China wird sozialistisch
Der neue Fünfjahresplan will den Konsum im Reich der Mitte stärken. Massenwohlstand, soziale Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und Rentenerhöhung für Arme werden zu Wachstumsfaktoren erklärt. Klingt das nicht nach jenem Sozialismus, von dem sich China einst verabschiedet hat?
Was in westlichen Demokratien Wahlen sind, sind in China die Fünfjahrespläne: Richtungsentscheidungen, Taktgeber für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, mitunter sogar Epochenschwellen. Alles, was in den vergangenen Jahrzehnten Chinas Antlitz geprägt hat, wurde zuvor vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei beschlossen: Der Aufbau des Kommunismus, der Übergang zum Kapitalismus oder der Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Daher schaut man im Westen genau hin, wenn Peking einen neuen Plan lanciert. Dies geschieht zwar offiziell erst im März 2026, doch erste Eckpunkte des XV. Fünfjahresplans hat die Partei bereits bekanntgegeben.
Ins Auge stach den westlichen Kommentatoren vor allem eines: Pekings Interesse für High-Tech. China setze damit, wie in den vergangenen Wochen immer wieder zu hören war, seinen Aufstieg in der globalen Wertschöpfungskette fort: Von der Werkbank zum High-Tech-Labor der Welt. Das hat, so der sorgenvolle Unterton der Berichte, Auswirkungen auch auf uns in Europa. Denn High-Tech wollen wir selbst herstellen. In China droht nun ein technologischer Riese zu entstehen, der uns den Rang abläuft.
Shoppen für den Sozialismus
Entscheidender für die Zukunft der Welt könnte jedoch ein anderes Standbein des Fünfjahresplans sein, das in der Berichterstattung viel weniger Aufmerksamkeit bekam: Die Konzentration auf den Binnenmarkt. In Reaktion auf die unsichere Globalisierungslandschaft, die von Kriegen und Zöllen zerrüttet ist, will China die Nachfrage im eigenen Land stärken. Die 1,4 Milliarden Einwohner sollen als Konsumenten erschlossen werden. Das ist spektakulärer als es klingt. Denn es handelt sich nicht allein um ein wirtschaftliches Vorhaben, sondern auch um ein politisches: In China wurde der Wiederaufbau des Sozialismus beschlossen.
Von diesem hatte sich das Land unter Deng Xiaoping ab 1978 schrittweise verabschiedet. Staatseigentum wurde privatisiert, Handelsschranken eingerissen, das freie Spiel von Angebot und Nachfrage bestimmte die Wirtschaft. Damit war China sehr erfolgreich. Es befreite hunderte Millionen Menschen aus der Armut und versorgte die Welt mit Waren. Doch schon 2007 moniert Premierminister Wen Jiabao vier Probleme der chinesischen Wirtschaft: Instabilität, Unausgewogenheit, Unkoordiniertheit und Nicht-Nachhaltigkeit galten im Führungszirkel der Partei als unangenehme Begleiterscheinungen des kapitalistischen Wildwuchses, auf den man sich eingelassen hatte. Mit den Märkten öffnete sich auch die Schere zwischen Arm und Reich, und die Abhängigkeit von Auslandskonsumenten ist eine Gefahr für das exportorientierte Land. Jede internationale Krise bedroht seinen Wohlstand. Deshalb mehren sich seit Jahren Stimmen, die eine Stärkung der „Nachfrageseite“ der Wirtschaft fordern, die Konzentration auf den Binnenmarkt – ein sehr keynesianischer Gedanke, der im Westen längst aus der Mode gekommen ist.
Die Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik
In diesem Jahr gab es besonders viele, besonders einflussreiche Stimmen, die sich für eine Stärkung der Konsumkultur in China aussprachen. Der Ökonom Lu Feng, der als Berater im Finanz- und Arbeitsministerium tätig war, sagte im Sommer auf einer Veranstaltung in Peking: „Ich denke, dass die Einkommensverteilung, unser Sozialversicherungssystem und das Hukou-System das widerspiegeln, was wir als duale Wirtschaft bezeichnen könnten: Während einige Gruppen davon profitiert haben“, sei „der Grad der Inklusion unzureichend, was zu einem geringen Konsum anderer Gruppen geführt hat.“ Lu forderte eine Rentenerhöhung für Arme und Arbeitslose, um den Konsum anzukurbeln. Denn Menschen mit niedrigem Einkommen haben, so Lus Überlegung, eine höhere Konsumneigung. Sie sparen nicht, sie investieren nicht, sie geben alles aus, weshalb jeder Yuan, der in den Taschen eines Armen landet, die Wirtschaft stütze. Diese Idee ist nicht nur keynesianisch, sie ist linkskeynesianisch und erinnert an altsozialistische Theorien von die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die selbst unter westlichen Sozialdemokraten kaum noch mehrheitsfähig sind. In China könnten sie bald Regierungslinie sein.
