Camps und Cafiero: „Wir wollten herausfinden, welche Köpfe hinter Qs Nachrichten stecken“
Forscher haben herausgefunden, wer hinter QAnon steckt. Im Interview sprechen sie über ihre Methode der Stilanalyse, die Ethik des Enttarnens und die verräterische Wirkung von Präpositionen.
Am 19. Februar veröffentlichte die New York Times eine Hypothese zu Q, dem mysteriösen anonymen Verfasser von Postings im Internet, durch die seit Herbst 2017 QAnon ins Leben gerufen wurde, eine Bewegung, die eine angebliche pädophile, satanistische Verschwörung innerhalb der Machtstrukturen des amerikanischen Staates aufdecken will. Der Zeitung zufolge steckten hinter Q zwei Personen: Paul Furber, ein südafrikanischer Softwareentwickler, und Ron Watkins, der Administrator eines Forums, in dem einige der Nachrichten veröffentlicht wurden, und der nun in Arizona als Kandidat für die Republikaner bei den Zwischenwahlen in den USA im November 2022 antritt. Quelle für die Enthüllungen der New York Times (die von beiden Verdächtigten zurückgewiesen werden) sind zwei verschiedene - doch in ihren Schlussfolgerungen übereinstimmende - linguistische Studien: eine wurde von dem Schweizer Start-up-Unternehmen OrphAnalytics durchgeführt, die andere von zwei französischen Forschern, Florian Cafiero, Ingenieur in der Forschungsgesellschaft CNRS, und Jean-Baptiste Camps, Hochschullehrer an der École nationale des chartes. Die beiden Letzteren, die Anfang April ein Buch über ihre Recherchen veröffentlichen werden - Affaires de style. Du cas Molière à l'affaire Grégory, la stylométrie mène l'enquête (Le Robert) - erklären uns die Methode, mit der sie jene zwei Personen identifiziert haben, von denen sie mit sehr großer Gewissheit annehmen, dass sie hinter Qs Nachrichten stecken.
Um Q zu identifizieren, haben Sie auf die Stilometrie zurückgegriffen. Worin besteht diese Methode?
Jean-Baptiste Camps: Stilometrie ist die „Messung des Stils“. Sie hat ihren Ursprung im Studium philosophischer Texte, denn sie entstand aus Untersuchungen zur Chronologie von Platons Dialogen, die Gegenstand vieler Spekulationen war. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts versuchte eine Reihe von Forschern, die Abfolge nicht anhand der in den Texten entwickelten Ideen zu ordnen, sondern anhand ihrer sprachlichen Form. Ein Autor, Wincenty Lutosławski, prägte daraufhin den Begriff der Stilometrie für diesen Ansatz. Die Grundidee ist der Versuch, das zu quantifizieren, was in der Linguistik als Idiolekt bezeichnet wird, d. h. die für jedes Individuum charakteristischen sprachlichen Merkmale. Man geht davon aus, dass ein individueller Stil erkennbar ist und sich im Laufe der Zeit verändert und dass man ihn messen kann, indem man nicht die angesprochenen Themen oder das Vokabular betrachtet, sondern die Häufigkeiten von Funktionswörtern zählt, z. B. in einem englischen Text die Verwendung von of und in, Präpositionen, Determinanten, Hilfsverben, besitzanzeigende Wörter... Diese Wörter werden nicht auf derselben Bewusstseinsebene wahrgenommen wie Inhaltswörter, sie sind nicht dem selben Hirnareal zugeordnet. Da sie schwer wahrzunehmen sind, sind sie auch schwerer zu fälschen.
Florian Cafiero: Es sind außerdem Wörter, die häufig benutzt werden, was den Untersuchungen eine statistische Aussagekraft verleiht. 1963 veröffentlichten Frederick Mosteller und David Wallace, zwei Statistiker von den Universitäten Harvard und Yale, einen bahnbrechenden Aufsatz zu den Federalist Papers, jener Serie von Zeitungsartikeln, die im 18. Jahrhundert von drei Autoren unter dem einheitlichen Pseudonym „Publius“ veröffentlicht wurden, um die Idee einer amerikanischen Verfassung populär zu machen, und die in den USA immer noch als grundlegend gelten, da sie als Auslegung dieser Verfassung im Sinne der Gründerväter der Vereinigten Staaten gesehen werden. Sie stellten fest, dass es bei der Verwendung von Wörtern wie „war“ [Krieg] keine deutlichen Unterschiede zwischen den infrage kommenden Kandidaten gab, während man beim händischen Auszählen von „while“ oder „upon“ feststellte, dass einer der Autoren diese Wörter gerne verwendete und ein anderer überhaupt nicht. Das Problem ist natürlich, dass es extrem mühsam ist, das zu zählen, und dass man nicht mit einem sehr großen Korpus arbeiten kann. Der Durchbruch kam, wie in vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen auch, durch die Entwicklung der Personal Computer und später der Supercomputer, die es ermöglichen, mit riesigen Datenmengen zu arbeiten, sei es mit Hilfe künstlicher Intelligenz oder mit traditionelleren statistischen Berechnungen.
Wie kamen Sie dazu, diese Methode zur Analyse von Qs Posts zu verwenden?
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