Gefangen in Retrotopia?
Ob Twin Peaks, Gilmore Girls oder Godzilla: Kinos und Streamingdienste setzen immer mehr auf Fortsetzungen, Neuauflagen und Remakes des Altbekannten. Handelt es sich dabei um nostalgische Einfallslosigkeit? Oder birgt die Variation des Bewährten vielmehr große Chancen?
Als David Lynchs Kultserie Twin Peaks 1991 ins Fernsehen kam, wirkte sie bereits retro. Die unheimliche Stimmung in der amerikanischen Kleinstadt, in der der gutaussehende Agent Cooper den Mord an der jungen Laura Palmer aufklären soll, schwebt zeitlich zwischen einem 50er-Jahre-Diner-Charme und einer 80er-High-School-Story. Als Lynch über 25 Jahre später ein Sequel der Serie veröffentlichte, traf er hingegen ganz den Zeitgeist. Seit einigen Jahren nämlich sprießen Neuauflagen, Reboots, Fortsetzungen und Spin-offs von erfolgreichen Filmen und Serien wie Pilze aus dem Boden. So gab es etwa nach langer Pause Fortsetzungen von Gilmore Girls, Roseanne und Akte X, Remakes von MacGyver, Magnum und Leathal Weapon, Spin-offs von Star Wars (The Mandalorian), The Bing Bang Theory (Young Sheldon) und Breaking Bad (Better Caul Saul), während der Cast der vielleicht berühmtesten Sitcom der Welt, Friends, sich kürzlich immerhin zu einer massiv beworbenen Reunion-Show traf. Ganz ähnlich sieht es im Filmgeschäft aus. Die Studios setzen immer mehr auf etablierte Marken und Stoffe. Ist die The Fast and the Furious-Reihe mittlerweile neunteilig, bevölkern bekannte Helden und Monster wie Batman, die Avengers, King Kong oder Godzilla in immer kürzeren Abständen die Leinwände.
Unsere Gegenwart ist in einem Loop gefangen, in dem sie Altbewährtes immer wieder aufleben lässt. Das war, vor allem auf Musik bezogen, die These von Retromania, dem 2012 erschienenen Buch des britischen Poptheoretikers Simon Reynolds. Noch einen Schritt weiter ging der Soziologe Zygmunt Bauman, der in seinem gleichnamigen Essay von 2017 den gesellschaftlichen Zustand auf den Begriff „Retrotopia“ brachte, einer Welt also, in der sich die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zerschlagen und die Utopien ihre Strahlkraft verloren haben. Das Einzige, was noch plausibel für Inspiration sorgen kann, ist demnach die untote Vergangenheit. Nach dem Motto: Es soll werden, was schon war. Nun scheint zwar allen Beteiligten klar, dass die Vergangenheit gar nicht so unschuldig und problemfrei gewesen ist, wie man es gerne hätte. Dennoch hat sie unserer Gegenwart eines voraus: Damals hat es noch einen Glauben an die Zukunft gegeben. Dass letztere besser wird als die Gegenwart, das scheint nach internationalem Terror, Finanzkrise, Pandemie und sich verschärfenden Klimawandel nämlich kaum noch jemand anzunehmen – was sich wiederum immer stärker in der Popkultur widerspiegelt.
Hannah Arendt Superstar
Doch sind diese nostalgisch imprägnierten Dauerschleifen auf den Bildschirmen tatsächlich so einfallslos und unoriginell, wie es im ersten Moment den Anschein hat? Dass Serien und Filme in großer Zahl neu aufgelegt werden, dafür gibt es zunächst einmal auch ganz simple ökonomische Gründe, die sich in der Pandemie noch verschärft haben. Große, bekannte Namen und Marken sorgen in einem hochgradig umkämpften Markt für verlässliche Einschaltquoten. Und je umfangreicher und unübersichtlicher das Angebot ist, desto mehr hält sich das Publikum an das Gewohnte. Serien tragen schließlich schon durch ihre Form dazu bei, dass man sich nicht jeden Abend, müde von der Arbeit, zwischen tausenden Filmen entscheiden muss, sondern sich mit dem Setting und den Figuren, der Stimmung und dem Stoff bereits auskennt. Ähnlich ist es auch bei Neuverfilmungen und Fortsetzungen: Wo Batman drauf steht, wird wohl auch ein Batman drin sein. Sogar in der Philosophie lässt sich ähnliches beobachten: Manche Namen, man denke etwa an Hannah Arendt, haben mittlerweile eine derartige Strahlkraft, dass sie wie ein TÜV-Siegel wirken. Es kommt einem intellektuellen Ritterschlag gleich – und ist nebenbei ein sehr wirksamer Marketing-Hebel –, wenn Arendt ein Buch für klug befunden hat.
