Der Amateurphilosoph aus dem Pentagon
Donald Rumsfeld ist letzte Woche verstorben. Slavoj Žižek erklärt in seinem Nachruf, warum der einstige US-Verteidigungsminister ein katastrophaler Politiker war, wir ihn dennoch als Amateur-Philosophen in Erinnerung behalten sollten, mit dessen Denken man Pandemie und Klimakrise besser versteht.
Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister während der ersten Amtszeit George W. Bushs und einer der Architekten der amerikanischen Irak-Invasion, ist am 30. Juni im Alter von 88 Jahren gestorben. Man wird ihn vor allem ob der katastrophalen Folgen des Irak-Kriegs in Erinnerung behalten. Das erklärte Ziel der amerikanischen Militärintervention war nicht nur, die Gefahr der irakischen Massenvernichtungswaffen zu bannen (von denen während der Okkupation keine gefunden wurden), sondern auch den Irak in einen modernen säkularen Staat zu verwandeln, der den Einfluss Irans eindämmen würde. Das Ergebnis bestand schließlich darin, dass der Iran zum größten Einfluss im Irak avancierte, der islamische Fundamentalismus an Bedeutung gewann, die meisten Christen aus dem Land flohen, Frauen aus dem öffentlichen Leben gedrängt wurden und der IS als Produkt des irakischen Chaos entstand.
Wie lässt sich solch eine kolossale Fehleinschätzung erklären? Hier kommt die Philosophie ins Spiel. Im März 2003 erprobte sich Rumsfeld in einer Art Amateur-Philosophie zum Verhältnis von Wissen und Unwissen: „Es gibt bekanntes Wissen (known knowns). Das sind Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Es gibt bekanntes Unwissen. Das heißt, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Aber es gibt ebenso unbekanntes Unwissen (unknown unknowns). Das sind Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.” Was Rumsfeld jedoch vergaß, war die entscheidende vierte Kategorie: das unbekannte Wissen (unknown knowns), Dinge also, von denen wir nicht wissen, dass wir sie wissen – was ziemlich genau dem Freud’schen Unbewussten entspricht, dem „Wissen, das um sich selbst nicht weiß“, wie Lacan es nannte. Wenn Rumsfeld dachte, dass die Hauptgefahren bei der Auseinandersetzung mit dem Irak im unbekannten Unwissen (unknown unknowns) lägen, also jenen Bedrohungen durch Saddam, von denen wir noch gar nichts ahnen, hätte unsere Antwort darauf lauten sollen, dass die tatsächlichen Gefahren vielmehr im Gegenteil liegen: im unbekannten Wissen (unknown knowns), den verleugneten Annahmen und Überzeugungen, bei denen uns gar nicht bewusst ist, dass wir ihnen anhängen.
Diese Unterscheidung zwischen unbekanntem Unwissen (unknown unknowns) und unbekanntem Wissen (unknown knowns) ist heute relevanter denn je. Im Bereich der Ökologie sind es unsere verleugneten Annahmen und Überzeugungen, die uns davon abhalten, die kommende Katastrophe wirklich ernst zu nehmen. Und ohne die Hilfe von Rumsfelds Epistemologie können wir auch die verbreitete Reaktion auf die anhaltende Pandemie nicht verstehen. Im April 2020 bemerkte Jürgen Habermas in Reaktion auf den Ausbruch der Covid-19-Pandemie, dass „sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig [verbreitet], und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst. [...] So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.” Und er hatte recht, dass dieses Nichtwissen nicht einfach nur für die Pandemie selbst gilt – für diese gibt es ja zumindest Experten –, sondern vielmehr noch für ihre ökonomischen, sozialen und psychischen Konsequenzen. Man beachte die präzise Formulierung: Es ist nicht nur so, dass wir nicht wissen, was passiert, sondern, dass wir wissen, dass wir es nicht wissen. Und dieses Nichtwissen ist selbst eine soziale Tatsache, eingeschrieben in die Art und Weise, wie unsere Institutionen handeln.