Auf derselben Veranstaltung schlug Xu Gao, Chefökonom der Bank of China, vor, staatliche Vermögenswerte in Höhe von 10 Billionen Yuan (etwa 1,2 Billionen Euro) an den chinesischen Sozialversicherungsfonds zu übertragen. Die Idee dahinter: Ein dichtes soziales Sicherungsnetz bringt die Menschen in Kaufstimmung. Denn wer abgesichert ist, muss nichts auf die hohe Kante legen. Er kann unbeschwert shoppen. Xus Kollege Lu sprach sich außerdem für eine Reform des „Systems der ständigen Wohnsitzkontrolle“ (Hukou) aus, um denjenigen, die vom Land in die Städte gezogen sind, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung zu gewähren. Kinderbetreuung, Gesundheitsvorsorge, Einkommenssteigerung und soziale Sicherheit sind, so der neue Ton aus Peking, keine Wohltätigkeiten mehr, sondern Teil eines neuen Wachstumsmodells, das China bis 2049 an die Spitze der Weltwirtschaft führen soll. Bis dahin, so Lu in einem Artikel vom November 2025, müsse es gelingen, den Anteil des Binnenmarktes auf 70 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen – das ist mehr als in den reichen Industrieländern heute. Wäre damit nicht der Schritt in den Konsumsozialismus geglückt?
Zauberstab der Dialektik
Dies ist insofern bemerkenswert, als der Westen gerade seine sozialstaatlichen Reste abstreift. Schon seit den späten 1970er-Jahren haben viele Länder Finanzmärkte dereguliert, Steuern und Sozialleistungen gesenkt. Der jetzt anstehende Sparkurs und die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters setzt diesen Kurs fort und erweckt den Eindruck, Sozialismus sei eine Sache von gestern. Er ist 1989 untergegangen. Nun aber gibt es in China plötzlich wieder einen alternativen Weg: Eine höchst erfolgreiche Volkswirtschaft, der Wachstumschampion der vergangen 50 Jahre, der Musterschüler des neueren Kapitalismus, legt einen sozialistischen Turn hin. Das ist nicht nur spektakulär, es ist auch nicht ohne dialektischen Witz. Denn China ist einst angetreten, um seinen Sozialismus in einen Kapitalismus zu verwandeln. Nun verwandelt es mit dem Zauberstab des Fünfjahresplanes den Kapitalismus erneut in einen Sozialismus.
Einer, der das immer schon geahnt hat, ist der Philosoph Boris Groys. Der hat sein Buch über Das kommunistische Postskriptum 2006 mit der etwas rätselhaften Bemerkung beendet, der Kommunismus sei so dialektisch, dass er nur dann kommunistisch sein könne, wenn er sein Gegenteil, den Kapitalismus, enthalte. Deshalb haben sich, so Groys, die kommunistischen Eliten in Peking und Moskau in den 1980er-Jahren auf ein kapitalistisches Experiment eingelassen. Bislang fragte man sich allerdings, mit welcher Absicht sie das gemacht haben sollen, denn das verrät uns Groys nicht. Nun aber wissen wir, dass es den Kommunisten immer darum ging, den Sozialismus auf höchster Stufe der Produktivkräfte wiederherzustellen. Dafür mussten sie einen kapitalistischen Umweg gehen. Nun, da ihr Aufstieg in der Produktionshierarchie geglückt ist, kann die KP wieder auf den alten kommunistischen Pfad einschwenken. Man kann nur staunen über so viel Weitsicht einer Partei, die offenbar nicht bloß in Fünf-, sondern 50-, oder gar 100-Jahresplänen denkt. Ihren 100. Geburtstag im Jahr 2049 hat die Volksrepublik China fest im Blick. Bis dahin soll China zur Weltmacht Nummer 1 aufgestiegen sein. Mit den Mitteln des Kapitalismus-Sozialismus. •
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