Hedwig Richter: „Das Kaiserreich war vielfältig“
Das Deutsche Kaiserreich wird meist mit Militarismus und Kolonialismus assoziiert. Die Historikerin Hedwig Richter zeichnet in ihren Büchern indes ein differenzierteres Bild dieser Epoche. Im Interview spricht sie über die feministische Kraft von Fahrrädern, das Skandalisieren von Armut und die Zwiespältigkeit des Nationalismus.
Frau Richter, 2021 jährt sich die Gründung des Deutschen Reichs zum 150. Mal. Sie haben mit Aufbruch in die Moderne – Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich gerade ein Buch über die Epoche zwischen 1871 und 1918 veröffentlicht. Warum sollte man sich mit dieser Zeit überhaupt noch beschäftigen?
Es lohnt sich deswegen, weil es eine unglaublich dynamische Zeit war, in der viele Menschen bereit waren, Dinge völlig neu zu denken. Was Simone de Beauvoir 1949 in Das andere Geschlecht formulierte, also dass man nicht als Frau geboren, sondern zu ihr gemacht wird, das findet sich bei einigen Intellektuellen schon in dieser Zeit. Etwa bei Hedwig Dohm oder bei Georg Simmel. Sie beschreiben, wie Frauen systematisch bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, um die männliche Herrschaft abzusichern. Es war vor allem auch die Zeit der Sozialdemokratie, die sich die Welt ganz anders vorstellt – und zwar mit ziemlichem Erfolg. Wichtig ist auch: Die Menschen sahen sich in einer Zeit der „Globalisierung“, die Welt wuchs zusammen, was allein schon eine ungeheure Dynamik in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, aber auch in zivilgesellschaftlichen Aufbrüchen auslöste.
Nun verbindet man mit dem Kaiserreich, nicht zuletzt etwa durch Heinrich Manns Der Untertan, vor allem Phänomene wie Nationalismus, Antisemitismus, Chauvinismus, Militarismus und Imperialismus. Sie konstatieren in Ihrem Essay, dass das eine zu einseitige Sicht sei. Weshalb?
Es gab beides, worauf die Forschung übrigens seit einigen Jahrzehnten hinweist. Wenn ich eben betont habe, dass viele Menschen die Welt anders und neu gedacht haben, konnte dies auch hochproblematische und zerstörerische Züge annehmen. Denn der Nationalismus oder Kolonialismus waren ebenso moderne Projekte, die neu und radikal anders dachten. Nationalismus führte einerseits sehr stark zur Exklusion, beförderte also Rassismus, Antisemitismus oder den Kolonialismus. Andererseits kam ihm eine wichtige Integrationsfunktion zu.
Man könnte aber auch argumentieren, dass sich sowohl die Frauenbewegung als auch die Sozialdemokratie vielmehr gegen das politische System des Kaiserreichs entwickelt haben.
Das wird den Phänomenen nicht gerecht, denke ich. Etwa der Sozialdemokratie, die den Parlamentarismus akzeptierte, den Rechtsstaat nutzte und neben ihrer revolutionären Rolle zunehmend einen reformerischen Flügel herausbildete. Als der afroamerikanische Soziologe W.E.B. Du Bois beispielsweise das Kaiserreich besuchte, war er erstaunt darüber, die loyal die Arbeiter gegenüber dem Staat waren und sich mit diesem identifizierten. Die Frauenbewegungen sind ein weiteres Beispiel dafür, dass sich progressive Aufbrüche nicht unbedingt gegen den Staat richteten. Die meisten wollten ihn reformieren, nicht zerstören. Wie in anderen Staaten identifizierte sich der Großteil der Bevölkerung mit der eigenen Nation. Die Wirtschaft brummte, die Wissenschaft blühte, das Schulsystem verbesserte sich und die Gesellschaft wurde – in Grenzen freilich – sozial mobiler.
In Ihrem Buch beschreiben Sie immer wieder eine Art Dialektik des sozialen Fortschritts. Während bestimmte Schichten durch den Nationalismus erstmals wirklich gesellschaftlich inkludiert werden, grenzte er nach außen wieder aus. Ähnliches beim Militarismus: Während dieser – etwa durch das Engagement im „Flottenverein“ – selbst Frauen politische Partizipation ermöglichte, schürte er Aggression gegenüber anderen Nationen.
