Die zwei Seiten der Solidarität
Auf den ersten Blick scheinen die zahlreichen Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine mehr als berechtigt. Doch bringen sie auch Kommerzialisierung und ausschließende Praktiken mit sich, auf die es hinzuweisen gilt, meint Friedrich Weißbach.
Seit dem Kriegsbeginn geht eine Welle der Solidarität mit der Ukraine durch die westlichen Gesellschaften. Millionen Menschen weltweit gehen auf die Straße und demonstrieren für ein Ende des Krieges. Die Städte verschwinden in einem blau-gelben Fahnenmeer. Ganz gleich ob Politikerin, Schauspieler oder Sportlerin – nahezu jede öffentliche Person spricht ihre Verbundenheit mit der Ukraine aus. Auf den ersten Blick erscheinen diese Solidaritätsbekundungen mehr als richtig und angebracht. Versucht man jedoch die Bedeutung der Solidaritätsbekundungen zu benennen, bleiben die Antworten oft dürftig. Was machen wir, wenn wir uns solidarisch zeigen? Haben unsere solidarischen Kollektivhandlungen einen Sinn – und wenn ja, welchen? Betrachtet man die breite Anteilnahme genauer, stellt sich ein wesentlich kontrastreicheres Bild dar: Es verdeutlicht nicht nur die Bedeutung der Solidarität sowohl für die Betroffenen als auch die solidarischen Gemeinschaften. Zugleich offenbart es auch oft übersehene Schattenseiten, die mit den Solidaritätsbewegungen einhergehen.
Zynisch könnte man sagen, dass die Solidaritätsbekundungen zwar sicherlich gut gemeint sind, aber letztlich weder Sinn noch Nutzen haben, außer den Menschen selbst das Gefühl zu geben, auf der richtigen Seite zu stehen. Am Krieg und dem damit verbunden Leid ändern sie jedoch nichts. Diese Position ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn weder die Proteste noch die gehissten Fahnen werden den Krieg beenden. Und doch wäre es zu weit gegriffen, sie als einen bloßen moralischen Egoboost zu deuten. Die bundesweiten Solidaritätsbekundungen, die unsere Städte in blau-gelb kleidenden Fahnen sowie die zahllosen öffentlichen Zusprüche sind zunächst einmal als ein symbolisches Zeichen zu verstehen. Es zeigt den vom Krieg Betroffenen, dass sie nicht vergessen sind, ihr Leid und das erfahrene Unrecht gesehen werden sowie dass Gemeinschaften an ihrer Seite stehen und bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen – ob die Einschränkungen letztlich ausreichend sind, steht dabei auf einem anderen Blatt und muss eine Frage einer politischen Debatte sein. Solidaritätsbekundungen können also den im Krieg gefangenen Menschen Mut, Zuversicht und neue Kraft spenden.
Solidarität als Selbstvergewisserung der eigenen Werte
Funktional bedeutender sind die Bekundungen aber für die eigene Gemeinschaft. Mit kommunitaristischen Theorieansätzen, wie sie von Philosophen wie Charles Taylor, Michael Walzer oder Alasdair MacIntyre vertreten werden, lassen sich die Solidaritätsbekundungen als die Vergewisserung und Reproduktion einer Wir-Identität und somit als äußerst wichtigen Akt für das Funktionieren von Gesellschaft begreifen. Im Kontrast zu liberalen Theorien, die von der individuellen Vernunft freier und gleicher Menschen ausgehen, heben Kommunitaristen die gesellschaftliche Bedeutung für die Entwicklung des einzelnen Individuums hervor. Grundlage für ein gelingendes Zusammenleben sind die die Gemeinschaft tragenden Werte.
Als Ergebnisse eines historischen Prozesses dienen sie als leitender Kompass für die Interaktion innerhalb der Gesellschaft. In diesem Sinne ist Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht „nur“ als ein völkerrechtswidriger Angriff auf ein fremdes Land zu verstehen. Vielmehr erweist er sich als ein direkter Schlag gegen die Werte von Freiheit und Gleichheit, wie sie dem Zusammenleben westlicher Nationen zugrunde liegen, und somit als Gefahr für die Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenhalts. So gesehen, offenbaren sich die Solidaritätsbekundungen als eine kollektive Selbstvergewisserung und Identifikation mit den Werten, die die Gemeinschaft als grundlegend erachtet. Oder anders formuliert: Sie sind eine Polung unseres gesellschaftlichen Wertekompasses. Blau-Gelb steht dann nicht mehr allein für die Ukraine, sondern für die Überzeugung von der Wichtigkeit einer freien und friedvollen Gesellschaft an sich.
