Dieter Thomä: „Die USA laufen Gefahr, sich in zwei gänzlich parallele Gesellschaften zu entwickeln“
Viele der Kriminellen, die am 6. Januar das Kapitol stürmten, inszenieren sich als Helden. Der Philosoph Dieter Thomä erläutert, warum sie genau das Gegenteil sind, die Demokratie aber dennoch „radikale Störenfriede“ braucht.
Herr Thomä, kurz vor dem Sturm auf das Kapitol am Mittwoch heizte Donald Trump Jr. die Anhänger seines Vaters mit den Worten an: „You can be a hero, or you can be a zero. And the choice is yours.“ Sinngemäß also: „Jeder von euch kann heute ein Loser oder ein Held sein. Die Entscheidung liegt bei euch.“ In Ihrem Buch Warum Demokratien Helden brauchen (Ullstein, 2019) haben Sie sich intensiv mit eben diesen auseinandergesetzt. Wie kommt es, dass sich die Anhänger eines marodierenden Mobs selbst als Helden verstehen können?
Spannend an diesem Ausspruch Trump Jr.s ist ja, dass ihn niemand wirklich befolgt hat. Denn die Kriminellen, die das Kapitol gestürmt haben, waren maximal das, was man als dienende Helden bezeichnen könnte. Schließlich stellte sich keiner von ihnen hin und wies mit einer Aussage oder Geste über sich selbst hinaus auf ein größeres Anliegen, wie es echte Helden tun. Mir ist kein Ausruf bekannt, wie: „Jetzt bin ich der Führer von ‚Make America Great Again‘! Folgt mir!“ Sie alle begnügten sich mit Selfies und Randale oder nahmen kurz auf Stühlen im Senat Platz. Darin waren sie sich genug, weil sie diese Position nicht wirklich einnehmen, sondern den Platz nur symbolisch für Trump warmhalten wollten. Oder anders formuliert: Sie stützten ihre Identität nicht wie Helden auf übergeordnete Werte oder eine größere Mission, sondern ausschließlich auf eine Person, die sie als Führer akzeptierten. Man sollte mit solchen Vergleichen meiner Meinung nach vorsichtig sein, dennoch bringt es folgender Satz von Adolf Hitler hier gut auf den Punkt, der da lautet: „Alles, was ihr seid, verdankt ihr mir; alles, was ich bin, verdanke ich euch.“ In diesem Sinne gaben diese verschiedensten Leute alles, um von Trump ein „Ich liebe dich!“ zu bekommen.
Sie sprechen von „diesen verschiedensten Leuten“ und weisen so auf die Unterschiedlichkeit der Kriminellen hin. Was hält eine so heterogene Gruppe von Menschen zusammen?
Hier lohnt ein zweiter Blick. Natürlich standen da knallharte Nationalisten neben vermeintlichen Hippies und Leuten mit indigenem Kopfschmuck, was auf den ersten Blick den Anschein von Heterogenität erzeugen mag. Allerdings kann man von wirklicher Vielfalt nicht sprechen, sobald man von der Oberfläche absieht und schaut, was diesen Mob tatsächlich zusammenhält. Im Kern steht nämlich nicht die Überzeugung, dass sich eine Einheit bilden lässt, die Verschiedenstes in sich aufnehmen kann, sondern – ganz im Gegenteil – das Motto: Jeder macht sein Ding, aber alle schwören auf einen Anführer. Wobei der zweite Teil natürlich der entscheidende ist. Und tatsächlich hat es in der Vergangenheit auch gut funktioniert, dass die Leute, bildlich gesprochen, an dem Typen neben sich nicht viel finden konnten, was er mit ihnen gemein hatte, sie aber sofort wussten, warum sie auf einer Wahlkampfveranstaltung waren, sobald sie nach oben schauten – denn dort stand Donald. Solche vermeintlich heterogenen Zusammenschlüsse sind auch für kurzfristige Aktionen geeignet. Allerdings beginnen die Probleme, wenn die Person da oben weg ist, da solche Formationen vertikal stabilisiert sind, es also jemanden an der Spitze gibt, auf den sich alle einigen können. Insofern schienen die Menschen im Kapitol vielleicht heterogen, waren aber in Wahrheit recht einförmig. Mir macht diese Beobachtung jedenfalls Hoffnung, dass sich der vielzitierte Trumpismus ohne Trump nicht wird durchsetzen können.
Neben dem bereits angesprochenen Typus des Helden haben Sie sich in Ihrem Buch Puer robustus: Eine Philosophie des Störenfrieds (Suhrkamp, 2016) auch mit einer ganz anderen gesellschaftlichen Figur beschäftigt. Beschreibt diese Trump und seine Anhänger adäquat?