Nun muss es sich bei dieser zunehmenden Konzentration auf das Bekannte und Etablierte aber eben nicht zwangsläufig um Formen kultureller Stagnation und regressiver Einfallslosigkeit handeln. Denn nicht jede wieder aufgewärmte Sache – das lehrt einen kulinarisch bereits der Zwieback, der seine entscheidende Qualität erst beim zweiten Mal im Ofen gewinnt – ist schlechter. Und bisweilen gilt das auch für Kultur und Philosophie. Hannah Arendt etwa war zu ihren Lebzeiten nicht nur sehr umstritten, sondern wurde bis vor Kurzem auch weit weniger gelesen und rezipiert. Und ist es nicht auch ein generelles Merkmal kultureller Artefakte, dass sie, nachdem sie in die Welt gesetzt wurden, ein Eigenleben entfalten und sie mitunter, weil sich die Zeiten geändert haben, Jahre nach ihrem Erscheinen neue Aktualität gewinnen können? Ja, war Kultur nicht immer schon eine große Wiederaufbereitungsanlage, in der zitiert, variiert und neu aufgelegt wird? Geht es in Musik, Literatur, den Künsten und der Philosophie nicht seit je her nur bedingt um Originalität im engeren Sinne, sondern vielmehr um die Frage, wie ein bereits bekanntes und als bekannt vorausgesetztes Thema erzählt, ausgestaltet und inszeniert wird? Schließlich kann auch die x-te Romeo und Julia Geschichte insofern originell sein, als dass ihre Variation einen – neuen – Nerv zu treffen vermag. Und auch vor Romeo und Julia hat es in der Literatur tragische Liebesgeschichten gegeben.
Psychologie der Monster
Denn das große Potenzial von Variationen liegt darin, dass sie Geschichten im Idealfall komplexer machen. Die Variation ist die Fußnote zum Altbekannten, in der steht: Es ist vielleicht doch alles etwas komplizierter. Helden werden brüchiger und sind auf einmal in moralischen Konflikten gefangen, während gleichzeitig die Monster und Bösewichte eine Ambivalenz gewinnen, indem man erfährt, warum sie sind, wie sie sind. Und genau das lässt sich momentan durchaus beobachten. Während vormals so ungebrochene Heroen wie Batman oder James Bond veritable Identitätskonflikte bekommen, offenbaren sich Joker, Godzilla und Co. nunmehr als keineswegs mehr pures Böses, sondern zumindest partiell als Produkte ihrer Umwelt.
Nicht zuletzt offenbart sich das auch in den neuen, 2017 ausgestrahlten Folgen von Twin Peaks. Dort taucht ein 25 Jahre älter gewordener Agent Cooper, weiterhin von Kyle MacLachlan gespielt, wieder auf – und leidet an Demenz. Der attraktive, heldenhafte Detektiv mit seiner unfehlbaren Intuition ist auf einmal ein orientierungsloser, hilfloser älterer Mann. In der surrealen Welt von Twin Peaks ist zwar denkbar, dass es sich nicht um eine altersbedingte Verwirrtheit handelt, sondern Agent Cooper einfach zu lange in der um die Erde kreisenden Teekanne festgesteckte oder beim Reisen von Steckdose zu Steckdose einen Knacks abbekam. Aber natürlich ist es auch ein Kommentar auf das Vergehen der Zeit in Film und Wirklichkeit. Auch das haben Spin-offs, Sequels und Neuauflagen mitunter ihren Originalvorlagen voraus: Weil sie zwangsläufig stark in die Jahre gekommene oder ganz neue Schauspieler und Schauspielerinnen auftreten lassen, sind sie, so abgedreht die Welt, die sie entwerfen, auch sein mag, unserer Wirklichkeit in einer Hinsicht doch viel näher: Anders als die Originale scheinen sie nämlich unausweichlich mit der Tatsache konfrontiert, dass alles, was einmal neu war, alt wird. Zugespitzt könnte man sagen: Es sieht zwar aus wie kulturelle Stagnation, wenn immer nur das Alte neu aufgelegt wird. Darin kann sich aber auch das glatte Gegenteil verbergen, nämlich das Bedürfnis nach einer aktiven Auseinandersetzung damit, dass es Stagnation gar nicht gibt und sich die Zeiten ändern. •
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