Deshalb ist es so wichtig, immer beide Seiten zu sehen, nicht zuletzt im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Wenn man sich als Historikerin mit deutscher Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, steht, so denke ich, immer die Frage im Raum, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte. Und dessen Entstehung einfach aus einer Tradition von Untertanentum und autoritären Eliten zu erklären, wäre zu einfach. Dann wären wir heute fein heraus. Doch gerade weil diese Erzählung einer Genese des NS aus dem Geist des deutschen Autoritarismus so einfach ist, ist auch so verführerisch. Tatsächlich ist die Masseninklusion aber stets zwiespältig, Populismus und Faschismus sind immer Versuchungen der Demokratie. Die liberale Demokratie ist deshalb eine Demokratie, die sich selbst zähmt, also rechtsstaatliche Schranken setzt, Minderheiten schützt und Checks und Balances installiert.
Was Sie in Ihrem Essay auch wiederholt betonen, ist die Bedeutung öffentlicher Skandalisierung im Kaiserreich. Sei es in Bezug auf die Auswirkungen der Cholera, die grassierende Armut oder das besonders sadistische Wirken von Kolonialisten wie Carl Peters. War das auch ein Motor für Reformen?
Auf jeden Fall, ja. Zumal es durch die vielen billigen Zeitungen einen Zuwachs an Massenmedien gab. Dadurch wurden Skandalisierungen noch einmal im ganz anderen Ausmaß möglich. Die Skandalisierungen zeugen von einer zunehmenden politischen Inklusion der Bevölkerung. Die Regierungen konnten sich nicht einfach mehr darauf verlassen, die Dinge ohne die Öffentlichkeit regeln zu können. Besonders wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang die Skandalisierung der Armut, die nicht zuletzt durch die Verbreitung von Fotografien angetrieben wurde.
Sie sprachen anfangs bereits über die erstarkende Frauenbewegung. Was bemerkenswert erscheint: Deren Protagonistinnen, etwa Helene Lange, Gertrud Bäumer oder Marie Stritt, sind heute außerhalb der Geschichtswissenschaft kaum bekannt. Warum eigentlich?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen hat es sicher damit zu tun, dass Frauen in der Geschichtsschreibung überhaupt marginalisiert werden, weil Geschichte sehr lange stark männlich gedacht wurde. Zum zweiten liegt es auch daran, dass im Nationalsozialismus organisatorische Strukturen der Frauenbewegungen und Nachlässe zerstört wurden oder Frauenrechtlerinnen ins Exil getrieben wurden. Ein weiterer Grund liegt gewiss auch darin, dass die Geschichtsschreibung lange Zeit das Kaiserreich nur negativ gezeichnet hat. In anderen nationalen Geschichtsschreibungen um 1900 tauchten die Frauen als starke politische Akteurinnen auf, denn auch der Aufbruch der Frauen in dieser Zeit war ein internationales Phänomen. In der Kaiserreichgeschichte hingegen blieben die Frauen lange Zeit eher ausgeblendet. Wenn sie Erwähnung fanden, dann häufig mit dem Verweis auf konservative Ausprägungen, etwa dem Fortbestehen dichotomer Geschlechterbilder oder der starken Betonung der „Mütterlichkeit“. Seit mindestens 20 Jahren gibt es allerdings eine gute Frauengeschichtsschreibung, und es liegen beispielsweise Biographien von Helene Lange oder Anita Augspurg vor.
Aber deren Lebenswege dringen dennoch kaum ins öffentliche Bewusstsein.
Sie passten nicht in das Bild vom Kaiserreich der Militärs, Junker und Großkapitalisten. In dieser Geschichte durften allenfalls noch Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg auftreten. Dabei hat die Forschung mittlerweile gezeigt, dass viele der konservativen Haltungen, die man der ersten deutschen Frauenbewegung vorwirft, auch für andere Länder dieser Zeit galten. Etwa das dichotomische Geschlechterbild oder die Haltung zum Wahlrecht. In England beispielsweise wollten wie in Deutschland einige Frauenrechtlerinnen zwar das gleiche Wahlrecht wie die Männer, was aber keineswegs ein allgemeines und gleiches Wahlrecht bedeutete. Oder in den USA, wo es innerhalb der Frauenbewegung teilweise Rassismus gab: Weiße Frauen empörten sich darüber, dass schwarze Männer wählen durften, sie, die sich als Protagonistinnen der „White Supremacy“ wähnten, jedoch nicht.