Freiheit als Wissen um das Nichtwissen
Heute wissen wir, dass Menschen im Mittelalter oder in der Frühmoderne weit weniger wussten, aber sie selbst waren sich dessen nicht bewusst, weil ihr Denken auf einem stabilen ideologischen Fundament beruhte, das das Universum als bedeutungsvolles Ganzes verstand. Das Gleiche gilt für einige Spielarten kommunistischer Zukunftsvisionen, ja selbst für Francis Fukuyamas Idee vom „Ende der Geschichte“: Sie alle gingen davon aus, dass sie wussten, in welche Richtung sich die Geschichte bewegt. Habermas lag zudem auch darin richtig, die aktuelle Unsicherheit in „den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst“ zu verorten. Unsere Verbindung mit dem vernetzten Universum erweitert unser Wissen auf äußerste Weise, erzeugt gleichzeitig aber auch eine extreme Unsicherheit (Wurden wir gehackt? Wer kontrolliert unseren Zugang? Handelt es sich um Fake News?). Die fortlaufenden Entdeckungen über ausländische Hackerangriffe auf amerikanische Regierungsinstitutionen und Großunternehmen veranschaulichen diese Unsicherheit: Amerikaner können nicht einmal das Ausmaß und die Methoden dieser Hacker-Angriffe bestimmen. Die virale Bedrohung ist nicht nur biologisch, sondern auch digital.
Es ist kein Geheimnis, was nun getan werden muss – Greta Thunberg hat es bereits klargemacht. Erstens müssen wir die pandemische Krise als das erkennen, was sie ist: ein Teil einer globalen Krise unseres Way of Life, von der Ökologie bis hin zu neuen sozialen Fragen. Zweitens sollten wir neue Formen zur Kontrolle und Regulierung der Wirtschaft einführen. Drittens sollten wir der Wissenschaft folgen, aber ohne ihr einfach die Entscheidungen zu überlassen. Warum nicht? Hier muss man nochmal auf Habermas zurückkommen: Unser Dilemma besteht darin, dass wir gezwungen sind zu handeln, während wir wissen, dass wir das Koordinatensystem unserer aktuellen Situation gar nicht vollständig überblicken – bloßes Nicht-Handeln aber auch eine Form von Handeln wäre. Ist das jedoch letztlich nicht die Grundkonstellation jeder Handlung? Unser großer Vorteil liegt darin, dass wir wissen, wieviel wir nicht wissen, und gerade dieses Wissen um unser Nichtwissen eröffnet einen Freiheitsraum. Wir handeln, weil wir die Situation nicht komplett übersehen können, aber das dürfen wir nicht einfach als Begrenzung verstehen. Was uns Freiheit verleiht, ist die Tatsache, dass die Situation – zumindest innerhalb der sozialen Sphäre – selbst offen, also nicht komplett (vorher-)bestimmt ist.
Wir sollten Habermas Bemerkung, dass wir noch nie so viel Wissen über unser Nichtwissen hatten, nun durch Rumsfelds Kategorien betrachten. Die Pandemie erschütterte das, was wir (dachten, dass wir) wissen, das wir wissen. Sie offenbart uns, was wir nicht wissen, was wir nicht wissen. Und bei der Art, wie wir auf die Pandemie reagiert haben, setzten wir auf das, von dem wir nicht wissen, dass wir es wissen (all die Annahmen und Vorurteile, die unser Handeln bestimmen, obwohl wir uns ihrer gar nicht bewusst sind). Wir haben es hier nicht einfach mit dem Übergang vom Nichtwissen zum Wissen zu tun, sondern mit dem komplizierteren Übergang vom Nichtwissen zum Wissen darüber, was wir nicht wissen – unser positives Wissen bleibt bei diesem Prozess dasselbe, aber es entsteht dabei ein Freiraum fürs Handeln.
Vorteil China
Gerade wenn wir unseren Blick auf das richten, was wir nicht wissen, unsere Annahmen und Vorurteile also, wird deutlich, dass das Vorgehen Chinas (sowie auch Taiwans und Vietnams) in der Pandemie deutlich besser war als das Europas und der Vereinigten Staaten. Einer ständig wiederholten Behauptung bin ich deshalb besonders leid. Sie lautet: „Sicher, die Chinesen haben das Virus zwar sehr effektiv eingedämmt, aber zu welchem Preis?“ Während uns nur ein Whistleblower die ganze Wahrheit darüber erzählen könnte, was dort wirklich vor sich ging, ist eines klar: Nachdem das Virus in Wuhan ausbrach, verhängten die chinesischen Verantwortlichen einen harten Lockdown, stoppten den Großteil der wirtschaftlichen Produktion im Land und stellten so den Schutz von Menschenleben eindeutig über ökonomische Interessen.
