Bernd Ladwig: „Tiere als leidensfähige Kreaturen sitzen mit uns in einem Boot“
Jeden Tag werden Tiere millionenfach getötet oder zu wissenschaftlichen Zwecken gequält, während das Foltern von Menschen verboten ist. Ein Fall moralischer Willkür, behauptet Bernd Ladwig und fordert individuell wie politisch radikales Umdenken.
In der Folge von Corona-Ausbrüchen in mehreren Großschlachtbetrieben wird aktuell wieder verstärkt über Haltungsbedingungen von Tieren in der Fleischindustrie diskutiert. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner fordert etwa eine „Tierwohlabgabe“, damit Fleisch keine „Ramschware“ mehr sein könne. Klingt das für Sie nach einem ethischem Fortschritt?
Das sind kleine, aus der Not geborene Reformen im Rahmen eines Systems, das bestimmte Tiere weiterhin fast ausschließlich als Ressourcen wahrnimmt. Das heisst nicht, dass Preissignale, die manche Verbraucherinnen und Verbraucher vielleicht von Billigfleisch abhalten, völlig unwirksam wären und für das Tierwohl gar keine Bedeutung hätten. Aber die Intention besteht natürlich darin, eine unter Druck geratene Branche möglichst schnell aus der Kritik herauszuholen und das Vertrauen in das deutsche Fleisch wiederherzustellen.
Sie fordern in ihrem jüngst erschienenen Buch Tieren eine Reihe von Rechten zukommen lassen, die weit über aktuelle Tierschutzbestimmungen hinausgehen. Worauf gründet diese Forderung?
Die Forderung gründet auf zwei Ideen. Die erste besteht darin, dass wir fraglos annehmen, wir als Menschen haben bestimmte Rechte. Die zweite ist, dass die Moral frei von Willkür sein muss. Das bedeutet, dass gleiche moralisch erhebliche Eigenschaften, etwa die Schmerzempfindlichkeit, bei verschiedenen Individuen gleich beachtet werden sollen. Nun wollen wir Menschenrechte geachtet wissen, weil wir bestimmte, besonders grundlegende Interessen haben, die wir durch diese Rechte schützen wollen. Man kann sich an Extrembeispielen wie der Folter klar machen, dass einige dieser Interessen nicht allein unseren höheren Vermögen wie Autonomie oder Moralfähigkeit gelten, sondern dass wir diese Interessen bereits als Kreaturen besitzen. Kreaturen, die leiden können, die fürsorge- und bindungsbedürftig sind, die leiblich existieren und endlich sind. Und in dieser Hinsicht sind wir – auch normativ gesehen – mit Tieren in einem Boot. Es wäre dementsprechend willkürlich, wenn wir diese Interessen in unserem Fall mit Rechten bewehren, Tieren aber jedwede Rechte vorenthielten.
Welche konkreten Rechte müssten wir Tieren dadurch zukommen lassen?
Das hängt im Einzelnen davon ab, um welche Tiere es sich handelt. Gesellige Tiere können beispielsweise Bedürfnisse nach wohlstrukturierten Sozialbeziehungen haben, die ungeselligen Tieren fehlen. Generell kann man aber sagen, dass ein tierliches Interesse darin besteht, weiterleben zu können, weil das die Bedingung der Möglichkeit jedweder künftiger Freuden ist. Sobald ein Tier die Aussicht auf ein weiteres erfreuliches Erleben hat, darf ihm dieses nicht ohne Not gewaltsam geraubt werden. Zudem gibt es Interessen, die man als physische und psychische Funktionsfähigkeit zusammenfassen kann: Gesundheit, ein Mindestmaß an sinnlicher Orientierung und Bewegungsfreiheit sowie Wohlbefinden im Sinne erfreulicher mentaler Zustände. Das alles sind Grundgüter, die Tieren zugänglich sein müssen, die aber, je nachdem, wie komplex, anspruchsvoll und sozial Tiere veranlagt sind, noch stärker spezifiziert werden müssen.
Liegt in dieser Sichtweise nicht auch die Gefahr, Tiere zu „vermenschlichen“?
Man kann ganz empirisch feststellen, dass viele Tiere uns in manchen Hinsichten ähnlich sind. Wenn wir verhaltensbezogene, physiologische sowie evolutionsbiologische Erkenntnisse heranziehen, ist es einfach unabweisbar, dass viele Tiere, besonders jene, die am meisten vom Menschen genutzt und getötet werden, viele unserer Interessen, die wir untereinander rechtlich schützen wollen, ebenso besitzen. Dennoch sind Tiere natürlich keine Menschen.
Was hieße das denn für unseren alltäglichen Umgang mit Tieren? Dürfte man etwa noch Fleisch essen?
