Beete mit Bewusstsein?
Pflanzen gelten gemeinhin als dumpfe, bewusstlose Lebewesen. Die Forschung fordert diese Vorstellung jedoch zunehmend heraus – und wirft damit auch philosophische Fragen auf.
Kürzlich berichteten amerikanische Biologen über das raffinierte biochemische Kommunikationssystem zwischen Tomaten und spielten dabei auch mit der Hypothese einer Kommunikation über die Artengrenzen hinweg: zum Beispiel zwischen Tomaten und Pilzen oder Bäumen. Sozusagen eine pflanzliche Ökumene. Was man auch davon halten mag, jedenfalls sieht sich das gängige Bild der Pflanze schon seit längerem durch die neue Forschung herausgefordert.
Dieses herkömmliche Bild zeichnet die Pflanze als Lebewesen, das eine bewusstlose, dumpfe Existenz fristet. Kant übertrug die Analogie auch auf den Menschen: „Wenn man das Leben der meisten Menschen ansieht: so scheint diese Creatur geschaffen zu sein, um wie eine Pflanze Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht fortzupflanzen, endlich alt zu werden und zu sterben.“ Aufklärung könnte daher auch heissen: Ausgang des Menschen aus dem selbstgewählten Zustand der Pflanze.
Dass Pflanzen tatsächlich oft höchst raffiniert auf Umwelteinflüsse reagieren, ist hingegen längst bekannt. So wehrt sich etwa wildes Tabakkraut gegen Räuber mittels einer Überproduktion an Gift in den Blättern. In einem Versuch stanzten Biologen mit einem Raupenroboter ein Fressmuster ins Blattgewebe von Tomaten. Die Tomate setzte daraufhin hormonähnliche Substanzen frei, ähnlich den schmerzauslösenden Gewebehormonen beim Menschen, die bei Entzündungen in Aktion treten. Man hat deshalb auch schon von „Pflanzenkopfschmerzen“ gesprochen.
Es gibt einen Grund, die Pflanze philosophisch ernst zu nehmen: Sie kann uns einen weniger menschenzentrierten Blick auf die Natur lehren
Spätestens hier ist ein Warnschild angebracht. Denn die Tendenz, unter der Hand irreführende anthropomorphe Analogien in die Sprache über Pflanzen einzuschmuggeln, ist endemisch. Wir alle kennen wohl Leute, die mit Begonien auf Du und Du stehen. Seit über vier Dekaden, genauer: seit der Publikation des Bestsellers „Das geheime Leben der Pflanzen“ (1974) von Peter Thomkins und Christopher Bird biegen sich die Regale unter der Last von einschlägigen Titeln der Pflanzenesoterik.
Gleichwohl gibt es einen Grund, die Pflanze philosophisch ernst zu nehmen: Sie kann uns einen weniger menschenzentrierten Blick auf die Natur lehren. Kant gestand den Pflanzen durchaus eine moralisch erbauliche Funktion zu. Er sprach von der „Stimmung der Sittlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, nämlich auch etwas ohne Absicht auf Nutzen zu lieben z.B. (...) das unbeschreiblich Schöne des Gewächsreichs“. Dem Königsberger Denker ging es letztlich um den Menschen, nicht um die anderen Lebewesen. Sagen wir es ohne Umschweife: Achtung vor der Pflanze ist für ihn menschliche Selbstachtung.
Genau das genügt aber nicht mehr. Es braucht einen radikalen – einen anti-cartesianischen – Perspektivenwechsel im Denken über Pflanzen. Wir haben es mit Lebewesen, nicht mit einer blossen „res extensa“ zu tun, einer Welt der organischen „Sachen“ oder Automaten. Sprich: Wir haben es mit einer „mens extensa“ zu tun, einem Wunderkabinett voller Wesen mit ihrem spezifischen mentalen Lebensweisen – seien sie nun angewurzelt oder nicht. Darin muss der Mensch sich neu verorten. Und er tut erst recht gut daran, wenn er den vitalen Haushalt des Planeten erhalten will. ( Bewusstsein )
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