Die Fotos der Anderen
Stahlberger verfolgen auf ihrem neuen Album Lüt Uf Fotene die Spuren, die wir als Randfiguren in fremden Leben hinterlassen.
Obwohl Musik ein Medium ist, das sich erst in der Zeit entfaltet, beschäftigen sich erstaunlich viele Songs mit statischen Bildern. Man denke an Du hast den Farbfilm vergessen von Nina Hagen, das schon vor einem halben Jahrhundert die Logik der sozialen Medien vorwegnahm: Nur wenn man den Urlaub vor den Daheimgebliebenen mit Fotos beglaubigen kann, ist er tatsächlich gelungen.
Auch auf dem neuen Album von Stahlberger aus Sankt Gallen geht es um solche visuellen Erinnerungen: Lüt Uf Fotene heißt es, Menschen auf Fotos. Der Titelsong beschreibt allerdings keineswegs abwesende Freunde oder Geliebte, sondern jene mysteriösen Gestalten, die irgendwo am Bildrand stehen, von denen man aber keine Ahnung hat, wer sie eigentlich sind. „Lüt uf Fotene / I mine Albe / Verschwumme / Oder nume halbe / Im Hintergrund“, singt Texter Manuel Stahlberger über einer minimalistischen Krautrock-Schleife – und zieht den unvermeidlichen Schluss, dass man selbst wahrscheinlich auch in fremden Alben zu sehen ist: „I uf Fotene / Irgendwo / Bi fremde Lüt / Am umestoh.“
Die Beobachtung erinnert an die Fototheorie von Roland Barthes, wie er sie in seinem Buch Die helle Kammer entwickelt. Der Philosoph unterscheidet zwei Aspekte eines jeden Fotos: Das studium ist die planvolle Information, die es transportiert, die lächelnde Familie im Vordergrund. Das punctum hingegen ist ein unbeabsichtigtes Element, das aus dem Foto hinausweist, es schießt „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“. Vielleicht erklärt dies die existenzielle Schwermut des Stahlberger-Songs: Wir können stets vom einen Bildaspekt in den anderen kippen. Wir halten uns für das studium, die Figur, auf welche die Kamera fokussiert ist – aber plötzlich erkennen wir: Wir sind bloß ein punctum. Eine verschwommene Figur auf einem fremden Foto. •
Stahlberger, „Lüt Uf Fotene“ (STB), 11.03.22