Fleisch dürften wir nicht essen, soweit die Voraussetzung für den Fleischverzehr wäre, dass Tiere dafür gelitten haben und vorzeitig gestorben sind. Und, das ist wichtig, wir gleichzeitig über fleischfreie Alternativen verfügen, die bezahlbar und genießbar sind. Da wir eben diese Alternativen inzwischen in großer Zahl haben, heißt das für uns in den westlichen Ländern ganz praktisch, dass wir so gut wie nie Fleisch essen dürften. Das liegt nicht daran, dass ich den Konsum von Fleisch an sich dogmatisch für falsch halte. Sollte es eines Tages möglich sein, dieses aus Muskelzellen in der Petrischale zu bezahlbaren Preisen zu erzeugen, wäre das aus meiner Sicht ethisch unproblematisch. Aber bis jetzt ist das Leiden und Sterben von Tieren eben noch die faktische Voraussetzung für den Fleischverzehr.
Und wie ist es mit Zoobesuchen? Wären die ethisch vertretbar?
Diese könnte man etwas differenzierter beurteilen, weil es hier darauf ankommt, ob die Gefangenschaft für die Tiere eine Beeinträchtigung ihrer Grundbedürfnisse bedeutet. Das Dumme ist nur: Fast alle Tiere, um derentwillen Menschen Zoos besuchen, wie Elefanten, Tiger oder Eisbären, sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Zoos nicht gut aufgehoben. Sie sind große, bewegungsfreudige Lebewesen, für die der Zoo nur einen armseligen Ersatz ihrer eigentlichen Habitate bieten kann.
Wir sprachen bis jetzt vor allem über Nutztiere, die von Menschen in Massen gehalten und verzehrt werden. Ganz anders verhält es sich mit Haustieren. Diese werden in westlichen Gesellschaften immer weiter aufgewertet. Woher rührt diese offensichtliche Schizophrenie in unserem Umgang mit Tieren?
Klar ist, dass im kulturellen Stereotyp bestimmte Tiere bestimmte Plätze einnehmen. Für Schweine ist das etwa vor allem der Platz als Nutz- und Fleischtier. Für andere ist es wiederum der Platz als Gefährte, was wiederum zweierlei heißen kann. Einerseits Arbeitsgefährte und Kooperationspartner zu sein, Hütehunde wären dafür ein Beispiel. Andererseits eben die Haustiere, die historisch vermutlich die jüngste Form der Zuwendung zu Tieren ist. Unabhängig von dieser geschichtlichen Entwicklung ist das Entscheidende aber: Wir müssen uns immer fragen, ob diese Ungleichbehandlung und Ungleichbeachtung eigentlich eine moralische Begründung hat und damit frei von Willkür ist. Vergleicht man die moralisch erheblichen Fähigkeiten eines Hundes mit denen eines Schweines, ist eine solche willkürfreie Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung nicht zu erkennen.
Das Nachdenken über Tiere hat ja auch eine lange philosophiehistorische Tradition. Lässt sich ein Trend unter den vertretenen Positionen erkennen?
Dominant ist sicher die Vorstellung, dass Tiere vor allem auf der Welt seien, um den Menschen zu dienen und ihnen Untertan zu sein. Diese Auffassung, der Mensch habe das Recht, Furcht und Schrecken unter die Tiere zu bringen, ist sehr viel älter als die Moderne, der Kapitalismus und die Industriegesellschaft. Bereits in der Antike finden sich philosophische Ansatzpunkte für die Höherbewertung des Menschen gegenüber den Tieren. In der Theorie der Seelenteile werden etwa die höher bewerteten und vernünftigen Teile als den Tieren nicht zugänglich beschrieben. Wichtige Denker der Neuzeit haben Tiere massiv abgewertet. René Descartes vertrat einen strikten Dualismus, durch den er den Tieren ein mentales Innenleben absprach. Aber auch Kant hielt die Rücksicht auf Tiere nur um der moralischen Übung willen für geboten. Wobei Kant immerhin erkannt hat, dass Tiere etwas mit uns Menschen teilen, nämlich so etwas wie Empfindungsfähigkeit, auf die man prinzipiell Rücksicht nehmen kann, aber nicht muss, weil sie keine Personen sind und keine moralische Handlungsfähigkeit besitzen. Doch gibt es auch verschiedene andere Quellen die eine tierfreundlichere Alternative darstellen. Sei es der Utilitarismus oder die Mitleidethik, seien es empiristische Richtungen der Philosophie, die die Mensch-Tier-Kontinuität viel stärker betonen konnten, als es beispielsweise der Deutsche Idealismus vermochte.
Nach aktuellem Wissensstand ist Covid-19 auf einem Wildtiermarkt in Wuhan ausgebrochen. Werden uns dadurch Tiere wieder mehr als Gefahr für das eigene Leben offenbar?
