Christiane Tietz: „Man kann den ,Zarathustra' gar nicht richtig verstehen, wenn man sich nicht in der Bibel auskennt“
Am 25. August ist der 125. Todestag Friedrich Nietzsches, dem Urheber des berühmten Satzes: „Gott ist tot“. Wie hat das Christentum Nietzsches Denken geprägt? Und was bleibt heute von seiner Religionskritik? Ein Gespräch mit Theologin und Kirchenpräsidentin Christiane Tietz.
Frau Tietz, Sie sind Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und haben ein Buch über Nietzsches Leben und Denken im Bann des Christentums geschrieben. Was fasziniert ausgerechnet Sie an Friedrich Nietzsche?
Mich hat schon als Theologiestudentin fasziniert, dass sich Glaube und Denken miteinander verbinden lassen. Dass man also das, was in der christlichen Tradition geglaubt wird, durchaus verstehen, darüber nachdenken und kritische Fragen stellen kann. Dazu gehört, sich mit den Anfragen von Religionskritikern auseinanderzusetzen. Bei Nietzsche realisiert man dann als Theologin, dass es in der modernen Theologie auf seine berechtigten Anfragen auch andere Antworten als die Nietzsches gibt, die bekanntlich lautet, dass man nicht mehr an Gott glauben kann.
Und noch etwas?
Das zweite, was mich an der Arbeit an dem Buch fasziniert hat, war die Beobachtung, dass Nietzsche das Christentum nicht losließ. Er ist christlich aufgewachsen. Dann hat er es heftig kritisiert. Man hätte denken können, dass er sagt: „Jetzt habe ich das abgearbeitet, und jetzt wende ich mich anderen Themen zu.“ Das Erstaunliche ist, dass das nicht passiert, sondern dass er sich immer und immer wieder mit dem Christentum beschäftigt – bis zu seinen letzten sogenannten Wahnsinnszetteln, von denen er manche unterschreibt als „der Gekreuzigte“. Das fand ich biografisch unglaublich spannend. Und es ist noch ein dritter Punkt für mich aus der Perspektive der Kirchenpräsidentin wichtig. In unserer Gesellschaft gibt es viele Menschen, die nicht mehr an Gott glauben. Zu verstehen, aus welchen Hintergründen sie kommen und wie sie ihr Leben sehen, und sich damit auseinanderzusetzen und die Fragen ernst zu nehmen; das gehört für mich zu der Aufgabe einer Kirche dazu.
Was bedeutete das Thema der Religion für Friedrich Nietzsche?
Es ist vor allem die Auseinandersetzung mit dem Christentum, es ist also nicht die Religion allgemein. Er beschäftigt sich mit Problemen der Moralvorstellung des Christentums, wie er sie kennengelernt hat. Auch die Jenseitsvorstellung beschäftigt ihn. Inwiefern kann sie dazu führen, dass man aus dem Leben flieht? Schließlich ist da natürlich auch ein bestimmtes Gottesbild, was er in seiner Kindheit kennengelernt hat, mit dem er sich immer und immer wieder auseinandersetzt.
Welches Gottesbild wurde ihm denn im Elternhaus vermittelt?
Das Prägendste war nach meiner Wahrnehmung die Erfahrung der Krankheit seines Vaters. Er war Pfarrer und die Großväter waren Pfarrer. Er kommt also aus einer Pfarrerdynastie. Die Mutter war als Pfarrerstochter auch eben sehr fromm geprägt. Als Nietzsche klein war, wurde der Vater sehr krank und litt ein Jahr zuhause unter schwersten Kopfschmerzen und schrie vor Schmerzen. Nietzsche bekam das als kleines Kind mit. Der Vater starb, und da war Nietzsche noch keine fünf Jahre alt. Kurz darauf starb auch noch der kleine Bruder Nietzsches, er wurde keine zwei Jahre alt.
Wie wurde mit diesen Schicksalsschlägen in der Familie umgegangen?