Zugegeben geschah das mit einiger Verzögerung, dennoch wurde die Krise hier extrem ernst genommen. Diese Strategie bewährt sich nun und China erntet die Früchte dafür, auch wirtschaftlich. Um es allerdings an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Das war nur möglich, weil die Kommunistische Partei immer noch in der Lage ist, die Wirtschaft zu kontrollieren und regulieren. Die Marktmechanismen werden also politisch kontrolliert, auch wenn es sich dabei um eine „totalitäre“ Form der Kontrolle handelt. Die Pandemie ist nicht nur ein viraler Prozess, sondern auch ein Prozess, der sich innerhalb eines ökonomischen, sozialen und ideologischen Koordinatensystems abspielt, das offen für Veränderungen ist.
Laut der Theorie komplexer Systeme haben solche Systeme zwei gegensätzliche Eigenschaften: Sie verfügen über eine robuste Stabilität, sind gleichzeitig aber auch extrem verwundbar. Derartige Systeme können sich also an massive Störungen anpassen, diese integrieren und so ein neues Gleichgewicht, eine neue Stabilität erzeugen – jedoch nur bis zu einem bestimmten Kipppunkt. Ab diesem Kipppunkt können wiederum auch kleinste Störungen eine totale Katastrophe auslösen, die eine völlig neue Ordnung erfordern. Über Jahrhunderte hinweg musste sich die Menschheit keine Sorgen um die Auswirkungen ihrer Wirtschaftsweisen auf die Umwelt machen, weil sich die Natur an das Ausmaß der Abholzungen, dem Gebrauch von Kohle und Öl usw. anpassen konnte. Allerdings scheint es nun so zu sein, dass wir uns einem solchen Kipppunkt nähern – obschon man hier nicht ganz sicher sein kann, da diese erst dann wirklich zu identifizieren sind, wenn es bereits zu spät ist.
Es gibt keinen Mittelweg
Im Hinblick auf die Dringlichkeit, mit der wir den verschiedenen drohenden ökologischen Katastrophen begegnen müssen, befinden wir uns also in einem Dilemma: Entweder wir nehmen die Bedrohungen ernst und beschließen jetzt zu handeln, was, wenn die Katastrophe nicht eintritt, im Nachhinein lächerlich erscheinen mag. Oder wir tun nichts und verlieren im Falle der Katastrophe alles. Wobei die schlechteste Wahl in der eines Mittelwegs bestünde, bei der wir nur eine begrenzte Anzahl an Maßnahmen ergriffen. In diesem Fall würden wir nämlich als Verlierer dastehen, ganz gleich, ob es zur Katastrophe käme oder nicht. Das Problem ist nämlich, dass es in Bezug auf die ökologische Krise schlicht keinen Mittelweg gibt: Entweder sie tritt ein oder sie tritt nicht ein. In einer solchen Situation wird das Gerede von Prognosen, Vorsorge und Risikokontrolle schlicht und ergreifend bedeutungslos, da wir es mit den „unbekannten Unbekannten“ zu tun haben: Wir wissen nicht nur nicht, wo der Kipppunkt liegt, wir wissen überdies nicht einmal, was wir über ihn noch alles nicht wissen.
Der beunruhigendste Aspekt der ökologischen Krise hat allerdings mit dem sogenannten „Wissen im Realen“ zu tun, das zu einem Dominoeffekt führen kann: Wenn Winter zu warm werden, deuten Pflanzen und Tiere diese Temperaturen im Februar fälschlicherweise als Zeichen dafür, dass der Frühling bereits begonnen hat und fangen an, sich entsprechend zu verhalten, wodurch sie nicht nur selbst anfällig für spätere Kälteeinbrüche werden, sondern auch den gesamten ökologischen Kreislauf durcheinanderbringen. Exakt so sollten wir uns nämlich eine mögliche Katastrophe vorstellen: Störungen im Kleinen, die global verheerende Folgen haben.
Wir täten also gut daran, hielten wir uns im Fall Donald Rumsfelds an die alte lateinische Weisheit „de mortuis nihil nisi bene“ („von Verstorbenen soll man nur Gutes sagen“). Wir sollten all seine katastrophalen Entscheidungen ignorieren und uns an ihn als einen Amateurphilosophen erinnern, der einige Unterscheidungen einführte, die für die Analyse unserer misslichen Lage hilfreich sind. •
Slavoj Žižek gehört zu den einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Forscher am Institut für Philosophie der Universität Ljubljana und internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Pandemie! II – Chronik einer verlorenen Zeit“ (Passagen, 2021).
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