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Bild: © Primož Lukežič

Essay

Das Lügenparadox

Slavoj Žižek veröffentlicht am 25 April 2025 15 min

In der Politik nutzt man Lügen im Dienste einer höheren Wahrheit oder Wahrheiten, die man zur Lüge verdreht. Da scheint die Diagnose der Postfaktizität nicht weit. Doch wer den „Tod der Wahrheit“ beklagt, trauert eigentlich nur um eine große Lüge – und ist selbst der Wahrheit größter Feind, meint Slavoj Žižek. 

 

Das sogenannte Lügenparadox – Aussagen wie „Alles, was ich sage, ist falsch“ – wurde vom antiken Griechenland und Indien bis hin zur Philosophie des 20. Jahrhunderts endlos diskutiert. Das Problem ist, dass, wenn diese Aussage wahr ist, sie falsch ist (nicht alles, was ich sage, ist falsch) und umgekehrt. Jacques Lacan bietet für dieses Problem eine einzigartige Lösung an, indem er zwischen dem ausgesprochenen Inhalt einer Aussage und der durch diese Aussage implizierten subjektiven Haltung unterscheidet: zwischen dem Inhalt dessen, was man sagt, und der subjektiven Haltung, die durch das, was man sagt, vermittelt wird. Sobald wir diese Unterscheidung einführen, sehen wir sofort, dass eine Aussage wie „Alles, was ich sage, ist falsch“ selbst wahr oder falsch sein kann. „Ich lüge immer“ kann die subjektive Erfahrung meiner gesamten Existenz korrekt als unecht, als Fälschung darstellen. Das Gegenteil ist jedoch auch der Fall: Die Aussage „Ich weiß, dass ich ein Stück Scheiße bin“ kann an sich buchstäblich wahr sein, aber auf der Ebene der subjektiven Haltung, die sie vorgibt, falsch – sie impliziert, dass ich durch das Aussprechen dieser Aussage irgendwie demonstriere, dass ich nicht vollständig „ein Stück Scheiße“ bin, dass ich ehrlich zu mir selbst bin…Unsere Antwort darauf sollte eine Paraphrase des bekannten Spruchs von dem Schauspieler Groucho Marx sein: „Du benimmst dich wie ein Stück Scheiße und gibst zu, dass du ein Stück Scheiße bist, aber das wird uns nicht täuschen - du bist ein Stück Scheiße!"

 

Lügen im Dienste der Wahrheit

 

Warum Zeit mit solchen endlos diskutierten Paradoxien verschwenden? Weil in unserer „postfaktischen“ Ära des Rechtspopulismus die Praxis, sich auf solche Paradoxien zu stützen, ihren Höhepunkt erreicht hat: Der heutige politische Diskurs lässt sich nicht ohne die Unterscheidung zwischen Aussage und Äußerung verstehen. Nach der Wiederwahl von Trump im Jahr 2024 wandte sich Alexandria Ocasio-Cortez öffentlich an diejenigen ihrer Wähler, die auch für Trump gestimmt hatten. Sie bat sie, ihre seltsame und inkonsequente Entscheidung zu erklären. Dabei stellte sie fest, dass der vorherrschende Grund für ihr Wahlverhalten darin lag, dass sowohl sie als auch Trump – entgegen der manipulativen Berechnung von Kamala Harris und anderen Demokraten – beide als aufrichtiger wahrgenommen wurden. Genau aus diesem Grund helfen Trump selbst Enthüllungen über seine Widersprüche und Lügen: Seine Anhänger nehmen selbst seine Lügen als Beweis dafür, dass er sich wie ein normaler Mensch verhält, der sich nicht nur auf seine Fachberater verlässt, sondern unverblümt seine Meinung äußert. In unseren Begriffen sind die Ungereimtheiten und Lügen in den Aussagen Trumps ein Zeichen dafür, dass Trump auf der Ebene der Äußerung als authentischer und aufrichtiger Mensch spricht – ein Beweis dafür, dass auch die durch eine Äußerung implizierte Aufrichtigkeit eine Täuschung sein kann.

