Ein weiter, kosmopolitischer Geist
Mit 93 Jahren verstarb gestern der Theologe und Intellektuelle Hans Küng. Der Philosoph Claus Dierksmeier würdigt einen großen Denker, dem es stets um Geistes- und Herzensbildung gleichermaßen ging.
Hans Küng war einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Weil es ihm gelang, die Zeitgeschichte sprachlich wie sachlich treffend in Gedanken zu fassen, wurde er weltweit als Leuchtturm ethischer Orientierung wahrgenommen. Durch seine Erklärung zum Weltethos, mit der sich 1993 das Weltparlament der Religionen in Chicago zu global übereinstimmenden Werten bekannte, schrieb er Geschichte. Von frühen Schriften zur theologischen Aussöhnung der christlichen Kirchen über seine dem Frieden unter den Religionen dienenden Forschungen bis hin zu seiner letzten, der Globalisierung gewidmeten Schaffensperiode zog sich ein roter Faden durch sein Werk: die Suche nach moralischen Haltungen, auf die sich Menschen überall, Gläubige ebenso wie Nichtgläubige, einigen können.
Jenseits seiner viel beachteten Kirchenkritik arbeitete Hans Küng an den großen Fragen der Menschheit – und zwar transdisziplinär. Nicht nur theologische, auch soziologische, politologische und vor allem philosophische Argumente tragen sein Werk. Insbesondere in seinen Büchern Existiert Gott? und Menschwerdung Gottes zeigt sich, wie souverän Hans Küng sich in der Geschichte der Philosophie bewegte und sich in systematischen Fragen mustergültig klar zu positionieren wusste.
Prinzipienfest ohne Starrheit
Der weite, kosmopolitische Geist seiner Schriften kam nicht von ungefähr. Wer Hans Küng aus der Nähe kennenlernen durfte, schätzte ihn als ungewöhnlich warmherzigen und großzügigen Menschen. Kein Gedanke war zu groß, aber auch kein persönliches Anliegen zu klein für seine aufrichtige Anteilnahme. Humorvoll, ohne herabzusetzen; brillant, ohne aufzutrumpfen; seelsorgerisch, ohne Aufdringlichkeit; prinzipienfest, ohne Starrheit; höflich, ohne Floskeln; und taktvoll, ohne Gespreiztheit: Gespräche mit Hans Küng waren Lehrstücke zur Kultivierung des Geistes ebenso wie zur Herzensbildung.
Hans Küng gab und gibt Hoffnung. Aufrechter Gang bei Anfechtung und Haltung trotz Gebrechlichkeit – in Person und Werk hat er der Menschenwürde ein unverkennbares Antlitz gegeben. Dass sein Geist fortlebt, dafür bürgen nicht nur seine Schriften, sondern auch das Projekt Weltethos, mit dem Hans Küng eine Idee artikulierte, deren Zukunft gerade erst anbricht. •
Claus Dierksmeier, Professor für Globalisierungsethik an der Universität Tübingen, wurde von Hans Küng als Gründungsdirektor für das Weltethos-Institut berufen und leitete es von 2012 bis 2018.
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