Die Abenteuer der Langsamkeit
Mobilität heute, das ist Geschwindigkeit und eingesperrte Leiber in Blechkisten. Dagegen gilt es einen anderen Weg zu wählen: das Gehen, das dem Körper einen Moment der Freiheit auf Bewährung verleiht.
Unsere Epoche beschreibt sich gern als Zeitalter der Geschwindigkeit, das die Menschheit zu neuen Ufern führen wird. Unsere Alltagserfahrung hingegen ist, eingepfercht zu sein: U-Bahn, Bus, Auto, Flugzeug – einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir in rollenden Kisten. In korrekter Haltung sind wir hintereinander in unseren Sitzen ausgerichtet, eingeschnürt in Gurte, und sehen unseren Körper auf seine organischen Funktionen reduziert: Wir sind Gänse, die gestopft werden, damit sie schläfrig werden, insbesondere bei der Beförderung auf dem Luftweg. Im Flugzeug, ja selbst im Zug ist es schwierig, auf und ab zu gehen, ohne die anderen Reisenden oder das Servicepersonal zu stören. Es braucht sitzende Wesen für eine Gesellschaft, die selbst stagniert und dennoch auf Ströme fixiert ist. Insofern ist nicht etwa der Wolkenkratzer und auch nicht die Rakete emblematisch für unsere Zeit, sondern der Sessel: Halb Stuhl, halb Bett macht er uns zu abgeschlafften Gestalten, die vor ihren Bildschirmen lümmeln. Hinter der leuchtenden Werbung für Hochgeschwindigkeitszüge steht Verknöcherung und Stagnation.
Das Gehen ist eine intransitive Tätigkeit. Noch bevor es uns irgendwo hinbringt, ist es ein Protest gegen den Hausarrest: Man vertritt sich die Beine, um dem sesshaften Leben zu entkommen, wo man sich lediglich vom Bett ins Auto, vom Auto ins Büro, vom Büro zum Tisch und zurück bewegt. Der moderne Mensch ist wie die schwarze Königin aus Alice im Spiegelland, die die ganze Zeit rennen muss, um am selben Fleck in der Landschaft zu bleiben: Man muss sich mächtig abstrampeln, um seinen Posten zu behalten. Früher bedeutete Distanz, dass Dinge keinen Kontakt miteinander hatten. Heute erleben wir Trennung als universelle Nähe: Wir sind durch unsere Verkehrsmittel voneinander getrennt – Symbol dafür sind die Stoßstangen an Stoßstangen, wie man sie im Verkehrsstau findet. Das Mittel, das die Menschen näher zueinanderbringen sollte, ist paradoxerweise ein Faktor geworden, der sie voneinander entfernt.
„Unsere mechanische Geschwindigkeit ist nur motorisierter Stillstand“, sagte der von den Surrealisten viel bewunderte Dichter Saint-Pol-Roux (1861–1940). Denn Geschwindigkeit ist ein dummes Privileg und als solches teilt man es nicht mit anderen: Im Namen der Entfesselung der Geschwindigkeit für die einen wird stets die Bewegungsfreiheit der anderen eingeschränkt. So werden Hektik und Stagnation verschmolzen, sie verstärken sich fortlaufend gegenseitig, und das beste Symbol für dieses Missverständnis ist der Hometrainer oder das Laufband im Fitnessstudio. Dutzende in Trainingsoutfits eingezwängte Männer und Frauen schwitzen, keuchen und leiden auf ihrem Platz in geschlossenen Räumen zu den Klängen elektronischer Musik, die ihre Bewegungen zu einem frenetischen Rhythmus steigern soll. Das ist der Horror, den uns eine bestimmte Form der amerikanischen Kultur beschert hat, die sich auf den Kult des Autos begründet und Spaziergänger für suspekt erklärt und mit Vagabunden, Dieben und Illegalen gleichsetzt.