Die subjektive Wahrheit steht der faktischen Wahrheit entgegen, der Gegensatz ähnelt dem zwischen Hysterie und Zwangsneurose: Erstere ist eine Wahrheit in Form einer Lüge, Letztere eine Lüge in Form der Wahrheit. Heute praktizieren Populismus und PC (die linksliberale politische Korrektheit) genau diese beiden komplementären Formen der Lüge, die sich aus der Unterscheidung zwischen Hysterie und Zwangsneurose ergeben: Ein Hysteriker sagt die Wahrheit in Form einer Lüge (was er sagt, ist buchstäblich nicht wahr, aber die Lüge drückt in einer falschen Form eine authentische Beschwerde aus), während das, was ein Zwangsneurotiker behauptet, buchstäblich wahr ist, aber es ist eine Wahrheit, die einer Lüge dient. Populisten und politisch korrekte Liberale bedienen sich beider Strategien.

Sowohl Populisten als auch PC-Liberale bedienen sich bewusst faktischer Lügen, wenn diese dem dienen, was sie als höhere Wahrheit wahrnehmen. Religiöse Fundamentalisten etwa befürworten das „Lügen für Jesus“: Um das schreckliche Verbrechen der Abtreibung zu verhindern, darf man falsche wissenschaftliche „Wahrheiten“ über das Leben von Föten und die medizinischen Gefahren der Abtreibung verbreiten; um das Stillen zu unterstützen, darf man als wissenschaftliche Tatsache darstellen, dass der Verzicht auf das Stillen Brustkrebs verursacht und so weiter. Gewöhnliche populistische Einwanderungsgegner verbreiten schamlos nicht verifizierte Geschichten über Vergewaltigungen und andere Verbrechen von Flüchtlingen, um ihrer „Erkenntnis“, dass Flüchtlinge eine Bedrohung für unsere Lebensweise darstellen, Glaubwürdigkeit zu verleihen.

 

Wahrheiten im Dienste der Lüge

 

Allzu oft gehen PC-Liberale ähnlich vor: Sie verschweigen tatsächliche Unterschiede in den „Lebensweisen“ zwischen Flüchtlingen und Europäern, da ihre Erwähnung als Förderung des Eurozentrismus angesehen werden könnte. Erinnern Sie sich an den Fall Rotherham im Vereinigten Königreich, wo die Polizei vor etwa zehn Jahren entdeckte, dass eine Gruppe pakistanischer Jugendlicher systematisch über tausend arme weiße junge Mädchen vergewaltigte – die Daten wurden ignoriert oder heruntergespielt, um keine Islamophobie auszulösen…

Die gegenteilige Strategie – die der Lüge im Gewand der Wahrheit – wird ebenfalls auf beiden Seiten weitverbreitet praktiziert. Einwanderungsfeindliche Populisten verbreiten nicht nur faktische Lügen, sondern nutzen auch geschickt Teile der faktischen Wahrheit, um ihrer rassistischen Lüge den Anschein der Wahrhaftigkeit zu verleihen. Auch die PC-Parteigänger bedienen sich dieser Taktik – nur in umgekehrter Richtung: In ihrem Kampf gegen Rassismus und Sexismus zitieren sie meist reale Fakten, verdrehen sie aber oft in eine falsche Richtung. Der populistische Protest verschiebt die authentische Frustration und das Gefühl des Verlusts auf den äußeren Feind, während die PC-Linke ihre wahren Argumente (Aufdeckung von Sexismus und Rassismus in der Sprache usw.) nutzt, um ihre moralische Überlegenheit zu bekräftigen und so echte sozioökonomische Veränderungen zu verhindern.