Kommerzialisierung der Solidarität
Und doch haben die Solidaritätsbekundungen auch Kehrseiten, die nicht übersehen werden dürfen. Auffällig ist zunächst die starke Kommerzialisierung der Solidaritätsbekundungen: Längst haben große Firmen und Institutionen begonnen, sich mit den nationalen Farben der Ukraine zu schmücken. Dabei entstehen die scheinheiligsten Seilschaften: Zum Beispiel die FIFA, die jetzt bei jedem Fußballspiel ein Peace-Zeichen im Mittelkreis zeichnet, aber noch vor vier Jahren trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim eine Weltmeisterschaft in Russland veranstaltet hat. Oder die Getränkemarken Coca-Cola, Starbucks und Pepsi, die sich erst nach großem medialem Drängen vom russischen Markt verabschiedet haben und nun ihre Logos teilweise in Blau-Gelb färben. Auch auf den ersten Blick weniger dubiose Bekundungen wie eine Selenskyj-Figur von Lego lassen einen nachdenklich werden. Zwar sind ihre Einnahmen für einen guten Zweck bestimmt, doch hat die dahinterstehende Heroisierung und Verkultung des ukrainischen Präsidenten einen faden Beigeschmack. Ganz zu schweigen davon, dass auch oder gerade solche Benefizaktionen zugleich immer auch eine enorme Werbung für das entsprechende Unternehmen darstellen und oft nicht zu differenzieren ist, ob der eigentliche Grund für die Aktion wirklich die Wohltätigkeit oder die Vermarktung darstellt. Denn theoretisch könnte Lego auch einfach so einen gewissen Prozentanteil seiner Gewinne an die Ukraine spenden – doch das tut es eben nicht.
Was sich auf der globalen Bühne der großen Unternehmen abzeichnet, lässt sich auch auf individueller Ebene beobachten. Längst ist es hipp geworden, sich in den Farben der Ukraine zu kleiden und seine Solidarität mit Selfie und einem entsprechenden Hashtag in den sozialen Netzwerken zu teilen. Aus Anteilnahme wird Selbstdarstellung. Die dazwischen liegende Grenze ist fließend und geht zunehmend verloren. All das erzeugt ein unangenehmes Gefühl der Fremdheit. Es scheint ganz so, als ob der Protest und die Solidarität von der kapitalistischen Vermarktungslogik voll und ganz vereinnahmt sind und als bloße Instrumente der Aufmerksamkeitsgenerierung genutzt werden. Anders als bei den gemeinschaftlichen Solidaritätsbekundungen geht es hier eben nicht um die Vergewisserung gemeinschaftlicher Werte. Vielmehr werden sie als Scharnier genommen, um entweder höhere Gewinne zu bekommen oder eine größere Zahl an Followern zu erlangen. Doch wenn die Solidaritätsbekundung zur Werbeveranstaltung verkümmern, geht jede Ernsthaftigkeit, die angesichts Tausender Toter und Millionen von Geflohenen mehr als geboten scheint, verloren.