Der Umgang mit Tieren ist unter bestimmten Bedingungen immer gefährlich. Besonders wenn man sie benutzt und verarbeitet. Man muss da gar nicht bis nach Wuhan schauen. Auch wenn in Schlachtbetrieben massenweise Antibiotika zum Einsatz kommen, ist das für den Menschen alles andere als ungefährlich. Ganz unabhängig ob sich bestätigt, dass die Verhältnisse auf dem Wildtiermarkt in Wuhan ursächlich für das Virus waren, steht fest: Solche Märkte dürfte es schlicht nicht geben. Unter Bedingungen der Globalisierung ist es natürlich schwer, etwas abzustellen, das auch in anderen Ländern stattfindet und sich über die ökonomischen und touristischen Verbreitungsketten auf dem ganzen Globus verteilt. Bestünde eine Konsequenz aus der aktuellen Situation darin, dass Wildtiere nicht mehr auf solchen Märkten gehandelt werden, wäre das natürlich ein ebenso rationaler wie moralisch erfreulicher Effekt. Dass es allerdings bald dazu kommt, kann ich leider nicht glauben.
Noch einmal ganz praktisch gefragt: Auch wenn sich die Sensibilität für Tierschutz in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat und fleischlose Ernährung immer weiter verbreitet ist, hat etwa die Debatte um den „Veggie-Day“ ja gezeigt, wie kontrovers das Thema bleibt. Wie wird sich unser Verhältnis zu Tieren in den nächsten Jahren verändern?
Ich glaube, dass es einen sich stetig verbreitenden Grundkonsens darüber gibt, dass die Nachfrage nach Produkten, für die Tiere leiden und sterben müssen, rechtfertigungsbedürftig ist. Dass es sich also beim Fleischkauf um keine moralisch neutrale Entscheidung handelt. Auch an der Tatsache, dass einige Menschen an dieser Stelle trotzig reagieren, wenn der Staat oder Philosophinnen und Philosophen ihre Essensentscheidungen kritisieren, weil sie dies als ungerechtfertigten Eingriff in ihre Privatsphäre empfinden, zeigt sich viel. Besonders die Heftigkeit, die hier oft zu beobachten ist, macht deutlich, dass bei sehr vielen Leuten zumindest unterschwellig etwas in Bewegung gekommen ist. Ob das motivational genügt, damit an der Theke der Griff nach dem billigen Fleisch unterbleibt, ist eine schwierige Frage. Allerdings ist auch klar, dass etwas als moralisch problematisch erkannt und benannt werden muss, damit Menschen ein mögliches moralisches Motiv haben, ihr Handeln zu verändern. Inwieweit das dann geschieht, das wird nicht nur von moralischer Einsicht, sondern auch von Anreizbedingungen abhängen. Beispielsweise von der künftigen Preisgestaltung tierischer und nicht-tierischer Produkte. Ein Feld, in dem die Politik natürlich Rahmenbedingungen schaffen kann.
Was können der und die Einzelne tun, um die Rechte von Tieren im Alltag besser zu schützen?
Ich sage gerne, dass wir hier zwei Rollen spielen. Als Konsumentinnen und Konsumenten können wir die tierfreien, das heißt im Idealfall veganen Alternativen bevorzugen, insofern sie zur Verfügung stehen und für die betreffende Person bezahlbar sind. Außerdem können wir uns dafür einsetzen, dass solche Alternativen zu noch günstigeren Bedingungen breiter bereitgestellt, bekannter gemacht und noch besser erforscht werden. Besonders der letzte Punkt verweist auch schon auf den zweiten Aspekt, nämlich auf unsere politische Bürgerrolle. Wir sollten für gesetzliche Rahmenbedingungen eintreten, die die vermeidbare Schädigung und Tötung von Tieren beenden oder zumindest minimieren. Sicher sollte man nicht davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Menschen ihr ganzes persönliches Leben diesem einen politischen Zweck verschreiben. Die Durchsetzung von Tierrechten wird immer eine Sache weniger bleiben. Aber die eigenen politischen Wahlentscheidungen auch von der Frage abhängig zu machen, wie einzelne Kandidatinnen und Kandidaten zum Tierschutz stehen, ist jeder stimmberechtigten Person zumutbar. Das zeigt auch, dass die Ebene der Politik, also das gemeinsame Handeln und kollektiv verbindliche Entscheiden, für das Schicksal der Tiere wichtiger ist, als die individuelle Handlungsebene einzelner Verbraucherinnen und Verbraucher. •
Weitere Artikel
16. Türchen
Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 16. Türchen: Unser Redaktionshund Jimmy rät zu Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp, 411 S., 22 €)