Go-slow versus Speed
Inzwischen suchen wir das Vergnügen der Mobilität jenseits unserer rollenden Maschinen, oder zumindest in immer kleineren Maschinen, die den Körper erweitern, statt ihn aufzuheben: Fahrrad, Moped, Elektroroller und dergleichen. Speed wird verdrängt vom Go-slow, der Trend geht zur allgemeinen Entschleunigung. Hochgeschwindigkeit zwingt uns zur Geradlinigkeit, und das Reisen verkommt so zu einer bloßen Verlagerung ohne jegliche Abwechslung. Im wiederaufkommenden Interesse am Wandern manifestiert sich hingegen überall die Lust, andere Verhaltensweisen kennenzulernen. Da Geschwindigkeit das heutige Gesicht des Stillstandes ist, laufen wir langsam, um eine gewisse Schnelligkeit wiederzuentdecken.
Worauf es ankommt, ist wohlgemerkt die Bewegungsmöglichkeit für alle, wenn wir davon ausgehen, dass sich Freiheit vor allem am Grad der Beweglichkeit misst, über die jeder Einzelne verfügt. Der Moderne wird es gelungen sein, Bewegung zur Stagnation zu degradieren, indem sie den Körpern den Sitz als Erlösung aufzwingt. Als Antwort auf diese lethargische Körperhaltung gilt es, unser innerstes Tiersein wiederzuentdecken. Gehen wir zu Fuß, mit leichtem Gepäck. Wir wollen das Gehen feiern, das nirgendwo hingeht, die sich unmerklich wandelnden Horizonte, das innerste Verzeichnis unserer eingeschlafenen Muskeln, das Kribbeln der tausend Lebensfasern in unseren Beinen. In diesem Jahrhundert wird Fußgängern oder Wanderern eine größere
Zukunft und Entwicklung beschieden sein als den Fahrern in ihrer geradlinigen Monotonie. Geschwindigkeit ist ein bequemer Tod, wir lassen lieber unbequeme Wege wiederauferstehen. Die Langsamkeit versetzt uns nicht nur wieder in eine direkte Nähe mit der Welt und den Wesen um uns, sie gibt uns auch die Begeisterung für sich abwechselnde Landschaften zurück – eine Laterna magica der Elemente, die Verschiedenheit der Perspektiven, vor allem im Gebirge, wenn man an Abgründen entlanggeht oder Durchbrüche in den Felsen neue Horizonte eröffnen. Das Rauschgefühl ist zu Fuß stärker als im Auto: Nach der Eroberung des Makrokosmos und des Weltraums bleibt uns nur, die Welt im Allerkleinsten zu durchdringen, also das Verschiedenartige in seiner Unendlichkeit. Wir wollen das Gehen feiern, das vielleicht die moderne Form des Wunderbaren darstellt: Nur das Gehen kann uns noch hinaus auf die Straße bringen, es treibt zahllose ungewöhnliche Blüten und lässt uns die Freuden der niederen Geschwindigkeit wiederentdecken.
Gehen in der Stadt
In der Stadt zu gehen, bedeutet beispielsweise, nirgendwo zu Hause zu sein, unter ständiger Desorientierung zu leiden. Fußgänger sind bemerkenswert gleichgültig, was vorgeschriebene Verkehrsrichtungen angeht, und zugleich extrem aufmerksam für ungewöhnliche Orte mit lichten Durchblicken. Das Stadtgebiet, das sie durchqueren, entzieht sich der panoramischen Ordnung: Sie erkunden es selektiv, achten auf dumme Kleinigkeiten und Trivialitäten. Der Fußgänger wittert wie ein junger Spürhund die verstörenden oder verlockenden Gerüche, den Duft aus Bäckereien, den strengen Geruch aus Fleischereien, den Gestank aus Kneipen, das Parfüm von Passanten, und so fühlt er sich von etwas Mächtigem überflutet, das ihn übersteigt.