Die größte Ironie dabei ist, dass die populistische Rechte den historistischen Relativismus viel brutaler praktiziert als die Linke, obwohl sie ihn in ihrer Theorie verurteilt. Die rechte Haltung besteht jedoch nicht einfach darin, an der faktischen Wahrheit festzuhalten: In gewisser Weise gibt es „alternative Fakten“ – allerdings nicht im Sinne eines völligen Wahrheitsrelativismus, etwa in der Frage, ob der Holocaust stattgefunden hat oder nicht. „Daten“ sind ein riesiges und undurchdringliches Gebiet, und wir nähern uns ihnen immer aus einem (wie die Hermeneutik es nennt) bestimmten Verständnishorizont, wobei wir einige Daten bevorzugen und andere auslassen. All unsere Geschichten sind genau das – Geschichten, eine Kombination von (ausgewählten) Daten zu konsistenten Erzählungen, keine fotografischen Reproduktionen der Realität. Ein antisemitischer Historiker könnte beispielsweise leicht einen Überblick über die Rolle der Juden im gesellschaftlichen Leben Deutschlands in den 1920er-Jahren schreiben und darauf hinweisen, dass ganze Berufsgruppen (Anwälte, Journalisten, Künstler) zahlenmäßig von Juden dominiert wurden – alles (wahrscheinlich mehr oder weniger) wahr, aber eindeutig im Dienste einer Lüge. Die effizientesten Lügen sind Lügen mit Wahrheit, Lügen, die nur faktische Daten reproduzieren. 

 

Die Perspektive des Leids und ihre Wahrheit


Nehmen wir die Geschichte eines Landes: Man kann sie aus politischer Sicht erzählen (und den Fokus dabei auf die Launen der politischen Macht legen), man kann sich auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren, auf ideologische Kämpfe, auf das Elend und den Protest der Bevölkerung... jeder dieser Ansätze könnte faktisch korrekt sein, aber sie sind nicht im gleichen Sinne „wahr“. Es ist nichts „Relativistisches“ daran, dass die Geschichte der Menschheit immer von einem bestimmten Standpunkt aus erzählt wird, getragen von bestimmten ideologischen Interessen. Die Schwierigkeit besteht darin, zu zeigen, dass diese interessengeleiteten Standpunkte letztlich nicht alle gleichermaßen wahr sind – einige sind „wahrheitsgetreuer“ als andere. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Nazi-Deutschland: Wenn man sie aus der Perspektive des Leids erzählt, das die Unterdrückten erfahren haben – d.h. wenn man sich bei der Erzählung von einem Interesse an der universellen menschlichen Emanzipation leiten lässt  – , ist dies nicht nur eine Frage des subjektiven Standpunkts. Eine solche Nacherzählung der Geschichte ist auch immanent „wahrer“, da sie die Dynamik der gesellschaftlichen Totalität, die den Nationalsozialismus hervorgebracht hat, angemessener beschreibt. Nicht alle „subjektiven Interessen“ sind gleich. Und das nicht nur, weil einige aus ethischer Sicht vorzuziehen sind, sondern weil „subjektive Interessen“ nicht außerhalb der gesellschaftlichen Totalität stehen. Sie sind selbst Bestandteile dieser Gesamtheit und werden geformt von aktiv (oder passiv) teilnehmenden Individuen an den sozialen Prozessen. Deshalb gibt es keinen „neutralen“ oder „objektiven“ Bericht über den Krieg im Nahen Osten oder über die russische Aggression gegen die Ukraine: Die Wahrheit darüber kann nur aus der engagierten Perspektive eines Opfers erzählt werden.

