-Logik nach innen – und verstärkt damit jenen Rassismus, gegen den gerade weltweit protestiert wird.
Wer dieser Tage Bilder der US-Polizei sieht, allen voran bei Demonstrationen der „Black Lives Matter“-Bewegung, mag sich allein schon beim Anblick ihrer martialischen Ausrüstung bisweilen an ein Kriegsszenario erinnert fühlen. Und man liegt damit leider gar nicht so falsch. Denn seit Jahrzehnten lässt sich insbesondere bei der amerikanischen Polizei, zunehmend aber auch bei ihren europäischen Pendants, eine sukzessive Militarisierung beobachten. Sprich: Die Fahrzeuge werden gepanzerter, die Waffen schwerer und das Auftreten soldatischer. Fragt man nach der Ermordung von George Floyd nach den Ursachen für solch wiederkehrende Fälle tödlicher Polizeigewalt, der buchstäblich brutalen Entfremdung zwischen den Einsatzkräften und ganzen Bevölkerungsschichten sowie strukturellem Rassismus innerhalb der Behörden, offenbart sich diese Militarisierung als ein gewichtiger Grund.
In den USA reichen die Anfänge der Aufrüstungsoffensive des law enforcements bis in die 1980er Jahre zurück, als man begann, Einheiten im „war on drugs“ massiver auszustatten. Dies mündete 1990 dann in das „The Department of Defense Excess Property Program“, welches oft nur als 1033-Programm firmiert und es dem US-Militär ermöglicht, sein (ausrangiertes) Equipment an lokale Polizeibehörden weiterzugeben. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde das Programm abermals ausgeweitet, weil die Einsatzkräfte nun auch im heimischen Kampf gegen Terror mithalten sollten. Um es in konkreten Zahlen auszudrücken: Allein zwischen 2006 und 2014 überstellte das US-Verteidigungsministerium Equipment im Wert von anderthalb Milliarden Dollar an die Polizeibehörden, darunter über 600 gepanzerte Fahrzeuge, fast 80 000 Sturmgewehre, 50 Flugzeuge und 422 Hubschrauber.
Die praktische Folge dieser Aufrüstung: Die US-Polizei trat zunehmend nicht nur beim „war on drugs“ und beim „war on terror“ in militärischem Stil auf, sondern auch bei „normalen“ Einsätzen, etwa bei der Suche nach flüchtigen Kriminellen oder Demonstrationen. Denn im 1033-Programm ist vorgesehen, dass das Militärgerät, will die Polizei es behalten, spätestens ein Jahr nach der Anschaffung eingesetzt werden muss. In aller Deutlichkeit bekam die Weltöffentlichkeit solch soldatisches Auftreten der US-Polizei bereits 2014 in Ferguson, Missouri, zu sehen, als nach der Erschießung des schwarzen Michael Brown durch einen weißen Beamten Proteste und Unruhen in der Stadt ausbrachen und Polizeieinheiten im Stile einer Armee in die Stadt einmarschierten und die Lage eskalieren ließen. Nicht zuletzt deshalb schränkte die Obama-Administration das 1033-Programm 2015 ein, was jedoch nur von kurzer Dauer war. 2017 wurde es von Donald Trump wiederbelebt.
Geht die Militarisierung der US-Polizei heute also unverändert weiter, muss man auch ihre ganz grundsätzliche, demokratietheoretische Bedeutung begreifen. Denn eigentlich gehorchen Militär und Polizei zwei unterschiedlichen Logiken. Armeen folgen im Grundsatz einer Freund-Feind-Logik. Kurz gesagt ist ihre Kernaufgabe: Krieg. Oder genauer: Sowohl Krieg als auch die Verhinderung von Krieg durch die glaubhafte Androhung des selbigen. In beiden Fällen gibt es jedoch einen Feind. Dieser mag in Zeiten eines globalisierten Weltinnenraums territorial nicht immer mehr so konkret benennbar sein wie etwa noch in der Epoche des Kalten Kriegs, weil beispielsweise der international operierende Terrorismus buchstäblich keine Grenzen mehr kennt. Dennoch – oder auch: gerade deswegen – ist der proaktive Einsatz von Armeen demokratischer Staaten heute vornehmlich ein kriegerischer und exterritorialer. Sei es in Afghanistan, Irak, Syrien oder Mali. Im Innern dürfen die Armeen der allermeisten Demokratien entsprechend nur in extremen Ausnahmefällen eingesetzt werden, etwa bei Naturkatastrophen.