Das ist die ewige Vergeltung der Stadt als Palimpsest, als Überlagerung widersprüchlicher Erinnerungen, als Kollision von Epochen, als Maschine, die zu komplex für mich allein ist: Hier habe ich nie das letzte Wort. Die Poesie der winzigen Dinge überrascht uns – eine Blume, die zwischen Pflastersteinen sprießt, ein ungewöhnliches Schild, ein Schlafender, der am helllichten Tag auf einer Bank gestrandet ist. Gehen bedeutet, kleine Unebenheiten zu erfassen, Türen zu neuen Welten aufzustoßen, Geschichten ohne Worte einzufangen, die Geheimnisse von Bretterzäunen, Abrisshäusern und undefiniertem Gelände zu sammeln. Es bedeutet, in einer einfachen Treppe ein Bilderrätsel zu sehen, in einem Fensterrahmen ein Gedicht, mit anderen Worten: in jedem Moment Mythen des Ortes hervorzubringen. Es gibt Orte, die bleiben stumm und sind auf ewig in ihre Vergangenheit eingemauert, und es gibt andere, die sich anfangs widerstrebend zu offenbaren scheinen, doch sich dann wieder verschließen wie ein Grab.
Das Gehen hat die Struktur einer Rhapsodie: Der Fußgänger macht Katzensprünge über Löcher, folgt der schillernden Vielfalt der Plätze und Alleen, doch diskontinuierlich, ohne sich an deren Verlauf zu halten, und lässt so ganze Straßenabschnitte der Vergessenheit anheimfallen. Beim Gehen entfaltet sich dem langsam Gehenden die urbane Landschaft und bietet so ihrem Beobachter stets neue Perspektiven. Die Stadt beherrscht die Kunst der Lücke. Ziellos über den Asphalt spazieren, ohne Bezugspunkte, mit faszinierender Unmotiviertheit, dem Unbedeutenden ebenso wie dem Spektakulären Beachtung schenken – das bedeutet, einen ganz neuen Blick auf das Stadtgebiet zu werfen und sein Auge zu erholen. Das ist die Ethik des urbanen Nomaden, der die Wunder der Großstadt sucht.
Schwerkraft als Erleichterung
Doch es gibt auch eine pathologische Seite der Fortbewegung: Penner, Obdachlose, Menschen, die unter Dromomanie leiden (zwanghaftes Weglaufen), ihre Klamotten in einem Einkaufswagen vor sich herschieben, ohne jemals anzuhalten, Senioren, die hastig alle Schritte nachholen, die sie in ihrem Leben versäumt haben, eine Alpinistenmontur anlegen, um die Alleen und Parks unserer Städte mit Nordic-Walking-Stöcken und Rucksäcken zu erstürmen, fast angeseilt, als wollten sie den Mont Blanc besteigen. Der moderne Alte geht, rennt und reist – ein hypervitaminisierter Rentner, der eine wilde Postadoleszenz erlebt, in einem Alter, in dem seine Eltern und Großeltern längst senil oder bettlägerig waren. In unseren Straßen wimmelt es von diesen kostümierten Asphaltabenteurern mit grauen oder weißen Haaren, die begierig sind, das Leben beim Schopf zu packen, ein letztes Mal vor dem Abgrund. Gehen ist nicht nur die Wiederentdeckung des Körpers, es ist auch der Fluch derer, die nicht sterben können: Es gibt die Figur des ewigen Juden, der herumirrt und nicht sterben und darum auch nicht leben kann.
Oder die Walking Dead aus der berühmten amerikanischen Serie: Die Walkers sind Zombies, die dazu verurteilt sind, bis in alle Ewigkeit umherzugehen, hungrig nach Frischfleisch von Mensch oder Tier, bis man sie ein zweites Mal tötet und zwar richtig. Es gibt Alzheimerkranke, die aus dem Krankenhaus entlaufen sind und wie tote Seelen durch die Städte geistern, bis die Polizei sie wieder einfängt. Das Wunder des Gehens, die Freude, sich lebendig zu fühlen und seine Kraft zu spüren, wird so zu einem verfluchten, ziellosen Umherirren, als würde man vor einem Verfolger fliehen, der uns früher oder später fangen wird.
