Casarabe-Kultur: Was ist eine „verlorene Zivilisation“?
Lateinamerika ist Sehnsuchtsort, Politlabor und philosophisches Terrain, das sich stets ein wenig im Schatten seiner nördlichen Nachbarn befindet. Zu Unrecht, wie wir in unserer Reihe über den Subkontinent zeigen wollen. Heute mit einem Impuls über die untergegangene Casarabe-Kultur.
Der Amazonas, ein Urwald? Auf keinen Fall! Eine in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie präsentierte vor zwei Jahren erstaunliche Ergebnisse: Unter dem dichten Blätterwerk Boliviens wurden mithilfe von Helikopter-Scannern auf einer Fläche von 4.500 km2 insgesamt 26 Stätten einer präkolumbianischen Zivilisation gefunden. Dabei handelt es sich um das ehemalige Siedlungsgebiet der Casarabe-Kultur, die im Zuge der Eroberung Amerikas im 16. Jahrhundert untergegangen ist. Der Studie zufolge zeugen die Funde von einem „hochintegrierten, kontinuierlichen und dichten Siedlungssystem“, das über Wälle und ein komplexes Wassersystem verfügte.
Wie viele andere verlorene Zivilisationen gibt es, die im Schatten stehen? Um eine Vorstellung davon zu bekommen, müssen wir uns fragen: Was ist eine verlorene Zivilisation? Die Frage ist komplexer, als sie zunächst scheint. Das mythische Königreich Atlantis ist nicht in demselben Sinne verloren wie das antike Griechenland oder die casarabische Zivilisation. Alle diese Gesellschaften sind in dem Sinne verschwunden, dass ihre Institutionen – ihre Rituale, Praktiken, Gewohnheiten und sogar ihre Sprache – nicht mehr existieren. Mit einem solchen Verschwinden kann auch jegliche Erinnerung verlorengehen. „Sobald es eine Institution gibt, gibt es Personen, die bezahlt werden und eine anerkannte Kompetenz haben, das Archiv zu kontrollieren, d.h. zu entscheiden, was man aufbewahrt und was man nicht aufbewahrt, wozu man Zugang gewährt, wem man Zugang gewährt, wann und wie usw.“, stellt Jacques Derrida in dem Dialog Spur und Archiv, Bild und Kunst (2002) fest. Aus interner Sicht ist der Untergang einer Zivilisation eng mit dem Verschwinden des ‚Archivs‘ verbunden, das den Faden einer historischen Erzählung aufrechterhält.
Die Logik der Asche
Es gibt keine Zeugen, die auch nur indirekt von dem Verschwinden berichten könnten. Für Derrida ist dies die Logik der „Asche“. Die Fundamente ausreißen, alle Erinnerungen verbannen. In manchen Fällen verweist das Verschwinden auf eine politische Logik der geplanten Vernichtung. Carthago delenda est – „Karthago muss zerstört werden“, so Cato der Ältere im Jahr 149 v. Chr. über den Erbfeind Roms. Noch radikaler verhält es sich, so Derrida, mit der Bedeutung des Holocausts, der sogar die „Möglichkeit, die Vernichtung zu bezeugen“, abschafft und eine soziale Gruppe ihrer künftigen Existenz beraubt. „Das Archiv befasst sich nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Zukunft. Ich wähle […] aus, was meiner Meinung nach in der Zukunft wiederholt, aufbewahrt, wiederholt werden muss.“
Davon abgesehen unterscheiden sich die verschiedenen „verlorenen Zivilisationen“ in ihrer Art der Vergänglichkeit: Das antike Griechenland gibt es nicht mehr. Aber es ist dennoch präsent. Es besteht durch seine Überreste, Ruinen und Spuren fort, die zwar von der Trennung zeugen, aber dennoch einen Weg in die Vergangenheit aufzeigen. Vor allem aber besteht es in seiner Abwesenheit außerhalb seiner selbst weiter; im Mittelpunkt des Bedeutungsgeflechts, das unsere Welt prägt. Das antike Griechenland ist überall: in Geschichtsbüchern, in philosophischen Abhandlungen etc.
Atlantis ist in einem radikaleren Sinn verloren. Von der legendären Insel besitzen wir keinerlei materielle Spuren. Es ist sogar fraglich, ob sie überhaupt existiert hat – eine jahrhundertealte Debatte, die wahrscheinlich nie entschieden wird. Doch trotz der fehlenden Spuren spukt das atlantische Königreich in unserer Vorstellung herum. Es existiert als bedeutungsvolles Element in unseren Diskursen.
Ein neuer Strang der Weltgeschichte
Der Fall der Casarabe-Kultur ist anders gelagert. Die physischen Spuren sind nicht vollständig verschwunden. Der Weg zu ihnen wurde zwar von der Vegetation des Amazonas begraben, doch die Fundamente existieren – unter dem Blätterdach – fort. Dafür ist die casarabische Kultur in einem tieferen Sinne verschwunden: Seit der spanischen Eroberung Amerikas fehlt sie in jedem Diskurs, jeder Erinnerung und jedem Archiv. Der Faden der Bedeutung ist gerissen.
Zum Glück sind einige Überreste der casarabischen Zivilisation erhalten geblieben. Ihre Spuren wurden wiedergefunden. Diese Zivilisation wird Gegenstand künftiger Forschungen sein, um ihre Funktionsweise besser zu verstehen und sie wieder in die Weltgeschichte der Menschheit einzuführen. Schon dadurch ist die casarabische Zivilisation nicht mehr völlig verschwunden. So wäre die ‚ideale‘ verlorene Zivilisation in gewisser Weise eine Zivilisation, von der wir nicht einmal eine Vorstellung haben könnten. Sobald sie wieder einen Platz im Diskurs einnimmt, wird die verlorene Verbindung neu geknüpft und etwas vom Leben der Vergangenheit wiederhergestellt. •