Emmanuel Lévinas und das Antlitz
Philosophen formulieren oft provokant und scheinbar unverständlich. Gerade diese rätselhaften Sätze sind der Schlüssel zum Gesamtwerk. Welche Bedeutung hat das Antlitz für Emmanuel Lévinas? Wir klären auf.
Rosige Wangen, weit aufgerissene Augen, heller Teint und ein Engelsgesicht. Wenn sich ein pausbäckiges Antlitz so darbietet, atmet es Unverbildetheit und Schwäche. Es ruft geradezu dazu auf, ihm Gewalt anzutun. So jedenfalls versteht es der französische Philosoph Emmanuel Lévinas (1905-1995) in seinem Werk Ethik und Unendliches. Und der sanfte Humanist jüdischen Glaubens fügt sogar noch hinzu: „Im Antlitz des anderen ist stets eine Ahnung seines Todes präsent, und deshalb, in gewisser Weise, auch die Anstiftung zum Mord.“ Emmanuel Lévinas ist dem Holocaust, dem seine Familie zum Opfer gefallen war, entkommen. Seine Biografie war somit von der Erfahrung des radikal Bösen geprägt, das er als eine urmenschliche Neigung betrachtet.
Dem Anderssein Sinn geben
Doch trägt dieses zum Mord herausfordernde Antlitz in sich auch eine Zerbrechlichkeit, die paradoxerweise Wohlwollen hervorruft. Jede Konfrontation mit dem Antlitz eines anderen ist nach Lévinas die Erfahrung einer entscheidenden Beziehung, welche meine egoistische Ruhe herausfordert und stört. Das Antlitz entwaffnet durch seine Entblößung, macht den anderen aber gleichzeitig fundamental unerreichbar – ich werde niemals er oder sie sein können, niemals die Welt mit den Augen dieses anderen sehen. Diese grundlegende Unerreichbarkeit des anderen unterstreicht für Lévinas die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen sowie des Göttlichen (des Anderen mit einem großen „A“) im Menschlichen. Dem Antlitz des anderen Gewalt anzutun, ist also ein Versuch, mir diesen Teil des anderen, der sich mir entzieht, anzueignen, indem ich ihn entweder vollkommen beherrsche oder gar völlig auslösche.
Mehr als eine physische Realität, verkörpert das Gesicht bei Lévinas somit ein metaphysisches Konzept, das dem Anderssein einen Sinn verleiht, der jeder Verdinglichung oder jeder Reduktion des anderen auf eine Sache zuwiderläuft. Positiv gewendet bedeutet die Nacktheit des menschlichen Antlitzes für ihn einen Aufruf zum Respekt, zur fundamentalen Achtung von dessen uneinholbarer Andersartigkeit. „Das ist das Paradoxe daran“, schreibt der Philosoph im selben Kontext, „das Antlitz steht auch für ein ‚Du sollst nicht töten!‘“ •
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Das Ideal der Intensität
Man kennt es aus Filmen und Romanen: Die Frage nach dem Lohn des Lebens stellt sich typischerweise erst im Rückblick. Als Abrechnung mit sich selbst und der Welt. Wenn das Dasein noch mal vor dem inneren Auge vorbeifliegt, wird biografisch Bilanz gezogen: Hat es sich gelohnt? War es das wert? Würde man alles wieder so machen? Dabei läge es viel näher, die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, nicht so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sondern sie zum Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Zum einen, weil sie so gegen spätere Reuegefühle imprägniert. Wer sich darüber im Klaren ist, was das Leben wirklich lebenswert macht, wird gegenüber dem melancholischen Konjunktiv des „Hätte ich mal …“ zumindest ein wenig wetterfest. Zum anderen ist die Frage als solche viel dringlicher geworden: In dem Maße, wie traditionelle Bindungssysteme an Einfluss verloren haben, also etwa die Bedeutung von Religion, Nation und Familie geschwunden ist, hat sich der persönliche Sinndruck enorm erhöht. Wofür lohnt es sich, morgens aufzustehen, ja, die Mühen des Lebens überhaupt auf sich zu nehmen? Was genau ist es, das einem auch in schwierigen Zeiten Halt verleiht? Und am Ende wirklich zählt – gezählt haben wird?
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Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.