Holger Schulze: „Schallwaffen sind im Grundsatz antidemokratisch“
Die griechische Polizei setzt seit kurzem Schallwaffen gegen Flüchtlinge ein. Der Musik- und Kulturwissenschaftler Holger Schulze erklärt, welche Schäden diese anrichten, weshalb sie autoritären Regimen als „Diskurskiller“ dienen und wieso sie international geächtet werden sollten.
Herr Schulze, Truppen des griechischen Grenzschutzes machten jüngst öffentlich, dass sie ein sogenanntes Long Range Acoustic Device (LRAD) – auch Schallkanone genannt – gegen Flüchtlinge in der Ägäis einsetzen. Wie funktionieren solche „Sound Canons“?
Long Range Acoustic Devices gibt es ungefähr seit 20 Jahren und wurden von einer Firma entwickelt, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, „non lethal weapons“ herzustellen, das heißt Waffen, die nicht tödlich sind. Normalerweise versendet sich Schall, wird also mit der räumlichen Ausdehnung immer schwächer. Bei LRADs bleibt der Schalldruck hingegen über längere Zeit gleich. Sie sind gewissermaßen mit einem Laser vergleichbar: Sinustöne werden so übereinandergelagert, dass sie sich über längere Zeit bei einer hohen Lautstärke aussenden lassen. Das benötigt eine komplexe Technologie, weshalb viele Schallwaffen unter hoher Geheimhaltung stehen. Gleichwohl werden sie auch auf Waffenmessen gehandelt – was zeigt, wie diese Geräte von ihren Herstellern eingeschätzt werden.
Seit wann gibt es denn insgesamt Schallwaffen?
Im 20. Jahrhundert rankten sich um Schallwaffen sehr lange Zeit viele Mythen, auch in der Underground- und Gegenkultur wurde immer wieder gemutmaßt, dass es so etwas wie einen tödlichen „Sonic Boom“ oder einen „Sonic Laser“ gäbe. Mit der flächendeckenden Verbreitung von Computertechnologie in den 2000er Jahren wurde aus solchen Visionen jedoch Realität. Die ersten Werbeclips der Produzenten dieser Waffen gab es dann im Zuge des „War on Terror“. Denn im Gegensatz zu den 1980er Jahren, in denen Massenvernichtungswaffen im Mittelpunkt der Debatte standen, war es nun von Bedeutung, punktuell mit Terrorismus umzugehen. Deshalb wurden zu jener Zeit auch eine ganze Bandbreite von „non lethal weapons“ entwickelt, von klebrigen Schäumen bis hin zu Rubber Bullets. Technologien also, die nicht sofort töten, sondern einen Gegner, Terroristen oder Demonstranten zunächst einmal festsetzen, ohne dass Blut fließt. Anfang der 2000er Jahre hatte sich dann auch das EU-Parlament mit „non lethal weapons“ beschäftigt, indem es sich über die Bandbreite dieser Waffen informierte und darüber diskutierte, welche davon man womöglich anschaffen wolle.
A high-pitched "sound cannon" is being used by police in Greece to deter migrants from crossing into the country from Turkey. European Union authorities are also funding a new automated surveillance network as part of a digital fortress, and border walls. https://t.co/1nlXqBRmnb pic.twitter.com/biSYqZ8Er2
— AP Europe (@AP_Europe) May 31, 2021
Der Euro-Mediterranean Human Rights Monitor, eine private Menschenrechtsorganisation, hat mit Blick auf den aktuellen Fall an der griechischen Grenze konstatiert, der dortige Einsatz von Schallwaffen sei „gefährlich, experimentell und diskriminierend“. Denn nicht nur sei es eine Menschenrechtsverletzung, wenn Asylsuchende davon abgehalten werden, einen Asylantrag zu stellen, auch könnten diese Schallwaffen Traumata verursachen. Vertreter der EU kritisierten den Einsatz ebenfalls. Welche Wirkungen können Schallwaffen haben?
Man muss sich hier zunächst vergegenwärtigen, wie solche Waffen eingesetzt werden. Bei einer Demonstration oder der Flucht in ein anderes Land weiß man in der Regel ja zunächst nicht, dass solche Waffen eingesetzt werden, nicht zuletzt, weil Laien die LRADs auch schwer als solche identifizieren können oder diese explizit getarnt werden. Dementsprechend trifft einen diese Waffe meist unvorbereitet und druckvoll, mit einer extremen Lautstärke von bis zu 160 Dezibel. Das ähnelt derjenigen eines Düsenjets und sorgt für einen intensiven Schock und Schmerz im Innenohr, sodass im ganzen Sinnesapparat Todesangst einsetzt. Die meisten Menschen halten dann verzweifelt ihre Hände an die Ohren, weshalb diese Waffen auch „acoustic handcuffs“, akustische Handschellen, genannt werden. Fährt dieser Schock tief ein, hängt es von individueller Hörbefähigung, der Schmerztoleranz und psychischer Labilität ab, welche physischen und psychischen Schäden dadurch verursacht werden. Psychisch können Traumata entstehen, auch weil es eine nicht zu beherrschende und vor allen nicht zu verteidigende Form des Angriffs ist. In dieser Hinsicht ähneln Schallwaffen nämlich Giftgas, handelt es sich doch um eine Waffenform, gegen die man sich im Grunde nicht verteidigen kann. Die physischen Folgen hängen von etwaigen Vorerkrankungen ab, es können Adern platzen oder innere Organe und Weichteile, die Lungen oder Nasennebenhöhlen beschädigt werden. Wobei all das jedoch auch noch wenig erforscht ist. Aber solange dies so ist, sollten diese Waffen aus meiner Sicht auch möglichst bald geächtet werden.