Die Polizei kennt ihrer (demokratischen) Funktionslogik nach hingegen eigentlich keine feststehenden Feinde. Vielmehr wird sie gerufen, wenn ein Verbrechen passiert ist oder Gefahr droht – um erst dann die Täter zu ermitteln und festzusetzen. Natürlich wird diese Logik bereits unterminiert, wenn in Polizeibehörden expliziter oder latenter Rassismus herrscht: Die vermeintlich Verdächtigen stehen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe schon vorher fest. Durch die Militarisierung der Polizei verstärkt sich der bestehende Rassismus indes noch, weil das Freund-Feind-Schema systematisch verankert – und gleichzeitig nach innen gekehrt wird. Wenn Polizeibeamte wie Soldaten in vermeintliche „No-go-Areas“ einmarschieren und dies mit der Rede vom „war on crime“ begleitet wird, offenbart sich die Militarisierung der Polizei zunehmend als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung: Sie schafft jene Feinde, gegen die sie glaubt bisweilen bürgerkriegsartig vorgehen zu müssen.
Zentral in diesem Zusammenhang ist der philosophische Begriff der „Anrufung“, der auf den französischen Philosophen Louis Althusser zurückgeht. Wenn ich auf eine gewisse Weise durch Institutionen angesprochen werde – etwa im Modus der Verdächtigung – dann wird diese Zuschreibung zunehmend zu meiner eigenen Wahrnehmung: ich fühle mich als Verdächtiger und potenzieller Krimineller. In seinem Buch „Enforcing Order – An Ethnography of Urban Policing“ (2011) beschreibt der Sozioge Didier Fassin, mit welcher Wucht Althussers „Anrufung“ heute bei Polizeieinsätzen in den Pariser Banlieues zum Tragen kommt – und zwar im Modus der Anrufung als Feind. So hat Fassin für seine Recherchen die „Brigade anti-criminalité“ bei ihren Einsätzen in den Banlieues begleitet. Also jene Polizeikräfte, die ob ihres martialischen Auftretens und ihres oft brutalen Vorgehens bei vielen Bewohnern gleichermaßen verhasst wie gefürchtet sind. Eindrücklich zeigt der Soziologe, wie vor allem Migranten und Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe dadurch verstärkt als Feinde angerufen werden, nach dem Motto: „Begreife dich als jener Feind, zu dem wir dich machen“. Konkret bedeutet das, so schreibt Fassin, dass die Bewohner der Banlieues verstehen, dass es nicht reicht unschuldig zu sein. Denn die teils brutale Behandlung durch die Polizei hat weniger mit dem zu tun, was sie getan haben, als vielmehr damit, was sie repräsentieren.
Es gehört freilich zum fatalen Kreislauf dieser feindlichen Anrufung, dass sie Rückkopplungseffekte erzeugt, also wiederum oft die Polizei zum Feind der Betroffenen werden lässt, sodass letztere im Gegenzug mit Gewalt auf Beamte reagieren, was wiederum als Argument einer weiteren Militarisierung und noch brutalerer Polizeieinsätze dient. Für die USA zeigen Studien dementsprechend auch, dass die Ausstattung der Behörden mit militärischen Gerät zu mehr Erschießungen führt. Umso fataler, dass die Militarisierung der Einsatzkräfte weltweit vorangetrieben wird: Das gilt nicht nur für die USA und südamerikanische Länder wie Kolumbien und Brasilien, sondern auch für eine Vielzahl europäischer Staaten. Und auch in Deutschland legt sich die Polizei zunehmend panzerartige Einsatzfahrzeuge zu und tritt bei Demonstrationen, man denke an eine linksgerichtete Kundgebung im sächsischen Wurzen 2017, mitunter wie Anti-Terror-Einheiten auf.
Dass sich aus solch einer Eskalation von Freund-Feind-Logiken indes auch politisches Kapital schlagen lässt, zeigt sich wiederum paradigmatisch in den USA. Denn polarisierende Amtsträger wie Donald Trump wissen sehr genau, dass ihre Machtbasis nicht in allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen liegt, sondern vor allem auf einer ressentimentgeladenen wie angstlüsternen Einschwörung weißer Konservativer beruht. Und diese lässt sich nicht zuletzt durch die – potentiell selbsterfüllende – Prophezeiung bürgerkiegsähnlicher Zustände erreichen. •