Der Titel von Habermas‘ frühem Meisterwerk Erkenntnis und Interesse ist heute vielleicht aktueller denn je. Um diese Dimension weiter zu vertiefen, sollten wir einen anderen Begriff heranziehen, der in der heutigen Ideologieanalyse eine entscheidende Rolle spielt: den von Robert Pfaller eingeführten Begriff der „Interpassivität“. Interpassivität ist das Gegenteil von Hegels Begriff der „List der Vernunft“, bei dem ich durch den anderen aktiv bin. Das heißt: Ich kann passiv bleiben und bequem im Hintergrund sitzen, während der andere für mich aktiv wird. Anstatt mit einem Hammer auf Metall zu schlagen, kann die Maschine das für mich tun; anstatt die Mühle selbst zu drehen, kann das Wasser dies tun. Ich erreiche mein Ziel, indem ich zwischen mich und den Gegenstand, an dem ich arbeite, einen weiteren Naturgegenstand stelle. Das funktioniert auf zwischenmenschlicher Ebene gleichermaßen: Statt meinen Feind direkt anzugreifen, stifte ich einen Kampf zwischen ihm und einer anderen Person an, sodass ich bequem beobachten kann, wie die beiden sich gegenseitig zerstören. Im Falle der Interpassivität hingegen bin ich durch den anderen passiv: Ich gestehe dem anderen den passiven Aspekt (also das Genießen) meiner Erfahrung zu, während ich aktiv beschäftigt bleiben kann (ich kann abends weiterarbeiten, während der Videorekorder passiv für mich genießt; ich kann finanzielle Vorkehrungen für das Vermögen des Verstorbenen treffen, während die Weinenden für mich trauern).

 

Passivität statt Pseudoaktivität


Dies bringt uns zum Begriff der falschen Aktivität: Menschen handeln nicht nur, um etwas zu verändern. Sie können auch handeln, um ein Geschehen zu verhindern, sodass sich nichts ändert. Darin liegt die typische Strategie des Zwangsneurotikers: Er ist krampfhaft aktiv, um die eigentliche Sache zu verhindern. Nehmen wir zum Beispiel eine Gruppensituation, in der eine Spannung zu eskalieren droht. Der Zwanghafte redet die ganze Zeit, um den unangenehmen Moment der Stille zu verhindern, der die Teilnehmer dazu zwingen würde, die zugrunde liegende Spannung offen anzusprechen. In der psychoanalytischen Behandlung reden Zwangsneurotiker ständig und überschütten den Analytiker mit Anekdoten, Träumen und Erkenntnissen: Ihre unaufhörliche Aktivität wird angetrieben durch die unterschwellige Angst, dass der Analytiker ihnen die eigentlich entscheidende Frage stellen wird, wenn sie für einen Moment aufhören zu reden – mit anderen Worten, sie reden, um den Analytiker bewegungsunfähig zu machen. Selbst in weiten Teilen der heutigen progressiven Politik besteht die Gefahr nicht in Passivität, sondern in Pseudoaktivität: Es gibt den Drang, aktiv zu sein und sich zu beteiligen, ohne die eigentlichen Probleme anzugehen. Menschen mischen sich ständig ein und versuchen, „etwas zu tun“, Akademiker beteiligen sich an bedeutungslosen Debatten; das wirklich Schwierige ist, einen Schritt zurückzutreten und sich da rauszuziehen.

Die Mächtigen ziehen dem Schweigen oft sogar eine kritische Beteiligung vor. Doch nur, um uns in einen Dialog zu verwickeln und sicherzustellen, dass unsere bedrohliche Passivität durchbrochen wird. Die endlose Betonung, dass es notwendig sei zu handeln, etwas zu tun, gibt die subjektive Haltung preis, nichts zu tun. Je mehr wir über die drohende ökologische Katastrophe sprechen, desto weniger sind wir zum Handeln bereit. Gegen solch einen interpassiven Modus, in dem wir ständig aktiv sind, um sicherzustellen, dass sich nichts wirklich ändert, ist der erste, wirklich kritische Schritt, sich in die Passivität zurückzuziehen und die Teilnahme zu verweigern. Dieser erste Schritt bereitet den Boden für eine echte Aktivität, für eine Handlung, die die Koordinaten der Konstellation effektiv verändern wird.