In dem Buch zeichne ich nach, dass der Prototyp des Störenfrieds als Gestalt eines Menschen, der die bestehende Ordnung bedroht, philosophiehistorisch zum ersten Mal im Jahr 1647 bei Thomas Hobbes auftaucht. Er steht also am theoretischen Ursprung der modernen Politik. Hobbes spricht davon, dass „ein böser Mann so ziemlich einem kräftigen Knaben oder einem Manne mit kindischem Sinne gleicht“. Kräftiger Knabe heißt auf Lateinisch „puer robustus“, deshalb die Bezeichnung. Hobbes’ gesamte politische Theorie beruht darauf, eine Ordnung zu errichten, die aus einer freien und vernünftigen Entscheidung der betroffenen Personen hervorgeht. Das ist das Konzept des Leviathans: Man tritt als Subjekt gewisse Rechte an den Staat ab und unterwirft sich freiwillig gewissen Regeln, weil man einsieht, dass das besser für alle und vor allem für einen selbst ist. Der puer robustus ist deshalb der hobbessche Albtraum eines Menschen, der dieses bürgerliche Spiel nicht mitspielt, der die vorgeblich vernünftigen Regeln nicht einsieht, ihnen nicht folgt.
Gleichwohl stellen Sie auch die positive Kraft von Schwellenfiguren heraus, die Alternativen zur Ordnung aufzeigen.
Richtig, denn der Störenfried als solcher hat auch einen enormen Lebenshunger und das Potenzial zur produktiven Störung. So ergibt sich gerade in sogenannten offenen Gesellschaften eine interessante Spannung. Welche Störung gefährdet die Gesellschaft? Welche bringt sie weiter? Es gibt darauf keine Antworten a priori. Darin besteht ja gerade das Abenteuer der Demokratie. Demokratien ohne radikale Störenfriede sind jedenfalls keine. Brandgefährlich wird es allerdings, wenn Störer anfangen, sich in einer eigenen, ganz fest gezimmerten Welt der Vorurteile einzurichten, wohingegen der wahre Störenfried in einer Demokratie immer eine Art Ungewissheit hat und sich noch nirgendwo richtig eingerichtet hat. Pathetisch ausgedrückt: Der Moment, in dem sich der Störenfried irgendwo einrichtet, ist der, in dem er sich selbst verrät. Er wird dann selbst zum rechthaberischen Dickkopf. Und genau das ist es, was Populisten wie Trump und seine Anhänger ausmacht.
Wie würden Sie denn die Tatsache bewerten, dass, wenn auch leider im aufmerksamkeitsökonomischen Schatten der Kapitolsstürmung, mit Jon Ossoff und Raphael Warnock der historisch jeweils erste jüdische und schwarze Senator Georgias gewählt wurde, weshalb die Demokraten de facto nun über eine Mehrheit im Senat verfügen? Sind sie die eigentlichen Helden der letzten Tage?
Ich würde sie jedenfalls nicht als Helden bezeichnen, weil man den Heldenbegriff weder zu sparsam noch zu freigiebig einsetzen sollte. Zum Helden gehört schlicht und einfach, dass jemand in extreme existentielle Situationen hineingerät und sich zu bewähren versucht. Ein Kriterium, das durch den Gewinn einer Wahl – wenn auch einer derart wichtigen – nicht erfüllt ist. Die kommende Regierung hat allerdings sehr wohl die Chance, Großes zu bewirken. Was aktuell in den USA stattfindet, ist nämlich ein bedrückendes und gleichzeitig interessantes Experiment. Die schon lange parallel existierenden Echokammern in den USA laufen tatsächlich Gefahr, sich in zwei gänzlich parallele Gesellschaften, ja Welten zu entwickeln. Jenseits aller konkreten Projekte und Pläne geht es nun um so etwas wie Wiedervereinigung, und die Deutschen wissen, wie schwierig das ist. Zentral für die Frage, ob Einigung möglich ist, wird auch sein, welchen Weg die Republikaner einschlagen werden. Bisher hat die Partei meist zwar mit dem Feuer gespielt, es aber schlussendlich doch nie eröffnet. Nach dem Sturm aufs Kapitol leiden nun doch auch viele Republikaner am Trump-Trauma. Ihnen ergeht es wie Kindern, die nach vier Jahren Nonstop-Achterbahn aussteigen und merken, dass sie den Orientierungssinn verloren haben. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie in dieser Situation zurück zu Donald flüchten, doch er wird ihnen fehlen. Es bleibt die Gefahr, dass die USA zum ersten Staat der Welt wird, der de facto aus zwei Welten besteht, also tagein, tagaus ein Doppelleben führt. •
Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und zurzeit Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton. 2019 erschien von ihm „Warum Demokratien Helden brauchen“ bei Ullstein sowie „Puer robustus: Eine Philosophie des Störenfrieds“ in einer erweiterten Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp.
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