Identifikation impliziert Exklusion
Es gibt noch eine weitere Facette, die kritisch reflektiert werden sollte. Die beschriebene Wir-Identität als wesentliches Produkt der Solidaritätsbekundungen geht einher mit einer Abgrenzung. Dies liegt zunächst in der Natur der Identifikation – indem man für eine Sache steht, drückt man immer gleichzeitig aus, wofür man nicht steht. Dies muss natürlich nicht per se schlecht sein. So drücken bspw. die Solidaritätsbekundungen ein „Nein“ zum Krieg, Gewalt und Zerstörung aus. Diese Art der Grenzziehung ist wichtig und vollumfänglich zu unterstützen. Jedoch droht die Abgrenzung darüber hinauszugehen. Sie beginnt sich gegen Menschen zu richten, die mit dem kriegerischen Handeln Russlands nichts zu tun haben. Aufgrund ihrer russischen Nationalität laufen Russen und Russinnen Gefahr, zu Opfern von gesellschaftlichen Ausschlüssen zu werden. Wohl nichts verdeutlicht diese Bewegung stärker als die im Kulturbetrieb stattgefundene Absageflut russischer Künstler und Künstlerinnen. Ob bei der Buchmesse in Frankfurt oder auf dem Festival von Cannes – oft werden die Künstlerinnen und Künstler ohne jedwede Differenzierung dazu benutzt zu demonstrieren, dass man als Institution auf der richtigen Seite steht. Die Betroffenen werden dabei nicht mehr als Individuen mit einer eigenen Geschichte gesehen, sondern reduziert auf ihr Russisch-Sein. Für die Ausgeschlossenen bedeutet das unter Umständen eine existenzielle Bedrohung. Den Institutionen entgeht damit nicht nur die Möglichkeit, nichtregierungstreuen Stimmen aus der russischen Gesellschaft einen öffentlichen Raum zu schaffen, sondern sie zeigen dabei selbst ein intolerantes Verhalten, gegen das sie angeben, aufbegehren zu wollen.
Auch im gesellschaftlichen Miteinander offenbart sich diese hässliche Fratze zunehmend. Wie Polizeiberichte deutlich machen, haben die gewaltvollen Übergriffe auf Russen und Russinnen signifikant zugenommen. Dies reicht von Sachbeschädigungen, über Beleidigungen bis hin zu Drohungen und Tätlichkeiten. Sogar Kinder werden offenbar Opfer von Übergriffen. Es ist wichtig, diese Ereignisse nicht zu übergehen, sondern sie als die Kehrseite der Solidaritäts- und Identitätsbekundungen zu begreifen. Nur so kann dem damit verbundenen Problem angemessen, nämlich mit Mut zur Differenzierung, begegnet werden. Bloßes Identifikationsdenken tendiert zu einer vereinfachten Binarität zwischen Wir und den Anderen. Dies macht zwar Sachverhalte einfach, führt aber sowohl zu Intoleranz als auch zum kategorischen Ausschluss von möglicherweise unschuldigen Menschen. Darüber hinaus birgt eine zu große Selbstvergewisserung der eigenen Werte die Gefahr, blind für die Schwächen, blinden Flecken und Fehler des eigenen Gesellschaftsmodells zu machen. Wer den Westen unangefochten preist, übersieht seine sozialen, gesellschaftlichen und politischen Defizite sowohl auf globaler als auch nationaler Ebene. Es gilt deswegen eine Solidarität zu praktizieren, die sich nicht in dieser einfachen Binarität verliert, sondern Raum für Komplexität zulässt. Dies bedeutet nicht, russischen Nationalisten, wie sie sich bspw. in den Autorkorso-Demonstrationen zeigen, nicht entgegenzutreten und zu verurteilen – im Gegenteil! Aber es bedeutet eben auch, sorgfältig zu differenzieren, um den tatsächlichen Menschen im Gegenüber und nicht einzig dessen Nation zu sehen.
Fragen wir jetzt nach dem Sinn der Solidaritätsbekundungen, muss die Antwort zwiegespalten ausfallen: Auf der einen Seite sind sie eine sehr wichtige gesellschaftliche Praxis. Für die vom Krieg Betroffenen bedeuten sie Unterstützung, Mut und das Gefühl, nicht allein in ihrem Leid zu sein und für die sich solidarisch zeigenden Gesellschaften dienen sie dazu, sich performativ ihren eigenen gemeinschaftlichen Werten zu versichern und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Auf der anderen Seite jedoch drohen die Bekundungen durch und durch kommerzialisiert zu werden und dadurch zu bloßen Instrumenten einer kapitalistischen Marktlogik zu verkümmern. Zugleich laufen sie Gefahr, selbst zu Motoren von ausschließenden Praktiken zu werden. Es gilt, sich diese Schattenseiten ins Bewusstsein zu rufen und trotz der Schrecken, die der Krieg uns täglich vor Augen führt, in unserer Solidarität mit den Betroffenen nicht den Mut zur Differenzierung zu verlieren. •
Weitere Artikel
Verzeihen - Gibt es einen Neuanfang?