Julian Nida-Rümelin: „Die Annahme ‚Wir sitzen alle im selben Boot‘ setzt falsche Anreize für die staatliche Praxis“
In der Corona-Pandemie avancierte „Solidarität“ zu einem Kampfbegriff. Legitimiert wird mit ihm die Fortführung der Maßnahmen und Überlegungen zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Aber wird Solidarität so richtig verstanden? Ein Interview mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin anlässlich der heutigen Bund-Länder-Runde.

Das Leben der Anderen
Gefühle, Rechte, Ökologie: Der Primatenforscher Frans de Waal, der Philosoph Bernd Ladwig und die Politologin Jane Bennett stellen die Tier-Mensch-Frage neu

Sadik al Azm: „Syrien erlebt die Revolution in der Revolution“
Seit fast sechs Jahren wütet in Syrien ein brutaler Bürgerkrieg, in dem bis zu 500 000 Menschen getötet wurden, während Millionen zur Flucht innerhalb und außerhalb des Landes gezwungen wurden. Das Regime von Baschar al Assad und eine unübersichtliche Mischung von oppositionellen Kräften und IS-Milizionären bekämpfen einander und die Zivilbevölkerung rücksichtslos. Vor vier Jahren sprach das Philosophie Magazin mit Sadik al Azm, einem der bedeutendsten Philosophen des Landes, der kurz zuvor nach Deutschland emigriert war, über die Aussichten für Syrien, das Gespräch führte Michael Hesse. Al Azm ist am Sonntag, dem 11. Dezember 2016, in Berlin gestorben.

Die epistemische Falle
Anfang August wurde ein 16-jähriger Geflüchteter von einem Polizisten mit fünf Kugeln aus einem Maschinengewehr getötet. Die Tat löste keine nennenswerte Empörung aus. Der Grund liegt in einem fatalen Fehlurteil mit rassistischer Ursache.

Michel Kreutzer: „Missverständnisse zwischen Mensch und Tier sind keine Einbahnstraße“
Ängste, Depressionen und sogar Autismus: Auch Tiere leiden an psychischen Erkrankungen. Diese Auffassung jedenfalls vertritt die Tierpsychologie. Im Interview erläutert der Ethologe Michel Kreutzer, inwiefern man bei Hund, Katze und Co. von einem Unbewussten sprechen kann, man Tiere aber dennoch nicht vermenschlichen sollte.

Gefangen im Dilemma?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.

Wo endet meine Verantwortung?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.