Geschenktipps: Liebe zur Weisheit
Philosophisch feiern: Die Redaktion empfiehlt fünf Bücher für ein erleuchtetes Weihnachtsfest.
1 Welt und Wille
Wie vergeht die Zeit für jemanden, der seine Augen vor der Gegenwart verschließt? Werner Herzog stellt diese Frage ins Zentrum seines neuen Buches: Der Autor und Regisseur mit einer Schwäche für Außenseiter, deren Willensstärke ins Verderben führt, erzählt von Hiroo Onoda. Der japanische Soldat hält Nachrichten über das Ende des Zweiten Weltkrieges 30 Jahre lang für feindliche Propaganda und verteidigt eine Insel ohne militärische Relevanz. Mit Öl aus Kokosnüssen hält er seine Waffe instand, jagt Wild und wird eins mit dem Urwald. Die Geschichte im typisch durchdringenden Sound Herzogs sei all jenen ans Herz gelegt, die genug haben von stoisch inspirierten Sinnsprüchen à la: „Wenn dein Verstand eine Festung ist, kann dich nichts in der Welt erschüttern!“ Denn wenn sich die eigenen Kräfte gegen diese Festung wenden, tobt ein innerer Bürgerkrieg in Zeitlupe. Wer das begreifen möchte, findet mit diesem Buch vielleicht ein Stück weit aus dem Dickicht. (Dominik Ehrhard)
Werner Herzog
Das Dämmern der Welt
Hanser, 128 S., 19 €
2 Sein und Nichtsein
Wie erkennt man, worauf es wirklich ankommt im Leben? Nun, indem man es vom Ende her denkt. Das Vorlaufen zum Tode war schon für Martin Heidegger das probate Mittel, um die Essenz der Existenz vom Tand zu trennen. Harald Welzer, den wir als selbstbewussten Freigeist kennen, ist dem Nichts sehr nah gekommen: Er wäre um ein Haar an einem Herzinfarkt gestorben. Und so fragt er sich, wer er dereinst gewesen sein will, projiziert das Futur Zwei – so heißt die klimapolitische Stiftung, deren Direktor er ist – auf das eigene Dasein, indem er einen „Nachruf auf mich selbst“ formuliert. Ein Unternehmen, über dem immer die Gefahr schwebt, in Eitelkeit zu münden. Doch dem Sozialpsychologen gelingt der Balanceakt: durch Ernsthaftigkeit, Witz – und die hohe Kunst der Selbstironie. Ein kluges, philosophisches Buch über Sein und Nichtsein, die Anforderungen an sich selbst, die aus dieser Spannung entstehen und die uns niemand abnehmen kann. (Svenja Flaßpöhler)
Harald Welzer
Nachruf auf mich selbst
S. Fischer, 288 S., 22 €
3 Sturm und Klang
„Keiner sprach über Griechisch-, Armenisch- oder Türkischsein. Wir sprachen von Pasolini, Fellini, Antonioni, Gramsci, Godard, Sartre, Camus, Buñuel, Nâzım Hikmet, über die Surrealisten oder über die komischen Sätze unserer Großmütter.“ Aber dann putscht 1971 das Militär in der Türkei, und eine junge Schauspielerin entscheidet sich, von Istanbul nach Berlin zu gehen, „um das Brechttheater zu lernen“. Die 1970er- und 1980er-Jahre, die Emine Sevgi Özdamar wie ein lebendes Historienbild in Szene setzt, sind nur eine Facette dieses fantastischen Mosaiks, für das die Aufkleber Roman oder Memoir viel zu klein wären. In Özdamars Sätzen summt, hämmert, galoppiert, zirpt und stürmt es, alles ist Rhythmus und Klang. Der Wind auf der türkischen Ägäisinsel, von der öfters die Rede ist, kommt aus allen Himmelsrichtungen – und steckt, wie dieses überbordende Panorama, voller Freundlichkeit, Melancholie, Witz und Poesie. (Jutta Person)
Emine Sevgi Özdamar
Ein von Schatten begrenzter Raum
Suhrkamp, 763 S., 28 €
4 Anfang und Ende
Geschichtsphilosophie ist etwas aus der Mode gekommen, was auch damit zu tun haben mag, dass ihr letzter Aufschlag, Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“, sich als spektakulär falsch herausgestellt hat. In seinem Essay verhilft Moritz Rudolph dieser Disziplin zu einem Comeback. Seine These: Nun steht das Ende der Geschichte tatsächlich bevor, aber nicht dank den USA, sondern Chinas. Hatte Hegels Geschichtsphilosophie im „Reich der Mitte“ begonnen, kehrt der Weltgeist jetzt – wie ein Lachs – an seinen Geburtsort zurück. Schließlich habe sich in China eine Synthese aus Kapitalismus und Kommunismus gebildet, die mit KI auch bald den Menschen verabschiedet. Man muss diesen spekulativen, oft grenznah sophistischen Gedanken gar nicht vollends folgen, um zu erkennen: Solch ein elektrisierendes Gedankenfeuer hat man hierzulande schon lange nicht mehr gelesen. (Nils Markwardt)
Moritz Rudolph
Der Weltgeist als Lachs
Matthes & Seitz, 126 S., 12 €
5 Arm und Reich
The trouble with diversity – der englische Titel ist eine deutliche Anspielung auf Judith Butlers Werk Gender trouble. Walter Benn Michaels attackiert linke Intellektuelle wie Butler, die sich von der Kategorie der „Klasse“ zugunsten ihres Einsatzes für Identitätspolitik verabschiedet hätten. Die Beobachtung, dass die wirklich gravierenden Unterschiede nicht zwischen Weißen und Nichtweißen, sondern zwischen Armen und Reichen bestehen, ist zweifellos nicht neu. Bemerkenswert sind jedoch Michaels’ analytische Klarheit und die polemische Schlagkraft des Buches. Aus identitätspolitischer Sicht gehe es darum, Arme nicht weiter zu diskriminieren. In Wirklichkeit, so der Autor, brauchen diese aber keine Feier ihrer Differenz, sondern deren Überwindung: durch mehr Gleichheit. (Theresa Schouwink)
Walter Benn Michaels
Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren
übers. v. Christoph Hesse
Edition Tiamat, 300 S., 24 €
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Alle Jahre wieder
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Von der Neuerscheinung bis zum Klassiker: In unserem Adventskalender empfiehlt das Team des Philosophie Magazins bis Weihnachten jeden Tag ein Buch zum Verschenken oder Selberlesen. Im 16. Türchen: Unser Redaktionshund Jimmy rät zu Politische Philosophie der Tierrechte von Bernd Ladwig (Suhrkamp, 411 S., 22 €)

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Ein deutscher und ein französischer Philosoph debattieren über den Krieg: Anlass ist ein Appell, in dem bekannte Persönlichkeiten einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine fordern. Christoph Menke ist einer der Unterzeichner und hat Etienne Balibar gefragt, ob er sich dem Appell ebenfalls anschließen will. Unter den beiden Denkern entspinnt sich ein Mailwechsel: In einer ersten Antwort begründet Balibar, warum er viele Sorgen teilt, aber dennoch nicht unterzeichnen möchte. Die Reaktion Christoph Menkes lesen Sie hier.