Sie erwähnten eben Clara Zetkin und Rosa Luxemburg. Welche Rolle spielte seiner Zeit die sozialistische Frauenbewegung?
Eine ganz wichtige. Die Sozialdemokratie war die erste Partei, die das Frauenwahlrecht forderte. Es gab zwar auch einen spezifischen Antifeminismus in der Arbeiterbewegung. Dazu gibt es momentan von jungen Historikerinnen und Historikern wie Vincent Streichhahn hochinteressante Forschungsarbeiten. Geschlechterordnungen lassen sich niemals und nirgendwo leicht ins Wanken bringen. Deswegen sollte man auch nicht übersehen: Damit die Geschlechterfrage überhaupt in Bewegung kommen konnte, brauchte es mehr als eine linke Kraft, und es musste in allen gesellschaftlichen Bereichen Aufbrüche geben.
Für alle Reformbewegungen im Kaiserreich waren indes nicht nur direkt politische Aspekte von Bedeutung, sondern auch die Veränderung von Alltags- und Freizeitkultur, etwa die Verbreitung von Fahrrädern und Freibädern. Inwiefern?
Wichtig war dafür ein allgemeiner Wohlstandsanstieg. Es gab immer noch schreckliche Wirtschaftskrisen, die insbesondere die ärmsten Bevölkerungsschichten stark traf. Aber im Gegensatz zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es beispielsweise keine flächendeckenden Hungersnöte mehr. Das heißt: Auch wenn Armut und bitteres Elend nicht verschwunden waren und die regionalen Unterschiede groß waren, verbesserten sich doch die Lebensverhältnisse selbst für die Ärmsten, die Wohnverhältnisse, Lebensmittel, die Reallöhne. Und schließlich entwickelte sich auch die Sozialpolitik – und zwar wesentlich durch den Druck der Sozialdemokratie, die zur größten Partei im Reichstag wurde. Und vor diesem Hintergrund entstand dann die Möglichkeit von Freizeitkultur, man war also nicht ausschließlich mit der Existenzsicherung beschäftigt, sondern konnte auch in der Kneipe diskutieren, sich eine Zeitung leisten oder hatte Zeit, sich in einer Partei zu engagieren. Eine angemessene Grundversorgung, zunehmende soziale Sicherheit, aber auch Freizeit und Vergnügen: Sie zeigen, wie sich neue Standards dessen entwickelte, was als angemessen und auch als menschenwürdig galt.
Wenn man jetzt nochmal die Beispiele Fahrrad und Freibad aufgreift, die sich seiner Zeit zunehmend ausbreiteten, dann sind diese ja auch mit der Disziplinierung des Körpers verbunden. Sie betonen im Buch eben diesen Konnex zwischen politischer Massenmobilisierung und körperlicher Disziplinierung. Wie hängt beides zusammen?
Der Konnex von Körper und Demokratiegeschichte ergibt sich zunächst schon daraus, dass Gleichheit und Menschenwürde gar keinen Sinn ergeben, solange Menschen körperlich nicht frei sind, solange sie nicht ihren Körper tatsächlich besitzen. Vor diesem Hintergrund wird auch ein wenig verständlicher, warum Frauen solange selbstverständlich von politischen Rechten ausgeschlossen wurden. Frauen konnten nur in sehr eingeschränktem Maße über ihren Körper verfügen, wie sie überhaupt nur eingeschränkte Besitzrechte hatten. Und das Recht, etwas zu besitzen und auch Verträge abzuschließen, ist ganz wesentlich für alle Vorstellungen von Selbstregierung. Zudem gibt es eine interessante Forschung zu Hygienediskursen, die zeigt, wie eng die Vorstellung körperlicher Selbstbeherrschung mit Geschlecht verknüpft war. Es ist kein Zufall, dass in der Zeit um 1900 viele Veränderungen gleichzeitig stattfinden: Die patriarchalischen Besitzrechte werden kritisiert, häusliche Gewalt wird zum Thema, einige fordern, endlich das unvernünftige Korsett wegzulassen. Und auf den Fahrrädern erringen sich Frauen neue Räume. Amerikanische Frauenrechtlerinnen sollen sogar gesagt haben, dass sie auf dem Fahrrad das Wahlrecht erringen.
