Die Lehren des Krokodils
Die australische Philosophin Val Plumwood wurde bei einem Wildnis-Trip von einem Krokodil angegriffen und überlebte nur mit viel Glück. Dieses einschneidende Erlebnis veränderte ihr Denken.
In unserem Alltag schlägt sich der weit verbreitete Anthropozentrismus darin nieder, dass Menschen meist denken, die Erde sei primär für sie eingerichtet. Mit ungläubiger Wut reagieren sie dann auf Ereignisse, die dieser Annahme widersprechen: Viren, Mückenschwärme oder 35-Grad heiße Wochenenden fügen sich einfach nicht ins Bild der Welt als wohligem Wohnzimmer.
Die denkbar radikalste Erschütterung dieses menschenzentrierten Weltbildes hat die australische Philosophin, Ökofeministin und Umweltaktivistin Val Plumwood (1939-2008) erlebt: Zur (potenziellen) Nahrung eines Raubtieres werden. In ihrem Aufsatz Human vulnerability and the experience of being prey (1995) sowie in ihrem posthum erschienen Buch The Eye of the Crocodile (2012) hat sie die Erfahrung philosophisch verarbeitet.
1985 unternimmt Plumwood zu Beginn des Monsuns eine Kanu-Tour im Kakadu-Nationalpark im Norden Australiens, dessen Sumpfgebiete zu dieser Zeit „besonders beeindruckend“ sind, „da die Seerosen weiße, rosa und blaue Muster von traumhafter Schönheit über die leuchtenden Türme der Gewitterwolken weben, die sich in ihren stillen Gewässern spiegeln.“ Als sie am nächsten Tag bei Nieselregen erneut aufbricht, um eine den Aborigines heilige Felsformation zu besichtigen, ist die Idylle jedoch einer bedrohlichen Stimmung gewichen. Plumwood verfährt sich und kommt in die Nähe des Hauptstromes, von dem der Ranger ihr abgeraten hatte. Statt des gesuchten Heiligtums erblickt sie eine bizarre Gesteinsanordnung – ein großer Fels, der auf einem sehr viel kleineren balanciert. Der Anblick dieser wackeligen Konstruktion ruft ihr plötzlich die Gefährdung ihrer Existenz an diesem Ort ins Bewusstsein, an dem sowohl über ihren Besuch nicht informierte Indigene und als auch zahlreiche Salzwasserkrokodile leben. Von zunehmenden Unbehagen erfüllt, beschließt sie, umzukehren.
Zwischen Gotteskomplex und Mittagessen
Doch wenig später erblickt sie etwas, das sie zunächst für einen im Wasser treibenden Baumstamm hält. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der vermeintliche Baumstamm ein golden schimmerndes Auge hat, das sich mit Interesse auf Plumwood richtet. Kurz darauf wird ihr Kanu von heftigen Stößen erschüttert. Als sie versucht, zu den Ästen einer Myrtenheide zu springen, um an Land zu gelangen, packt das Krokodil sie zwischen den Beinen und zieht sie unter Wasser, dreht sich hier mit Plumwood im Maul um die eigene Achse. Die Philosophin schildert die folgenden Momente so: „Die Drehung erzeugte eine Schleuder aus wirbelnder, kochender Schwärze, die mir die Gliedmaßen vom Körper zu reißen schien und Wasser in meine berstende Lunge trieb. Es dauerte eine Ewigkeit, unerträglich lange, aber als ich so gut wie erledigt schien, hörte die Drehung plötzlich auf. Meine Füße berührten den Boden, mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und prustend, hustend saugte ich Luft ein, überrascht, mich noch am Leben zu finden. Das Krokodil hatte mich immer noch zwischen den Beinen in der Zange, und das Wasser ging mir knapp bis zur Brust.“ In einer alptraumhaften Abfolge von Wiederholungen folgen zwei weitere Angriffe, zwischen denen sie jeweils kurz freigegeben wird: „Ich wurde schwächer, aber ich konnte sehen, wie das Krokodil sich viel Zeit nahm, um mich auf diese Weise zu töten.
Es schien vorzuhaben, mich langsam auseinanderzureißen, mit mir zu spielen wie eine riesige knurrende Katze mit einer zerfetzten Maus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich überleben würde, so groß schienen seine Wut und seine Macht im Vergleich zu meiner. Ich betete um ein schnelles Ende [...].“ Nach der dritten Attacke jedoch lässt das Krokodil völlig überraschend von ihr ab. Plumwood zieht sich den steilen schlammigen Hang hinauf und kämpft sich schwer verletzt, am Ende nur mehr kriechend, durch den Dschungel bis in die Nähe der Rangerstation, wo sie schließlich gefunden und in ein Krankenhaus gebracht wird.