Sie haben erwähnt, dass LRADs in gewisser Hinsicht dem Giftgas ähneln, weil sie nicht (nur) auf den Gegner zielen, sondern vielmehr auf die Kontamination seiner Umwelt setzen. In welchen Umfang „streuen“ solche Schallwaffen? Sind von ihnen etwa auch Beistehende oder Anwohner betroffen?
Man muss in diesem Zusammenhang zwei Technologien unterscheiden. Die eine ist LRAD, die andere Hyper-directed Sound. Letzterer ist noch komplizierter und schwieriger herzustellen, befindet sich aber auch schon auf dem Markt. Bei ihm ist ein sehr direktes Senden möglich. Sieht man etwa eine Person an einem offenen Fenster stehen, könnte man dieser aus 500 Meter Entfernung einen Klang ins Ohr setzen, mit der sie überhaupt nicht rechnet. Das kann auch mit LRAD kombiniert werden, jedoch noch nicht mit dem entsprechend starken Druck. Die bis jetzt bestehenden LRADs sind deshalb meist auf ein Spektrum gerichtet, decken also eine bestimmte Fläche ab. Anwohner können dabei in der Tat mitbetroffen sein. Und das kommt in den öffentlichen, demokratietheoretischen Debatten um diese Waffen komischerweise gar nicht vor, obwohl es ein starkes Argument ist. Denn daran sieht man ja, dass es sich um eine Bandbreitenwaffe handelt, die, ähnlich einer Schrotflinte, eine ganze Umgebung betrifft.
Die erwähnten „non lethal weapons“ scheinen unter Maßgabe vertrieben zu werden, es handele sich bei ihnen um einen zivilisatorischen Fortschritt, schließlich werde nicht mehr scharf geschossen. Hat man es also mit dem Paradox zu tun, dass die De Facto-Aufrüstung von Sicherheitskräften als eine Art Pazifizierung verkauft wird?
Es geht noch einen Schritt weiter. Guckt man sich die Websites der Firmen an, die LRADs vertreiben, findet da sogar eine Art Greenwashing statt. Dort wird dann verkündet, man schütze die Biosphäre, Tiere und Umwelt, weil man nun Grenzen befestigen könne, ohne Stahlzäune und Selbstschussanlagen einziehen zu müssen. Zumal diese „non lethal weapons“ eben keinesfalls harmlos sind. Rubber Bullets bestehen etwa aus Hartgummi, das nur einige Härtegrade von Stahl entfernt ist und zu Verletzungen an den inneren Organen führen kann. Im Fall der Schallwaffen weiß man, dass sie gerne in autokratischen Regimen im arabischen und osteuropäischen Raum erworben werden. Und das deutet schon darauf hin, worin das Problem liegt. Denn diese Waffen können jedes Gespräch, jeden Diskurs, jedes deliberative Austauschen per se unterbinden. Wenn man beispielsweise ein autoritäres Königreich anführt und verhindern will, dass Menschen sich kritisch positionieren, muss man diese Waffen nur an den Schlüsselstellen des Landes anbringen, etwa auf großen Plätzen und Straßen, und diese drei-, viermal einsetzen – dann wird es keine Demonstrationen mehr geben. Insofern sind LRADs Diskurskillermaschinen. Jede große Form des Protests braucht nämlich auch den Gang auf die Straße, das Austesten der Grenzen des Zulässigen. Das gehört zu einer Demokratie, das haben wir bei Fridays for Future gesehen, aber auch Pegida oder den Querdenkern erlebt. Und dementsprechend unterhalten wir uns darüber, ob diese oder jene Proteste noch okay sind – oder sie Grenzen überschritten haben. Aber wenn man Protest per se abwürgen kann, auch jenen, den man persönlich für falsch hält, entsteht eine diskursfreie, autoritäre Regierungsform. Genau das ist aber von vielen Regimen gewollt. Und Schallwaffen können dies – ohne große Kollateralschäden nach außen, ohne Blutvergießen und hässliche Bilder – herstellen. Deshalb sind sie diese Waffen im Grundsatz antidemokratisch. •
Holger Schulze ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen und leitet dort das Sound Studies Lab. Er arbeitet zur Kulturgeschichte der Sinne, zum Klang in der Popkultur sowie zur Anthropologie der Medien. Letzte Veröffentlichungen u.a.: „Sonic Fiction“ (2020), „Sound Works“ (2019), „The Sonic Persona“ (2018).
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