Noch komplexer wird es beim Prozess des Sich-Entschuldigens: Wenn ich jemanden mit einer unhöflichen Bemerkung verletze, ist es das Richtige, mich aufrichtig zu entschuldigen. Ebenso ist es für die andere Person angemessen, etwas wie „Danke, ich weiß das zu schätzen, aber ich war nicht beleidigt, ich wusste, dass du es nicht so gemeint hast. Du schuldest mir wirklich keine Entschuldigung!“ zu sagen. Der Punkt ist natürlich: Obwohl man zu dem Ergebnis kommt, dass keine Entschuldigung nötig wäre, muss der gesamte Prozess des Anbietens dennoch durchlaufen werden. Die Aussage „Du schuldest mir keine Entschuldigung“ kann nur gesagt werden, nachdem eine Entschuldigung angeboten wurde. So wird – obwohl formal ‚nichts passiert‘ – das Angebot einer Entschuldigung für unnötig erklärt. Doch am Ende des Prozesses steht ein Gewinn (vielleicht wird sogar die Freundschaft gerettet) – eine Entschuldigung ist also genau dann erfolgreich, wenn sie für überflüssig erklärt wird. Eine ähnliche Strategie wird bei Entschuldigungen angewandt, bei denen ein schnelles Eingeständnis als Vorwand dienen kann, um eine echte Entschuldigung zu vermeiden („Ich habe gesagt, dass es mir leidtut, also halt die Klappe und hör auf, mich zu nerven!“).

 

„Gute“ Gerüchte als Auslöser der Revolution


Die Kommunistische Partei Chinas (neben vielen anderen politischen Akteuren) lieferte ein ähnliches Modell zur Manipulation der Kluft zwischen Äußerung und Aussage. Die Chinesen hatten die Lektion aus Gorbatschows Scheitern gelernt: Die vollständige Anerkennung der „Gründungsverbrechen“ wird nur das gesamte System zum Einsturz bringen. Diese Verbrechen müssen daher geleugnet werden. Zwar werden einige maoistische „Exzesse“ und „Fehler“ angeprangert (der „Große Sprung nach vorn“ und die darauffolgende verheerende Hungersnot; die Kulturrevolution). Auch Dengs Einschätzung von Maos Rolle (70 Prozent positiv, 30 Prozent negativ) wird als offiziell anerkannt. Aber diese Einschätzung fungiert als formale Konklusion, die jede weitere Ausarbeitung überflüssig macht: Selbst wenn Mao zu 30 Prozent schlecht war, wird die volle symbolische Wirkung dieses Eingeständnisses neutralisiert, sodass er weiterhin als Gründungsvater der Nation gefeiert werden kann, mit seinem Körper in einem Mausoleum und seinem Porträt auf jeder Banknote. Wir haben es hier mit einem klaren Fall von fetischistischer Verleugnung zu tun: Obwohl wir sehr wohl wissen, dass Mao Fehler begangen und unermessliches Leid verursacht hat, bleibt seine Person davon auf magische Weise unbefleckt. Auf diese Weise können die chinesischen Kommunisten beides haben: Die radikalen Veränderungen, die die wirtschaftliche Liberalisierung herbeigeführt hat, werden mit derselben Parteiregierung wie zuvor fortgesetzt. Das Verfahren ist hier das der Neutralisierung: Man gibt schreckliche Dinge zu, verbietet aber jede subjektive Reaktion (also das Entsetzen darüber, was geschehen ist) – Millionen von Toten werden zu einer bloßen Tatsache. Wenn heute israelische (und westliche) Medien über die Zerstörung des Gazastreifens berichten, praktizieren sie nicht eine ähnliche Neutralisierung? Die Hamas-Terroristen foltern und töten, während die Opfer der IDF einfach liquidiert oder vernichtet werden...