Die Eltern haben das Ganze religiös geframed, könnte man sagen, sie haben das als Fügung oder Schickung Gottes verstanden. Die Mutter hat bis kurz vor dem Tod des Vaters gebetet, dass Gott den Vater gesund macht. Nachher, als der Vater gestorben war, hat sie es angenommen, aber eigentlich kritische Anfragen nicht zugelassen, sondern versucht, das in einer ganz ungebrochenen Frömmigkeit hinzunehmen. Bei Nietzsche merkt man, dass er sehr erschüttert ist über den Tod seines Vaters, und immer wieder Texte schreibt, aus denen man herausliest, wie sehr er den Vater vermisst. Da fängt Nietzsche an, sich zu fragen, ist denn Gott eigentlich so gut, wie das immer im Christentum behauptet wird.
Gibt es da schon einen ersten Text von Nietzsche aus der Jugend, der die christlichen Erziehungsinhalte hinterfragt?
Es gibt einen ganz spannenden Text. Er ist leider nicht erhalten, aber Nietzsche blickt später auf ihn zurück. In diesem ersten philosophischen Text habe er darüber nachgedacht, wie eigentlich die christliche Trinität zu verstehen sei. Gott denkt sich, in der Tradition Fichte und Hegels, selber und schafft den Sohn, also sich selbst, als Gegenüber. Gott muss, um sich zu denken, aber auch das Gegenteil seiner selbst denken. Also denkt Gott den Teufel. Also nicht der Heilige Geist, wie in der christlichen Tradition, sondern der Teufel gehört gleichursprünglich zur Trinität. Das Böse ist ein Teil Gottes. Damit zieht Nietzsche die ambivalente Welterfahrung in den Gottesgedanken hinein. Damit wird der Gottesgedanke brüchig.
Verleugnet er später, dass er als Jugendlicher und Kind geglaubt hat?
Das tut er an manchen Stellen. Ich nehme es so wahr, dass er sich im Rückblick deutlich früher als Atheist kennzeichnet, als er es war. Wenn man die Texte aus der Schulzeit liest, er war ja auf dem christlichen Internat „Schulpforta“, dann findet man noch viele Auseinandersetzungen mit frommen Motiven. Später stellt er es so dar, als wäre er da schon nicht mehr im christlichen Gedankengut unterwegs gewesen. Das ist aus meiner Sicht nicht richtig. Da stellte er zwar zunehmende Anfragen an den christlichen Glauben, aber die Kritik ist noch nicht so eindeutig, wie er das später beschreibt.
Geht Nietzsches gesamte Religionskritik auf ein Hadern mit seiner pietistischen Erziehung zurück?
Nein, denn sie hängt auch damit zusammen, dass er die historische Kritik von Texten kennenlernt. Im 19. Jahrhundert setze sich in der sogenannten liberalen Theologie die historisch-kritische Textforschung durch, in der neutestamentliche Texte auf ihre Entstehungsprozesse hin analysiert wurden, das vor allem auf die Frage hin: Kann man feststellen, was ursprünglich jesuanisch gewesen ist? Was hat Jesus selber gesagt und was haben die ersten Christen über Jesus gesagt? Es gab damals eine große Auseinandersetzung: Wer war dieser Jesus wirklich? Was ist vielleicht später dazugekommen? Das ist eine Auseinandersetzung, die Nietzsche kennenlernte und die zu seinem philologischen Interesse passt. Er hat auch Feuerbachs Das Wesen des Christentums gelesen, was man in seinen Schriften auch erkennt. Es ist also nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus.
Als Altphilologe war er auch Experte auf dem Gebiet alter Schriften...
Genau, das hat ihn sehr interessiert. Wie geht man mit Quellen um und wie analysiert man sie. Es gab damals bei vielen das Bibelverständnis, die Bibel sei Wort für Wort von Gott diktiert. Da ist die moderne Theologie differenzierter. Das kann er als Philologe nicht stehen lassen. Es gibt eine Stelle, wo er sagt: „Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte – und dass er es nicht besser lernte.“
Worum geht es in seinem Hauptwerk Also sprach Zarathustra?
Der Name Zarathustra spielt auf den Begründer der Zoroastrismus an, einen vorchristlichen Weisheitslehrer aus dem Iran. Nietzsche lässt Zarathustra bilderreiche, gleichnishafte „Reden“ über verschiedene Themen halten und Gespräche führen. In poetisch-prophetischer Sprache begegnen u.a. Kritik an der Moral, Gedanken zum Übermenschen oder zur ewigen Wiederkunft.
