Der Mensch ist dem Menschen kein Wolf
Heute beraten Bund und Länder über das weitere Vorgehen in der Corona-Krise. Für eine bedachte Rücknahme der Lockdown-Beschränkungen spricht ein wesentlicher Funktionsmechanismus liberaler Gesellschaften: Modernes Zusammenleben beruht auf Vertrauen. Es preiszugeben, bedeutet einen Rückschritt zum Hobbesschen Leviathan. Ein Kommentar von Svenja Flaßpöhler.
Moderne Gesellschaften sind hochdifferenzierte, komplexe Systeme, die mehrere innere Funktionsmechanismen besitzen. Ein ganz wesentlicher Mechanismus ist das Vertrauen. So hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hellsichtig darauf hingewiesen, dass wir keinen Schritt auf die Straße täten, wohnte da nicht diese Eigenschaft in uns, von den Mitbürgern stets nur das Erwartbare zu erwarten: Nämlich, dass sie uns nichts antun und wie wir ein Interesse daran haben zu leben.
Dieses Vertrauen ist eine Errungenschaft. Der jahrhundertelange „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias) hat es durch fortwährendes Training hervorgebracht. So lernten die Menschen, sich selbst zu disziplinieren. Diesem Mechanismus und der entsprechenden Ausbildung eines Gewissens haben wir es zu verdanken, dass die Gesellschaft, in der wir leben, nicht nur eine hochkomplexe, sondern auch eine liberale ist. Wir schenken uns, so wie in jeder guten Beziehung, die auf Vertrauen beruht, großzügig Freiräume, in denen auch Unvernünftiges passieren darf, solange das große Ganze nicht gefährdet wird. Wir gestehen uns zu, Alkohol zu trinken, zu rauchen, schnell Auto zu fahren, auch wenn das alles zur Produktivität nicht unbedingt beiträgt und durchaus mit Risiken behaftet ist.
Seit einem Jahr nun erleben wir einen Ausnahmezustand, der liberale, auf Vertrauen beruhende Gesellschaftssysteme im Kern gefährdet. Dies zum einen, weil ein Lockdown, wie wir ihn zurzeit erleben, der Komplexität und Sensibilität ausdifferenzierter Systeme nicht gerecht werden kann. Weitgehend unterschiedslos werden große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens heruntergefahren, was, wie weithin besprochen, enorme Unwuchten im Sozialen und Ökonomischen erzeugt, mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft auch und gerade unserer Kinder. Zum anderen, und dieser Punkt reicht noch tiefer, steht das Funktionsprinzip einer liberalen Gesellschaft als solches auf dem Spiel: Die Menschen sind einander nicht länger Vertraute, sondern Entfremdete. Hinter jeder Maske, die mir auf der Straße begegnet, wohnt und droht eine Gefahr. Der andere: Ein potenzieller Virenträger, vor dem der Staat mich schützen muss. Damit sind wir im Kern wieder bei einem Menschenbild angelangt, das der Philosoph Thomas Hobbes im frühmodernen 17. Jahrhundert vertreten hat: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Schützen können wir uns voreinander nur, wenn wir uns einem starken Staat unterwerfen, der für Abstand sorgt. Oder um es mit Markus Söder zu sagen: „Sicherheit ist der beste Ratgeber.“
Permanente Abwägung
Den Menschen, wie manche Bundesländer es jetzt fordern, nach und nach, kontrolliert und bedacht, Freiheitsräume zurückzugeben und stärker in die Eigenverantwortung der Bürger zu vertrauen, liegt vor diesem Hintergrund nahe. Doch Markus Söder und auch Jens Spahn geben trotz weiter sinkender Inzidenzahlen der Vorsicht den Vorzug: Lieber den Lockdown verlängern, als Erreichtes zu gefährden. Zugegeben: Corona ist weder eine Zigarette noch ein Glas Bier, sondern unabweisbar hochansteckend; durch die nun auftretenden Mutanten noch einmal mehr. Wenn wir die Pandemie jetzt nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eindämmen, droht dann nicht in der Tat exponentielles Wachstum, eine Überlastung des Gesundheitssystems und in den Krankenhäusern die Triage?
Doch ist diese Befürchtung bei Lichte betrachtet noch kein Argument im strengen Sinne, sondern eben nur eine Befürchtung. Die Warnung, dass Freiheitsgewinne die Grundfesten der Gesellschaft erschüttern, ist tatsächlich so alt wie die Demokratie selbst und wird bei jedem Liberalisierungsschub in Form einer Dammbruch-Angst laut; man denke an die Abtreibungsdebatten in den 1970er Jahren oder den gegenwärtigen Streit um das Recht auf Suizidassistenz. Obwohl Länder wie Schweden oder die Schweiz weitaus lockerere Regeln anwenden – Schulen und Kitas sind geöffnet, die erlaubten Gruppengrößen sind höher, in Schweden gibt es keine Maskenpflicht, sondern lediglich eine Empfehlung usw. – ist die Situation dort unter Kontrolle. In keinem dieser Länder gibt es derzeit explodierende Ansteckungszahlen, sehr wohl aber eine erhöhte Sterberate, womit wir am wohl heikelsten Punkt angelangt wären.
