Das Unbehagen in der Theorie
Die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft ist nicht durch Krisen überfordert, sondern durch sich selbst, erklärt der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch Unbehagen. Eine Rezension von Thorsten Jantschek.
Wer nach eineinhalb Jahren Pandemie in einer überforderten Gesellschaft Unbehagen diagnostiziert, erntet sicherlich zustimmendes, mechanisches Wackeldackelnicken. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hievt jedoch die massenhaft geteilten Überforderungserfahrungen auf die Ebene der Gesellschaftstheorie, begegnet ihnen mit einer Frage seiner Studierenden: „Wie können Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint?“ Diese schwierige Frage holt die klassische Theodizee vom Himmel auf die Erde, doch der Autor gibt eine verblüffend einfache Antwort: Es liegt an der Grundkonstellation der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft selbst.
Gerade am Umgang mit Covid zeige sich, dass die Gesellschaft nicht als eine vollständig integrierbare Kollektivität aufgefasst werden kann. Hier die Logik der Wirtschaft, dort die Berechnungen der Virologen, Politikerinnen wollen dies, Kultur- und Bildungsinstitutionen das Gegenteil. Trotz erstaunlicher Leistungsfähigkeit in einzelnen Bereichen, etwa bei der Erfindung der Corona-Impfstoffe, kommt Handeln aus einem Guss nicht zustande. Auch die Beschwörung von Gemeinschaft und Solidarität stelle ein solches nicht her, weil unterschiedliche Funktionslogiken gleichzeitig eigenen Rationalitätskriterien folgen. Die Gesellschaft – so die Diagnose – ist nicht durch die Krisen überfordert, sondern durch sich selbst.
Nassehi lässt seine systemtheoretischen Kategorien schnurren wie in einem Präzisionsuhrwerk und entfaltet Schicht um Schicht gesellschaftlicher Krisenerfahrung. Dabei gewinnt er ein erfrischend realistisches Bild unserer deliberativen Möglichkeiten und Grenzen. Dass man Menschen mitunter durch eine Bratwurst leichter zur Impfung bekommt als mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments, ist für Nassehi keineswegs erschütternd: „In überspitzter Diagnose könnte man sagen: Vielleicht ist Verhaltensänderung in ästhetisch-konsumähnlicher Form leichter, als wenn es sich um das Ergebnis von Aufklärung und Überzeugung handelt.“
Fühlende Systeme
So weit, so brillant. Aber Nassehi geht es nicht allein darum, gesellschaftliche Krisenerfahrungen auszuleuchten. Vielmehr soll eine Theorie der Gesellschaft und der Vergesellschaftung entstehen, bei der nicht am Ende doch der Einzelne der Gesellschaft gegenübersteht, wie bei Sigmund Freud, der das „Unbehagen in der Kultur“ in der Überforderung des Ichs durch die Normen des Über-Ichs erkannte. Folgerichtig setzt Nassehi direkt bei der Gesellschaft im Ganzen an. Sie ist es, die eigentlich überfordert ist. Sie erfährt Unbehagen. Individuelles Unbehagen wird zum bloßen Symptom herabgestuft. Als überforderungserfahrenes Gesellschaftsmitglied wird man hier stutzig. Phänomene wie Überforderung oder Unbehagen sind doch wohl vom Individuum aus und nicht von der Gesellschaft als Ganzes zu denken.
Zwar lässt sich von einem System sagen, es sei überfordert, etwa das Abwasserrohrsystem bei Starkregen. Aber diese „technische“ Überforderung ist gegenüber der in sozialen Kontexten substanziell verschieden: Hier tritt nämlich eine genuine Erlebnisqualität hinzu, Stress, feuchte Hände, Unausgeglichenheit, etwas, das man unmittelbar spürt. Diese Erlebnisqualität kann Nassehi nur als Derivat technischer Überforderung anlegen, was die alltäglichen Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. Das gilt auch für das Unbehagen, das Nassehi zentral der Gesellschaft zuspricht. „Unbehagen“ ist aber ein Empfindungsbegriff, der auf Systeme allenfalls metaphorisch angewandt werden kann. Als sei ihm der blinde Fleck seiner Theorie bewusst, erklärt Nassehi Unbehagen zu einer Systemeigenschaft, die nicht in Krisen oder als Ursache von Krisen entsteht, ja überhaupt nicht präsent sein muss, sondern „in der Struktur des Gesellschaftlichen selbst“ gründet.
Es hat aber dennoch keinen Sinn, von der Gesellschaft zu sagen, ihr sei unbehaglich, weil die Gesellschaft nichts empfinden kann. Man sagt ja auch nicht von einem Abwassersystem, es habe schlechte Laune. So erzeugt diese Theorie, die bei der Krisenbeschreibung beeindruckend viel leistet, am Ende nicht wackeldackelhafte Zustimmung, sondern ein klitzekleines: Unbehagen. •
Armin Nassehi
Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft
C. H. Beck, 384 S., 26 €