Dann gibt es Gerüchte, die hinsichtlich der Wahrheit auf seltsame Weise funktionieren: Die Tatsache selbst, die faktische Wahrheit eines Gerüchts, wird in der Schwebe gehalten (oder vielmehr als gleichgültig behandelt – „Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber das habe ich gehört...“), während der Inhalt eines Gerüchts seine volle symbolische Wirksamkeit behält – wir genießen sie und erzählen sie mit Leidenschaft weiter. Es ist also nicht dasselbe wie die fetischistische Verleugnung („Ich weiß sehr wohl, dass es nicht wahr ist, aber dennoch..., ich glaube daran“), sondern wiederum ihre Umkehrung, so etwas wie: „Ich kann nicht sagen, dass ich dies für wahr halte, dass dies wirklich passiert ist, aber dennoch... hier ist, was ich weiß.“ Was die Ausübung von Macht betrifft, ist der Raum der Gerüchte zweideutig: „Schmutzige“ Gerüchte können Macht und Autorität stützen (von Atatürk bis Tito). Zugleich spielen Gerüchte aber oft eine entscheidende Rolle bei Unruhen und revolutionären Aufständen, einschließlich migrantenfeindlicher Revolten –  In Europa kursieren derzeit Gerüchte über Vergewaltigungen durch Migranten und darüber, wie Behörden die Nachrichten über diese Vergewaltigungen zensieren. Dabei gibt es aber auch Gerüchte, die man als „gute Gerüchte“ bezeichnen könnte und die notwendig sind, um einen revolutionären Ausbruch auszulösen. Ein Beispiel hierfür ist die Große Furcht (Grande Peur), die allgemeine Panik, die zwischen dem 17. Juli und dem 3. August 1789 zu Beginn der Französischen Revolution herrschte. Sie bestand aus gewalttätigen Bauernaufständen, die durch die wirtschaftliche Lage und Gerüchte über konterrevolutionäre Angriffe ausgelöst wurden.

 

Der Zerfall der Großen Lüge


Ich kann nicht widerstehen, dieser Liste einen einzigartigen Fall aus der Filmgeschichte hinzuzufügen: Die Spannung zwischen einem kommunistischen Engagement und der Faszination für das Inzestuöse kennzeichnet das einzigartige filmische Werk von Luchino Visconti; dieses inzestuöse Ding hat sein eigenes politisches Gewicht, als dekadente jouissance (d.h. unmittelbare Befriedigung) der alten herrschenden Klassen im Verfall. Zwei herausragende Beispiele dieser tödlichen Faszination sind der offensichtliche Tod in Venedig und das weniger bekannte, aber künstlerisch überlegene, frühere Schwarz-Weiß-Meisterwerk Vaghe stelle dell‘Orsa (im Deutschen: Sandra), ein Juwel des Kammerkinos. Beide Filme haben nicht nur die verbotene „private“ Leidenschaft gemeinsam, die mit dem Tod endet (die Leidenschaft des Komponisten für den schönen Jungen in Venedig, die inzestuöse Leidenschaft von Bruder und Schwester in Vaghe stelle dell‘Orsa). In beiden Fällen existiert eine Dualität des linken politischen Engagements des Künstlers – Visconti war bis zu seinem Tod Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei – und seiner Faszination für die dekadente jouissance, die Freude am Schmerz, der herrschenden Klasse im Verfall. Diese Dualität fungiert hier als einfache Trennung zwischen Aussage und Äußerung –  als ob Visconti, in bester Manier prüder puritanischer Revolutionäre, öffentlich verurteilt, was er persönlich genießt und was ihn fasziniert. Damit wird die sehr öffentliche Befürwortung der Notwendigkeit, die Herrschaft der alten herrschenden Klasse abzuschaffen, zu einem Instrument „transfunktionalisiert“, das dekadente Lust am Schmerz bietet, im Anblick des eigenen Verfalls. Gilt das nicht auch für Dystopien wie The Handmaid‘s Tale? Sind wir nicht insgeheim fasziniert von den detaillierten Darstellungen weiblicher Unterdrückung, die wir, natürlich, alle verurteilen?