Trotz ihres schwer entzündeten und amputationsgefährdeten Beines, so Plumwood, habe „die Erfahrung der Existenz als unerwarteter Segen“ in der folgenden Zeit einen „goldenen Schimmer“ über ihr Leben ergossen. Doch der „Moment der Wahrheit“, als den sie die Krokodilattacke beschreibt, führt nicht nur zu einer gesteigerten Wertschätzung des eigenen Lebens. Für Plumwood laufen in ihm auch die Fäden ihres bisherigen Denkens zusammen und bekommen zugleich eine völlig neue, nämlich konkrete Qualität. Schon in den 1970er Jahren richtet sie sich vehement gegen den Anthropozentrismus und das, was sie den „Standpunkt der Herrschaft“ (standpoint of mastery) nennt – eine Sichtweise, in der das „Andere“, die Natur, aber auch etwa Frauen und Kolonisierte, als radikal verschieden und unterlegen gedacht wird. Plumwoods Kritik gilt einer langen westlichen Tradition, die den Menschen als außerhalb und über der Natur stehend begreift. Paradigmatisch zeige sich das in der christlichen Vorstellung vom Menschen als „Ebenbild Gottes“, dem als einzigem irdischen Wesen das Himmelreich offensteht. Auch die westliche Philosophie versieht den Menschen im Zuge des Vernunft-Materie-Dualismus mit einer ethischen und metaphysischen Würde, die allen anderen Wesen abgesprochen wird. In dieser Sichtweise ist der Mensch immer das aktive Subjekt, das gottgleiche Geschöpf und der Jäger, der die anderen unterwirft. Dass er als fleischliches Wesen auch zutiefst verletzlich und sogar essbar – mögliche Nahrung für andere Tiere – ist, widerspricht dieser Weltanschauung radikal.
Die Welt von außen sehen
Die Krokodilattacke, so Plumwood, gab ihr eine einmalige (und freilich unverhoffte) Gelegenheit, die Welt „von außen“ zu sehen. Ihre Wahrnehmung wandelt sich im Moment des Beinahe-gefressen-Werdens radikal, die Welt erscheint ihr als „Heraklitisches Universum“, in dem „alles fließt“. Ein Universum, das unbeeindruckt von ihrer Existenz auch ohne sie weiterbestehen würde. In dieser Welt ist das bisher für unmöglich Gehaltene möglich: Als Mensch zur Mahlzeit eines anderen Raubtiers zu werden. Plumwood beschreibt in The Eye of the Crocodile, wie ihr dies im Augenblick des Geschehens als Illusion, als Alptraum erschien. Eine Einschätzung, die sie später revidiert: Tatsächlich sei das „Heraklitische Universum“, in dem Menschen als Teil der Nahrungskette auch potenzielle Beute sind, sehr viel realistischer. Die hochtechnisierte Zivilisation verhindert solches Gefressen-Werden zwar weitgehend, aber es handelt sich keineswegs um eine metaphysische Unmöglichkeit.
Für Plumwood ergeben sich aus dieser Erkenntnis insbesondere zwei Folgerungen: Zum einen sollten wir die ökologische Betrachtungsweise auf die Menschen ausweiten. Auch sie sind als fleischliche und verwundbare, hungrige und essbare Wesen Teil der ökologischen Kreisläufe. Zum anderen sollte aber auch die ethische Betrachtungsweise auf die Umwelt, auf Tiere und Pflanzen ausgeweitet werden. Wie wir haben auch sie einen Anspruch, „mehr als nur Nahrung“ zu sein.
Gegenwärtig erleben wir in der westlichen Welt eine Kombination aus instrumentellem Naturzugriff und Naturidealisierung: Fossile Ressourcen werden exzessiv verbraucht, Tiere in industrieller Massentierhaltung gezeugt und getötet, zahlreiche Tierarten durch Lebensraumzerstörung vernichtet. Zugleich werden Hunde von ihren Haltern in Wollmäntelchen eingepackt, Urlaubsbilder von Sonnenuntergängen am Meer geteilt und Bäume umarmt.
Erkenntnis der Zugehörigkeit
Plumwoods durch die Krokodilattacke begründetes Weltverständnis ist hingegen weder vereinbar mit einem rein instrumentellen Naturzugriff, der den Menschen erlaubt, sich als überlegene Herren der Welt zu fühlen, die alle anderen Wesen unbegrenzt dienstbar machen oder beiseite räumen können. Noch ist es vereinbar mit einer romantisierenden Idealisierung der Natur als Ort der Gewaltfreiheit. Plumwood war deshalb nach dem Angriff auch keine prinzipielle Verfechterin des Vegetarismus mehr.
Der westliche Weltzugang, verdrängt – trotz Darwins Evolutionstheorie – die Zugehörigkeit der Menschen zur natürlichen Umwelt immer noch weitgehend. Die Verletzlichkeit und Zerstörbarkeit der Menschen als fleischliche Wesen sowie ihre Abhängigkeit vom Biosystem der Erde findet weiterhin kaum Beachtung. Es ist jedoch dieser Weltzugang, der maßgeblich zur ökologischen Krise und zum Klimawandel beigetragen hat und durch diese Krisen zugleich obsolet wird. Das Schema, in dem Menschen sich als überlegen über den Rest der Welt denken, die sie sich ohne Grenze untertan machen und ausbeuten können, wird sich nicht halten lassen. •