Dass die Vorstellungen von der Selbstregierung der Körper sich in dieser Zeit wandeln, machen Sie noch in einem anderen Zusammenhang deutlich. Sie schreiben, dass sich im Kaiserreich eine innere Pazifizierung der Gesellschaft vollzieht. Das klingt erst einmal kontraintuitiv, da man das Kaiserreich ja eher mit einer strikten Durchmilitarisierung verbindet. Ist das auch wieder so eine Dialektik: Während die Gewalt nach innen relativ abnimmt, wird das Auftreten nach außen, allen voran im Kolonialismus, brutaler und aggressiver?
Ja, unbedingt. Was in diesem Zusammenhang auch noch einmal wichtig ist: Durch die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne werden die Staaten in dieser Zeit immer stärker. Die Wirtschaft boomte, die Wissenschaft florierte und Institutionen konnten auf ganz andere Weise „durchregieren“. Und dass der Staat so stark wird, hat auch mit der Idee der Nation zu tun. Die Nation bindet die einzelnen Bürger und Bürgerinnen emotional an den Staat, auch deswegen, weil sie die Gleichheitsvorstellung plausibilisiert. Denn Gleichheit ist ja zunächst erst einmal abstrakt, nichts, was im Alltag direkt spürbar ist. Die Nation sorgte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunächst bei den Männern für eine neue Gleichheit, unabhängig von Stand und Geburt. Die Industriestaaten wurden auch deshalb so stark, weil sie durch Modernisierungsprozesse und die Ausweitung der Masseninklusion Millionen loyaler Menschen hinter sich hatten. Die Ausweitung der Partizipationsrechte in dieser Zeit sollten daher auch gar nicht von dem obrigkeitsstaatlichen Motiv der Disziplinierung getrennt werden. Denn Staaten funktionieren besser, wenn Menschen sich intrinsisch zugehörig fühlen. Dabei entfaltete sich die entsetzliche, die aggressive Seite dieser stark inkludierenden Staaten, der Kolonialismus, Antisemitismus oder auch die Misogynie, die als Reaktion auf die Frauenbewegung aufblühte.
Was im Kaiserreich auch seinen Anfang nahm, waren viele alternative Milieus, deren Linien bis in die Gegenwart reichen, allen voran die Lebensreformbewegung und die Anthroposophie. Welche Rolle spielten diese damals?
Das kommt ein bisschen darauf an. Es werden zuweilen die Extremformen dieser Aufbrüche herausgehoben und die Reformbewegungen generell als apolitisch oder gar präfaschistisch abgetan. Doch die Lebensreformbewegungen waren vielfältig, zu ihr gehörten etwa auch die Gartenstadtbewegung oder der Wandervogel. Neue wissenschaftliche Disziplinen wie die Hygiene legten nahe, wie wichtig Sauberkeit, Sonnenlicht oder Bewegung sind. Die Extreme der Lebensreformbewegung waren für die Mehrheit der Bevölkerung weniger entscheidend als etwa die hygienischen Reformen, die dann auch eine enorme Auswirkung hatten, was sich etwa im massiven Rückgang der Kindersterblichkeit zeigte.
Stichwort Gesundheit: Stimmt es eigentlich, dass für die politische Massenmobilisierung auch die Eindämmung von Alkoholismus und Trunkenheit eine wichtige Rolle spielte?
Ja, das ist ein interessanter Seitenaspekt. In den USA spielte das noch eine wichtigere Rolle als in Deutschland. Alkoholismus wurde in der Zeit als Problem definiert. Man wollte, dass die Menschen diszipliniert und „sauber“ sind und verantwortungsbewusst lebten. Alkohol galt vielen als absoluter Kontrast zu einem gesunden modernen Leben. Auch in der Sozialdemokratie galt der Kampf gegen Alkohol als wichtige Aufgabe.
Und offensichtlich auch ein Problem für den Wahlablauf. Sie deuten in Ihrem Buch zumindest an, dass es in den Wahllokalen, die nicht selten ja tatsächliche Lokale waren, oft zu Schlägereien zwischen Betrunkenen kam.