Was sucht der Wanderer auf dem ruhigen Land, am Meeresufer, im Gebirge? Er versucht, der einseitigen Herrschaft des Visuellen zu entfliehen. Die ganze Welt ist bereits fotografiert. Sie mit den Füßen zu durchstreifen, bedeutet, sich dem visuellen Programm zu verweigern. Das Paradoxe: Die Gesetze der Schwerkraft zu erfahren, ist in gewisser Hinsicht das beste Mittel, um uns zu entlasten. Wenn uns die Trägheit der Sesshaftigkeit auslaugt, wird die Anstrengung zur Erholung. Es geht nicht darum, besser zu sehen, sondern zu empfinden, sich der rein kontemplativen Tätigkeit zu entziehen. Die mit Fotoapparaten umwickelten Touristen sind nicht lächerlich, sondern eher resigniert: Von Beginn an verzichten sie darauf, mit der Umgebung eine andere Beziehung einzugehen, als einen neugierigen Blick zu werfen. Fleißig betreiben sie ihre Art des Gedenkens: Reisen ist oft mit dem Tod verquickt, denn wenn wir stets geschichtsträchtige Orte besuchen, wird die Welt zum Museum und wir, die Besucher, werden zu Spurensammlern.
Die Lustlosigkeit und der Blick
Der Wanderer rebelliert gegen den disziplinierten Zuschauer. Wenn er sich auf den Weg macht, Hochgebirgspfade einschlägt oder Wüsten durchquert, so will er ein Besucher sein, der selbst von der Schönheit des Ereignisses heimgesucht wird. Er schreitet aus, magnetisch angezogen von einem schönen Schauspiel und der Hoffnung auf eine schöne Geschichte, eine ungewöhnliche Anekdote, die ihn bewegt. „Das Auge“, so sagten die Jesuiten, „ist die einzige Öffnung des ganzen Körpers, die mit der Welt in unverdorbenem Austausch steht.“ Dass zwischen Lustlosigkeit und Auge eine sehr enge Komplizenschaft besteht, rührt zweifellos von dieser Besonderheit, dieser schrecklichen Hygiene des Sehsinns. Doch der Wanderer unterwirft sich immer weniger den Zwängen der Wahrnehmung. Seine Eskapaden sind für ihn die glücklichen Momente, wo der Körper anders leben kann als nur mit den Augen, wo er sich mit dem Lehm vermischt und mit dem Boden verbunden ist.
Er will nicht mehr nur eine ästhetische Beziehung mit der Erhabenheit der Natur, eine Abfolge von Bildekstasen, die er mit seiner Digitalkamera einfängt oder als gerahmtes Bild an die Wand hängen wird. Er ist es leid, das Universum aus den Augenwinkeln aufzupicken, er will alle niederen Sinne zum Festschmaus einladen, angefangen bei den Beinen, die die Unebenheiten des Bodens spüren, durch den Schlamm der Gräben waten, auf Steinen ausrutschen, sich wieder fangen und am Abend durch ihr Ziehen von der erfüllten Aufgabe Zeugnis ablegen. Der Wanderer leidet und er freut sich, dass er leidet, schwitzt und stinkt. Er möchte Hautkontakt mit der Außenwelt haben, Licht, Gerüche und Knistern spüren. Sein Körper ruft nach Wiedergutmachung. Manch wunderbarer Morgen ist ein Aufruf, hinauszugehen und sich im Labyrinth der Welt zu verlaufen. Das Draußen unter freiem Himmel ruft. Wozu? Das verrät es nicht. Man muss es durchqueren, um es zu entdecken. Immer wieder neu. •
Der Philosoph und Romanautor Pascal Bruckner gehört zu den bekanntesten Intellektuellen Frankreichs. Zuletzt erschien von ihm der Essay „La tyrannie de la penitence : Essai sur le masochisme occidental“.