Wie viel Bibel steckt in diesem Werk?
Der Duktus des Textes atmet die Sprache von Martin Luthers Bibelübersetzung. Nietzsche macht Anspielungen auf Luthers Texte und bricht sie gleichzeitig. Es gibt beispielsweise den berühmten Satz von Jesus: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Nietzsche macht daraus: „Der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer.“ Zarathustra tritt außerdem wie ein Prophet auf und ist an vielen Stellen Jesus sehr ähnlich. Er hat Jünger, er zieht sich zurück, um dann wieder mal mit seinen Jüngern, mal mit allen Menschen zu sprechen. Zarathustra bringt ein Evangelium, und er zerbricht die alten Tafeln wie Mose im Alten Testament. Man kann den Zarathustra, glaube ich, gar nicht richtig verstehen, wenn man sich nicht in der Bibel auskennt.
War Zarathustra ein „besserer“ Jesus aus Nietzsches Sicht?
Ganz sicher. Das ist ja spannend bei Nietzsche. Obwohl er das Christentum so kritisiert, kann er mit Jesus viel anfangen. Für Nietzsche ist es ein großes Kompliment, dass jemand ein freier Geist ist, er sich also selbst bestimmen kann und nicht von jemand anderem abhängt. Das gesteht er auch Jesus zu. Er schreibt im Antichrist, dass Jesus „mit einiger Toleranz im Ausdruck“ ein freier Geist gewesen sei. Jesus musste zwar noch an etwas glauben, das war zwar falsch und das brauchte Zarathustra nicht mehr, aber Jesus hat etwas richtig gemacht, indem er gepredigt hat, dass es keine Distanz zwischen Gott und Mensch gibt, also dass das Himmelreich nicht etwas ist, wo man hinkommen muss, sondern, dass das Himmelreich schon da ist.
„Schon die ersten Christen verstanden Jesu Botschaft nicht“, ist Nietzsches These in „Der Antichrist“, schreiben Sie. Was hat das Christentum Nietzsche zufolge an Jesus Christus nicht verstanden?
Nietzsche sagt ja, diese ganze Lehre Jesu von der Feindesliebe, und dass man den Feind lieben soll und die andere Wange hinhalten soll, hänge bei Jesus damit zusammen, dass er keine Widerstandskraft hatte. In der von Jesus geforderten Feindesliebe zeige sich keine besonders hohe Moral, sondern er war von seiner psychischen Verfasstheit her überhaupt nicht in der Lage, zu kämpfen oder sich zu widersetzen. Das heißt auch, dass Jesus sich einfach in den Tod am Kreuz ergeben hat. Die Jünger Jesu hätten das aber nicht verstanden und hätten sich deshalb gefragt, warum Gott das eigentlich zugelassen hat. Sie hätten dann eine theologische Figur daraus gebaut: Jesus musste sterben für die Sünden der Menschen.
Christliche Nächstenliebe und Mitleid waren für Nietzsche Laster statt Tugenden. Was stört Nietzsche denn an diesen beiden Konzepten?
Es gibt Sachen, die ich gut nachvollziehen kann, die ihn stören, es gibt aber auch andere Sachen, die ich bei ihm schlimm finde. Recht hat er sicher, dass es eine Form von Mitleid gibt, die sich über den anderen erhebt und den anderen schwach halten will. Also da, wo man beim Mitleid denkt: Gut, dass ich der nicht bin, den ich da jetzt bemitleide. Oder bei der Nächstenliebe auch, dass die, die für andere da sind, sich daran ergötzen, dass andere sie brauchen.
Und die Kritik von Nietzsche, die Sie nicht nachvollziehen können?