Es ist die Philosophie Kants und nicht der angelsächsische Utilitarismus, der die Politik hierzulande anleitet: Der Mensch ist ein Zweck an sich. Sein Leben ist unbedingt zu schützen. Jede Form der Abwägung, wie sie für das utilitaristische Denken kennzeichnend ist, erscheint aus kantischer Sicht unlauter und hochgefährlich. Nun wägen wir aber natürlich, schauen wir genau hin, in unserem täglichen Leben auch jenseits von Corona ständig ab. Schon wer morgens mit dem Fahrrad durch den Großstadtverkehr radelt, nimmt ein erhöhtes Sterberisiko im Dienste ökologischer Nachhaltigkeit in Kauf.
Gut, wendet jetzt wiederum die Gegenseite ein, dieses Risiko liegt aber allein in der Entscheidungsmacht des Einzelnen. Man kann sich auch dazu entschließen, kein Rad zu fahren. Sich nicht anzustecken, liegt in dieser Form nicht in der Macht des Einzelnen. Und deshalb muss von staatlicher Seite diese Gefahr so gering wie nur möglich gehalten werden. Dies umso mehr, als die nun vermehrt auftretenden Mutanten nach jüngsten Erkenntnissen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko darstellen: Karl Lauterbach etwa sagte mit Blick auf die heutigen Beratungen, dass ab Ende Februar eine dritte Welle drohe und auch der Impferfolg in Gefahr sei, weil die Impfungen gegen manche der mutierten Viren weniger gut wirken.
Kontextsensitivität und Eigenverantwortung
Wenn aber ein Ende der Corona-Bedrohung gar nicht in Sicht ist, weil die Mutanten dem großen vorweihnachtlichen Heilsversprechen der Impfung einen Dämpfer verpassen, wir also mit der viralen Gefahr werden leben müssen: Ist dann nicht umso mehr ein anderer Umgang gefragt, der sich – anders als ein Lockdown – auf lange Sicht durchhalten lässt? Niemand traut sich derzeit, eine Prognose zu geben, gar eine klare Perspektive zu eröffnen; ein Ausnahmezustand auf Dauer wäre mit demokratischen Prämissen und Rechten kaum vereinbar. Und so zutreffend der Punkt ist, dass man sich zwar gegen das Radfahren, nicht aber gegen eine Ansteckung entscheiden kann, übersieht dieser Einwand doch etwas Wesentliches: So wie ein fortschrittlicher Staat es als seine Verpflichtung ansehen sollte, gut ausgebaute, sichere Radwege zur Verfügung zu stellen, ist er mit Blick auf die Pandemie auch verpflichtet, den Bürgerinnen und Bürgern soweit wie nur möglich Mittel an die Hand zu geben, sich selbst zu schützen, um wieder in Freiheit leben zu können. Diese Möglichkeiten des Selbstschutzes, die angewendet werden könnten, um öffentliches Leben trotz Corona zu gewährleisten, sind aber längst noch nicht ausgeschöpft. Abgesehen von den Impfungen, die auf sich warten lassen, würden auch flächendeckend kostenlos bereit gestellte FFP2-Masken und Schnelltests sowie technisch ausgefeilte Lüftungssysteme vor Ansteckung schützen.
Nun ist es denkbar und vielleicht sogar wahrscheinlich, dass die Sterbezahlen auch bei einer vollständigen Ausschöpfung dieser Möglichkeiten höher wären. Noch einmal aufs Radfahren übertragen: So wie es unabweisbar sicherer ist, trotz gut ausgebauter Wege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren, ist es auch sicherer, jetzt, in dieser Situation, staatlich verordnete, rigide Kontaktbeschränkungen aufrechtzuerhalten, als stärker auf Eigenverantwortung zu setzen. An diesem Punkt sind wir wiederum bei der Abwägung angelangt: Wir müssen uns entscheiden, in welchem Verhältnis Sicherheit und Freiheit vermittelt sein sollten. Nehmen wir einmal an, die Bürgerinnen und Bürger kämen zu dem Schluss, dass sie ein erhöhtes Sterberisiko um der Freiheit willen in Kauf nehmen, mithin eine schrittweise und wohlüberlegte Lockerung der derzeitigen Maßnahmen befürworten würden: Wäre dann nicht jede Intervention von staatlicher Seite letztlich, abgesehen von naheliegenden verfassungsrechtlichen Fragen, krudester Paternalismus?
Es ist die ausgefeilte Kontextsensitivität der Eigenverantwortung, die der Komplexität und auch dem Zivilisationsstand moderner Gesellschaften angemessen ist. Wer, wenn etwa die Nachbarn hilfesuchend an der Tür klingeln und um Einlass bitten, weil sie ihren Schlüssel vergessen haben, sich erst einmal fragt, ob das denn jetzt erlaubt ist, gibt Preis, was Gesellschaften im Kern zusammenhält: Das Vertrauen in andere. Und in uns selbst. •