Wo Menschen handeln, entsteht Schuld. Und manchmal wiegt sie so schwer, dass kein Heil mehr möglich scheint. Was, wenn eine Schuld nie beglichen werden kann? Wie sich befreien aus der Fixierung auf etwas, das sich nicht mehr ändern lässt? Wer sich diese Fragen stellt, ist bereits in jenen Möglichkeitsraum eingetreten, den die Philosophie eröffnet. Das Verzeihen ist der Weg, das Gewesene zu verwandeln und neu zu beginnen: Darin waren sich Denkerinnen und Denker wie Friedrich Nietzsche, Hannah Arendt und Paul Ricœur einig. Aber wie wäre er zu beschreiten, dieser Weg? Wo liegt die Grenze des Verzeihbaren? Und was wird aus dem berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit? Ein Dossier mit Impulsen für die Zurückgewinnung der Zukunft.
Die Unsterblichkeit des Souveräns
Die Krönung von Charles III. mag wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten gewirkt haben. Wer aber genauer hinsieht, wird feststellen, dass moderne Demokratien auf demselben Souveränitätsdenken gründen wie die Monarchie. Mit weitreichenden Folgen, meint Friedrich Weißbach.

Was heißt Dialektik?
„Das ist dialektisch!“ In manchen Kreisen sagt man damit nicht nur, dass etwas komplex ist, sondern signalisiert, dass man tiefgründig denkt. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff? Eine Erklärung von Friedrich Weißbach.

Lützerath: Wer ist hier undemokratisch?
Als Protest gegen den geplanten Abriss des Dorfes Lützerath zur Abtragung von Kohle kam es zu zahlreichen Blockaden durch Klimaaktivisten. Ihr Widerstand wurde von vielen Politikern als antidemokratisch angeklagt. Schaut man jedoch genau hin, zeigt sich: Die vermeintlichen Demokraten sind die eigentlichen Antidemokraten.

Die Zukunft sehen
Was unterscheidet eine Vision von unrealistischen Träumereien? Bergen diese nicht auch die Gefahr, als Legitimierung für totalitäre Praktiken zu dienen? Ein Blick in die Ideengeschichte zeigt, dass es gerade jetzt an der Zeit sein könnte, ihr rettendes Potenzial wiederzuentdecken.

Per Leo: „Die identitäre Fixierung auf den Holocaust löst keine Probleme mehr, sie schafft neue“
Die Singularität des Holocaust galt lange als unbestreitbar. Nun regt sich Widerspruch. Wie erklärt er sich? Und ist er berechtigt? Ein Interview mit dem Historiker und Schriftsteller Per Leo.

I - Sind wir zu feige?
Kein Zweifel: Unfreiheit engt ein. Gleichzeitig aber kann sie uns tief beruhigen und auch entlasten. Schließlich sind Änderungen anstrengend und gehen mit Verantwortung einher. Brauchen wir also nur mehr Mut? Darüber streiten auf diesen Seiten Ayn Rand und Max Horkheimer. Anschließend erzählen fünf Menschen von ihren Lebensträumen – kommentiert von Robert Pfaller
Die Städte der Anderen
Offenbach und Zwickau, zwei deutsche Städte, wie sie auf den ersten Blick nicht ähnlicher sein könnten. Beide gleich groß, beide ehemalige Industriezentren, beide mit niedriger Arbeitslosenquote. Was sie radikal voneinander unterscheidet, ist ihr Verhältnis zum Anderen. Denn das hessische Offenbach hat mit 57 Prozent den höchsten Migrantenanteil der BRD, das sächsische Zwickau gehört mit 2,6 Prozent Ausländeranteil hingegen zu den kulturell einheitlichsten Städten der Republik. Beispielhaft stehen sie damit für zwei alternative Visionen eines Deutschlands der Zukunft: Hybridität versus Homogenität, Multikulti oder Leitkultur, dynamische Polyphonie gegen klassische Harmonie. Eine Doppelreportage auf der Suche nach der Funktion des Anderen in unserer Mitte
Kommentare
Entsprechend Ihres hier veröffentlichten Links, stammt die zurecht kritisierte „Lego“-Figur nicht von der Firma „Lego“, sondern von „Citizen Brick“ - ich halte es für dringend geboten, hier differenziert zu berichten - sofern es nicht eine mir nicht bekannte Verbindung zwischen diesen Firmen gibt. Ansonsten kann ich Ihrem Text nur zustimmen!
Danke für den hervorragenden Impuls zum Nachdenken!