Ethik der Sanktionen
Die Sanktionen gegen Russland bergen ein moralisches Dilemma. Sie sollen helfen, Gewalt zu unterbinden – doch gehen sie selbst mit einem hohen Schaden für unschuldige Menschen einher. Ein moralphilosophischer Klärungsversuch von Felicitas Holzer.
Der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine und die darauffolgenden Sanktionen des Westens haben zu einer Debatte geführt, die realpolitische Abhängigkeiten und idealpolitische Imperative abzuwägen sucht. Oft wird vorgebracht, die Bundesregierung handle unsolidarisch, wenn sie die Versorgungssicherheit des eigenen Landes in den Mittelpunkt stellt. Forderungen nach schärferen Sanktionen werden lauter, wohl wissend, dass Frieden und Freiheit nun mal teuer sind. Doch wem genau sind welche Kosten zuzumuten? Immerhin sind von Sanktionen auch Menschen in Russland betroffen, die keine Schuld tragen an Putins Angriffskrieg. Welche Kriterien also entscheiden darüber, ob Sanktionen sinnvoll und gerechtfertigt sind?
Um diese Diskussion normativ zu rekonstruieren, scheint es, dass es ein einschlägiges Argument für eine Ausweitung der gegenwärtigen Sanktionen gibt. Dieses wäre, dass Geschäfte mit Aggressoren untersagt werden müssen, vor allem dann, wenn sie der Finanzierung des Krieges dienen. Das Narrativ der unbedingten Solidarität gegenüber dem ukrainischen Volke verlangt, dass auch der Bezug von fossilen Energieträgern aus Russland eingestellt wird.
Man könnte das Argument auch als einen kategorischen Imperativ formulieren, der zur Maxime hat, dass Aggressoren nicht finanziell in ihren grausamen Vorhaben unterstützt werden dürfen. Ein kategorischer Imperativ nach Immanuel Kant ist ein Leitsatz, eine sogenannte Maxime, die zu einem allgemeinen moralischen Grundsatz erhoben werden kann. Kants Ethik gehört damit zu den deontologischen Moraltheorien, das heißt Theorien, die den moralischen Status einer Handlung nicht anhand ihrer Konsequenzen bestimmen. Eine Handlung ist vielmehr dann moralisch legitimierbar, wenn sie einer normativ verpflichtenden Regel oder einem Leitprinzip gemäß begangen wird.
Verletzung der Menschenwürde
Allerdings birgt der oben dargestellte Grundsatz ein entscheidendes Problem: Umfassende Wirtschaftssanktionen zielen immerzu auf die Gesamtbevölkerung eines Angreiferstaates ab. Das heißt, wenn nicht nur bestimmte Personengruppen, wie Oligarchen, oder gezielte Bereiche, wie Waffenlieferungen, sanktioniert werden, sondern Import- und Exportbeschränkungen sich auf alle Wirtschaftszweige ausweiten, dann leidet vor allem die Zivilbevölkerung und nicht unbedingt nur die Kriegsmaschinerie.
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