Gerüchte scheinen perfekt zur heutigen Zwangslage zu passen, die für viele Menschen in dem „Tod der Wahrheit“ besteht – eine Charakterisierung, die offensichtlich falsch ist. Diejenigen, die diesen Begriff verwenden, implizieren, dass sich die Wahrheit früher (etwa bis in die 1980er-Jahre) trotz aller Manipulationen und Verzerrungen irgendwie durchgesetzt habe und dass der „Tod der Wahrheit“ ein relativ neues Phänomen sei. Schon ein kurzer Überblick zeigt, dass dies nicht der Fall ist: Wie viele Menschenrechtsverletzungen und humanitäre Katastrophen blieben unsichtbar, vom Vietnamkrieg bis zur Invasion des Irak? Denken Sie nur an die Zeiten von Reagan, Nixon, Bush... Der Unterschied bestand nicht darin, dass die Vergangenheit „wahrheitsgetreuer“ war, sondern dass die ideologische Hegemonie viel stärker war – sodass anstelle des heutigen größeren Durcheinanders lokaler „Wahrheiten“ im Grunde eine „Wahrheit“ (oder vielmehr eine große Lüge) vorherrschte. Im Westen war dies die liberal-demokratische Wahrheit (mit einer linken oder rechten Wendung). Was heute geschieht, ist, dass mit der populistischen Welle, die das politische Establishment erschüttert hat, auch die Wahrheit/Lüge, die als ideologische Grundlage dieses Establishments diente, in sich zusammenfällt. Und der eigentliche Grund für diesen Zerfall ist nicht der Aufstieg des postmodernen Relativismus, sondern das Versagen des herrschenden Establishments, das nicht mehr in der Lage ist, seine ideologische Hegemonie aufrechtzuerhalten.

Wir können jetzt sehen, was diejenigen, die den „Tod der Wahrheit“ beklagen, wirklich bedauern: den Zerfall einer großen Geschichte, die mehr oder weniger von der Mehrheit akzeptiert wurde und der Gesellschaft ideologische Stabilität verlieh. Das Geheimnis derer, die den „historischen Relativismus“ verfluchen, ist, dass sie die sichere Situation vermissen, in der eine große Wahrheit (auch wenn es eine große Lüge war) allen die grundlegende „kognitive Landkarte“ lieferte. Kurz gesagt sind diejenigen, die den „Tod der Wahrheit“ beklagen, die wahren und radikalsten Verursacher dieses Todes: Ihr implizites Motto ist das, das Goethe zugeschrieben wird: „Besser Unrecht als Unordnung“, besser eine große Lüge als die Realität einer Mischung aus Lügen und Wahrheiten. Wenn wir also hören, dass unsere Gesellschaft mit dem anhaltenden „Zusammenbruch des Informationsökosystems“ auseinanderbricht, sollten wir uns darüber im Klaren sein, was das bedeutet: Nicht nur, dass es viele Fake News gibt, sondern dass die Große Lüge zerfällt, die unseren sozialen Raum bisher zusammengehalten hat. Der „Tod der Wahrheit“ eröffnet somit die Möglichkeit für eine neue authentische Wahrheit – oder für eine noch schlimmere Große Lüge. Geschieht dies nicht heute, mit dem Rückzug der liberalen Demokratie, die Schritt für Schritt von verschiedenen Formen des neuen Faschismus überschattet wird, vom neofeudalen Populismus bis hin zum religiösen Autoritarismus?•

Bei dem Text handelt es sich um eine Langversion des im Heft erschienenen Artikels.

Slavoj Žižek gehört zu den einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Er forscht an der Universität Ljubljana und ist internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London. In zahlreichen Büchern legte er seine von Hegel, Marx und Lacan inspirierten Analysen der politischen Gegenwart dar. Sein Buch „Christlicher Atheismus“ ist gerade bei S. Fischer erschienen.

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