Für Nietzsche ist die Nächstenliebe schlecht, weil dadurch der Schwache unterstützt wird. Da ist er der Meinung, dass bei denen, die nicht überleben können, eine natürliche Selektion zugelassen werden sollte. Er ist keiner, der sagt, alle Menschen haben das gleiche Lebensrecht, sondern er wendet sich ausdrücklich gegen die Gleichheit aller Menschen. Das ist für mich aus christlicher Sicht ein Gedanke, der nicht akzeptabel ist. Jeder Mensch braucht in bestimmter Weise Hilfe und alle sind gleich wertvoll. Es ist eben nicht nur der wertvoll, der sich selbst bestimmen kann und der stark ist.
Was macht denn das Christentum mit dem Individuum nach Nietzsche? Spielen da auch die Begriffe der Herren- und Sklavenmoral eine Rolle?
Das Problem mit der Nächstenliebe ist nach Nietzsche, dass das Individuum geschwächt wird, weil es sich nach den anderen ausrichten soll, anstatt nach sich selbst zu schauen. Die Starken haben eine Herrenmoral; sie sagen: Das, was für mich gut ist, das ist an sich gut. Wir erleben das zurzeit weltpolitisch ziemlich stark, dass das Berücksichtigen von anderen nicht mehr en vogue ist, sondern dass man sagt, was für mein Land gut ist, das ist an sich gut und moralisch integer. Diese Figur findet sich bei Nietzsche schon auch. Der Gedanke ist: Ich als Herr setze das Gute. Die Sklavenmoral haben diejenigen, die mit Ressentiments auf die Herren schaut, um das irgendwie selber zu verarbeiten. Es sind an sich unterschiedliche Moralen, die einen haben die Herrenmoral, die anderen die Sklavenmoral. Ich bin stattdessen für die Idee Kants, nach der wir eine Moral brauchen, die für alle Menschen auf die gleiche Weise gilt, also an einem kategorischen Imperativ orientiert ist.
Aber was kann man denn den Vertretern der Herrenmoral entgegensetzen?
Man muss deutlich hinterfragen, ob das Menschenbild, das Nietzsche transportiert, eigentlich ein akzeptables und gutes Menschenbild ist. Die Frage ist, ob wir in einer Welt leben wollen, in der die Herren und die Starken sich durchsetzen, oder ob wir in einer Welt leben wollen, in der auch auf die Schwachen Rücksicht genommen wird und sich der Wert eines Menschen nicht dadurch bestimmt, wie selbstbestimmt er sein und wie kraftvoll er sich verhalten kann.
Um sich einer Herrenmoral entgegenzustellen, gehört aber auch eine potente Haltung, oder?
Ja, richtig, aber genau das will Nietzsche nicht. Er ruft nicht zu einem Sklavenaufstand auf oder Ähnlichem.
Was bleibt von der Religionskritik Friedrich Nietzsches? Haben seine Argumente und ihre Sprachgewalt immer noch die Sprengkraft von „Dynamit“?
Für mich als Theologin und Kirchenpräsidentin gibt es eine ganze Reihe von Impulsen bei Nietzsche, die ich gerne aufnehme, damit das Christentum zu seinem Wesen kommt. Zum Beispiel kann ich der Kritik an einer Weltflucht, die bei Nietzsche zu lesen ist, vollkommen zustimmen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod darf nicht zu einer Weltflucht führen, sondern muss und kann zu einer Zuwendung zum Handeln in der Welt führen. Das sehen wir beispielsweise in der kirchlichen Diakonie, dort setzen sich Menschen für andere Menschen ein. Auch Nietzsches Kritik an der Vorstellung, die er zu Hause kennengelernt hat, dass alles, was in der Welt passiere, Lohn, Strafe oder Erziehung Gottes sei, finde ich berechtigt. So muss man als Christin aber auch nicht denken. Das Besondere ist ja gerade, dass Gott mit den Menschen nicht so umgeht, wie sie es verdienen, sondern gnädig ist. Das ist die Vorstellung der modernen evangelischen Theologie. Aus meiner Sicht können Nietzsches Gedanken dem Christentum dazu verhelfen, Fehler im christlichen Denken und falsche Frömmigkeitsformen zu vermeiden. •
Christiane Tietz ist seit 2025 Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Honorarprofessorin an der Universität Mainz. Ihr Buch „Nietzsche: Leben und Denken im Bann des Christentums“ ist jüngst im Beck-Verlag erschienen.