In den USA wird das besonders deutlich. Wahlen waren im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem Riesengaudi geworden. Denn eine – in der Demokratiegeschichte ganz wichtige – Frage war: Wie bekommt man die Menschen an die Urne? Alkohol war bis ins 20. Jahrhunderts ein wichtiges Überzeugungsinstrument.
Bei der Stimmabgabe gab es also Free Drinks?
Ja, das war oft der Fall. Wobei der Fantasie für Korruption grade in den USA um 1900 keine Grenzen gesetzt waren. Das konnte auch ein Essen oder Geld sein. Immer wieder kam es zudem vor, dass Leute mit Gewalt zum Wählen gezwungen wurden, also vorher eingefangen und zur mehrfachen Abgabe ihrer Stimme in verschiedenen Wahllokalen genötigt wurden. Weltweit sah es im 19. Jahrhundert mit der Disziplin und der Geheimhaltung der Wahlen nicht gut aus. Deshalb finden wir um 1900, im Zeitalter der Massenpolitisierung, Reformen, die solche Probleme einzudämmen versuchten: mit normierten Wahlurnen etwa oder Wahlkabinen oder dem Verbot von Alkohol. Die Durchsetzung der Geheimhaltung, die in Deutschland und vielen anderen Ländern gesetzlich längst gefordert gewesen war, ist ein Hinweis auf die Individualisierung und Differenzierung der Zeit. Die Kirche etwa sollte nicht mehr mitreden, aber auch nicht der Arbeitgeber, indem der Priester oder der Fabrikant beobachteten, wer wie wählte. Auch das reformierte Wahlprozedere hat wieder mit der Disziplinierung der Körper zu tun: Wo darf man rein ins Wahllokal, wo wieder raus, wie viel Zeit hat man für die Stimmabgabe.
Sie haben in dem Gespräch immer wieder auf die Ambivalenz des Kaiserreichs hingewiesen und wenden sich auch in Ihren Büchern gegen die These von einem „deutschen Sonderweg“, wonach es eine direkte Kontinuität vom Traditionsbestand des Kaiserreichs zum Nationalsozialismus gäbe. Joachim Käppner konstatierte in der Süddeutschen Zeitung indes vor kurzem, man könne aus den emanzipatorischen Seiten des Kaiserreichs nicht den Schluss ziehen, es habe den deutschen Sonderweg nicht gegeben. Denn das Argument, das Kaiserreich habe – über den Umweg der Weimarer Republik – nicht in den Nationalsozialismus führen müssen, besitze eine große Schwäche. Denn schließlich sei es eben genau so gekommen.
Das erscheint mir als eine Art von teleologischer Geschichtswissenschaft, die uns nicht viel weitergebracht hat. Deswegen hat man ja auch die Weimarer Republik lange falsch eingeschätzt und ihr demokratisches Potenzial übersehen. Die Forschung der letzten dreißig Jahre hat deutlich gezeigt, wie vielfältig das Kaiserreich war; eine Historikerin wie Margaret Anderson etwa hat die Bedeutung von Wahlen und Parlament deutlich gemacht. Ich schließe mich an diese Forschung lediglich an. Wie häufig kommen die wissenschaftlichen Einsichten erst mit einer Zeitverzögerung im öffentlichen Diskurs an. Das scheint auch beim Kaiserreich so zu sein, wo allmählich ein monolithisches Bild vom Kaiserreich auch in der Öffentlichkeit differenzierter gesehen werden kann. Und schon in den 1980er Jahren ist man zu der Einsicht gekommen, dass der Sonderweg rein theoretisch nicht viel Sinn ergibt: Es müsste dann einen Normalweg geben. Und welches Land sollte den bieten? Die USA? Dänemark, Italien oder doch Frankreich? Um 1900 zeigen die zerstörerischen ebenso wie die progressiven Aufbrüche, wie stark die Welt vernetzt war. Und obwohl sich die Nationen in dieser Zeit zunehmend für auserwählt und großartig hielten, gab es wohl im nordatlantischen Raum mehr Gemeinsamkeiten, als der Nationalismus und spätere nationale Geschichtsinterpretationen wahrhaben wollten. •
Hedwig Richter lehrt als Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Gerade erschien ihr Buch „Aufbruch in die Moderne – Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich“ (Suhrkamp, 175S.). Zuvor veröffentlichte sie „Demokratie – Eine deutsche Affäre“ (C.H. Beck, 2020, 400S.)
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