Die Flut, eine Kulturkatastrophe
Hochwasser und Überschwemmungen kosten Menschenleben und richten materielle Schäden an. Zu ihren fatalen Folgen gehört aber auch noch etwas anderes, das sich buchstäblich nicht beziffern lässt – und Gemeinschaften unwiederbringlich verändert.
Jede Katastrophe hat Bilder, mit denen sie sich in das kollektive Gedächtnis einschreibt. Zu jenen der jüngsten Hochwasserkatastrophe zählt ein Video des mit den Tränen kämpfenden Helmut Lussi, Bürgermeister von Schuld an der Ahr: „Diese Flut hat auch für die Menschen in Schuld oder wird für die Menschen in Schuld Narben hinterlassen. Und Narben, die man nicht vergisst, die nicht zu bewältigen sind.“ Dann wankt seine Stimme und reißt ab. In dem Bild liegt eine tiefe Einsicht: Trotz Wiederaufbau wird in dem Ort eine Lücke bleiben, die noch keine Worte angemessen beschreiben können.
Diese Sprachlosigkeit könnte Anlass sein, anderen vernarbten Menschen zuzuhören. Nick Estes etwa, Historiker und Bürger des Lower Brule Sioux Tribes, beschreibt in seinem 2019 erschienenen Buch Our History is the Future die soziokulturellen Schäden von Fluten. Nach den Dürren der 1930er Jahren, den „Dust Bowls“, setzte das U.S. Army Corps of Engineers entlang des Missouri Rivers ein umfassendes Bewässerungsprojekt um. Die Eigentumsrechte des fruchtbaren Gebiets um den Fluss waren zwischen US-amerikanischen Staatsangehörigen und mehreren indigenen Nationen aufgeteilt. Obwohl indigene Gebiete bereits in den Jahrzehnten zuvor kontinuierlich verkleinert wurden, entschied sich die US-Regierung aus Kostengründen, die Stauseen vor allem auf Reservate zu legen.
Weite Landflächen wurden dauerhaft und bewusst überflutet. Das Infrastrukturprojekt der US-Regierung entwickelte sich dadurch zu einem Ankerpunkt des zeitgenössischen panindianischen Aktivismus. Estes betont, dass die Gewalt dieser Flut erst aus der Ortsgebundenheit indigener Zeremonien und Traditionen heraus verstanden werden kann. Beides ist untrennbar mit heiligen Orten oder bestimmten Pflanzen- und Tierpopulationen verbunden – all das ging in den Stauseen dauerhaft verloren. Viele „zukünftige Beziehungen zum Land“ sind von ihnen unwiederbringlich zerstört worden. Keine Kompensationszahlungen könnten dies aufwiegen, da es dabei um „etwas völlig Unquantifizierbares“ ginge.
Ein anderes Land
Nun lassen sich Estes' Überlegungen natürlich nicht eins zu eins auf den europäischen Kontext übertragen, gleichwohl kann man sich mit ihnen aber einer Sprache über die katastrophische Lücke nach einer Flut nähern. Zunächst zeigt ein Vergleich, was die hiesige Lücke nicht ist. Hierzulande sind keine unabhängigen indigenen Nationen betroffen, sondern Städte und Gemeinden. Die Überlebenden wurden nicht vertrieben, sondern können zurückkehren. Beziehungen zum selben Land sind nach dem Wiederaufbau also möglich, vielleicht werden sie sogar intensiviert. Nach dem Elbhochwasser 2006 wurden immerhin nicht nur Flutkarten angefertigt, Versicherungen ausgestellt, Schutzvorrichtungen ausgebaut, sondern manche Gemeinden und Kommunen rückten auch enger zusammen.
Was sich von Estes' Beobachtungen jedoch durchaus übertragen lässt: Auch hierzulande greift die Vorstellung nicht, dass ein Ort seine Bedeutung nur aus sich selbst heraus gewinnt. Er empfängt sie wesentlich von den Menschen, die ihn bewohnen. Jede Naturkatastrophe ist deshalb auch eine Kulturkatastrophe. Das Ausmaß ihrer Zerstörung wird nicht einfach unter Abzug des Menschen, aus der Betrachtung von Kulturgütern begreiflich, sie liegt, mit dem Philosophen Ralf Konersmann gesprochen, auch in der Betroffenheit kultureller Tatsachen. Eine kulturelle Tatsache besteht etwa darin, dass man in einem Zuhause zu Hause ist und in einer Kirche Gottesdienste abhält. Für eine kulturelle Tatsache ist also ausschlaggebend, was man mit oder an einem Ort macht und was dies für einen bedeutet. Kulturelle Tatsachen gehen demnach nicht aus den Sachen selbst hervor, sie ergeben sich erst „aus den Bezüglichkeiten des Gegenstandes in seiner Welt.“
So erinnert Konersmann daran, dass, wo Kultur betroffen ist, „Faktenwelt“ immer auch „Menschenwelt“ ist. In Schuld an der Ahr etwa wurde die örtliche Kirche im Nachklang der Katastrophe schnell und pragmatisch zur Kleidersammlung umfunktioniert. Vielleicht nehmen in den Überschwemmungsgebieten manche wiederaufgebauten Straßen einen etwas anderen Verlauf. Ob die renovierten Gebäude tatsächlich wieder ein Zuhause werden können – und wenn ja, für wen –, das ist derzeit noch offen. Sogar NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bemerkte bei einem Besuch in den Flutgebieten, es würde „ein anderes Land werden in diesen Städten.“ Wenn sich eine Kulturkatastrophe ereignet, dann ist mehr als die materielle Ordnung beschädigt, auch die Ordnung der menschlichen Bezüglichkeiten ist betroffen. Es gibt eine Irritation in einem Netz von Bedeutungen.
Die Wirklichkeit steht schief
In den Hochwassergebieten schafft man immer noch den Schlamm beiseite, man entkernt Gebäude und birgt die Überreste. Das ähnelt fast einem archäologischen Unterfangen. Denn ähnlich dem, was eine Archäologin in die Hände bekommt, scheinen auch die geborgenen Überreste in den Flutgebieten aus einer anderen, fremden Zeit zu stammen. Zu einstmals selbstverständlichen Bezüglichkeiten herrscht nun eine unüberbrückbare Distanz. Und in eben dieser Distanz liegt der unquantifizierbare Schaden: Man hat lebendige Erinnerungen an einen Ort, gleichzeitig steht aber die Wirklichkeit zu diesen Erinnerungen schief.
Die Welt verliert ihre Eindeutigkeit. In dem Zuhause, was man da entkernt, war man tatsächlich mal zu Hause. Aber dieses Zuhause ist es jetzt nicht mehr. Man tritt ein in eine mehrdeutige Welt der trigger: Aus der offenkundigen Bedeutung kann man jederzeit in eine parallele entrücken. Auch Jahrzehnte später reicht hierfür noch ein Geruch, eine Straßenecke oder der Blick auf den etwas höher gebauten Damm. Die Verletzungen der kulturellen Katastrophe entstammen somit dem Verlust von Selbstverständlichkeit. Es ist dauerhaft fragwürdig geworden, dass das Selbstverständliche tatsächlich selbstverständlich ist und noch mehr, dass es das auch bleibt. •
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