Im falschen Körper?
Transsexuelle hadern mit ihrem angeborenen Geschlecht. In Teilen der Gesellschaft werden sie daher diskriminiert. Unsere Autorinnen haben vier Transpersonen getroffen. Ihre Geschichten werfen ein neues Licht auf ein uns allen wohlvertrautes Konzept: Identität. Eine Reportage von Sandra Schmidt und Gloria Dell’Eva.
Wer ist eigentlich so ganz mit sich im Reinen? Manch einer wäre gern größer, andere gern dünner, der eine leidet an Falten im Gesicht, die andere an Fett auf den Hüften. Hadern wir nicht alle mit unserem Körper? Bilder eines idealen Körpers gibt es seit der Antike, als das Schöne im Ideal der Kalokagathia zudem direkt mit dem Guten verknüpft war. Wenn es darum geht, in welchem Maße wir mit unserem Körper im Reinen oder anders gesagt: ohne inneren Widerspruch sind, geht es immer auch darum, wie wir die Diskrepanz zwischen einer gesellschaftlichen Norm und der eigenen Körperlichkeit ertragen. Nun gab und gibt es auch Menschen, die grundsätzlich nicht mit ihrem Körper im Reinen sind, und zwar mit dem biologischen Geschlecht, mit dem sie geboren sind: die Transsexuellen. Diese Menschen, so eine geläufige Formulierung, „fühlen sich im falschen Körper gefangen“. Der daraus resultierende innere Widerspruch ist keine Frage von Falten oder Fett, sondern ein existenzieller. Unstrittig ist, dass dieses Phänomen einen teilweise extremen Leidensdruck bei den Betroffenen hervorruft, der mit psychischen Problemen bis hin zu Suiziden einhergehen kann. Strittig hingegen ist, wie die Gesellschaft mit dem Phänomen umgeht, denn sogenannte Geschlechtsanpassungs-Operationen stoßen auch auf großes Unverständnis. Ist Transsexualität eine Krankheit? Oder gar eine Mode? Ist, wie es nicht nur rechte Parteien formulieren, die „natürliche Ordnung“ in Gefahr?
Als sicher darf gelten, dass die Unterscheidung in Mann oder Frau im Alltag als das Normalste der Welt erscheint: Wir alle treffen sie in Sekundenbruchteilen, automatisch, wann immer wir einen anderen Menschen sehen. Eine „soziale Unterscheidung von zentraler Bedeutung“, wie der Soziologe Stefan Hirschauer sagt. Aber auch eine, deren Relevanz in der westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts „permanent außer Kraft gesetzt“ wird, überall dort nämlich, wo institutionell gesichert ist, dass Entscheidungen, seien es Gerichtsurteile oder Schulnoten, ohne Ansehung des Geschlechts zu fällen sind. Trotzdem gilt: Dort, wo diese Unterscheidung nicht gelingt, wird es für die einen interessant, für die anderen irritierend. Und auf Irritation folgt mal Neugierde, mal Ablehnung. Wir haben entschieden, vier Menschen zu treffen, die ihr „Dazwischen“ unterschiedlich begreifen und realisieren.
Eric: Der radikale Wandel
Auch im Leben von Eric gab es lange nur das eine und das andere: Er war, zumindest körperlich, das „ganz normale Mädchen“, als er in den 1980er-Jahren in Niederbayern aufwuchs und dort eine katholische Klosterschule besuchte, die ihn prägen sollte. Aber schon das Kind merkte: „Moment mal, dieses Junge-Mädchen-Ding, das ist bei mir anders.“ Er sei, erzählt Eric rückblickend, gewiss gewesen, „ein schwuler Junge“ zu sein. Doch jahrelang habe er gedacht, es handle sich um eine „seltsame Geisteskrankheit“, und gehofft, dass es aufhört. Für das, was ihn umtrieb, gab es keine Worte und kein Konzept – und so auch niemanden, mit dem er hätte reden können. Stefan Hirschauer spricht von „kulturellen Gewaltakten“, mit denen Verhaltenserwartungen und Passungsnormen Menschen in das zweigeschlechtliche Schema zwingen. In seiner Studie „Zur sozialen Konstruktion der Transsexualität“ kam der Professor für Soziologische Theorie und Gender Studies an der Universität Mainz 1993 noch zu dem Schluss, der Raum zwischen den Geschlechtern sei „sozial unbewohnbar“.
Eric, heute 45, entschied sich vor bald 20 Jahren für die „Transition“, also den Übergang von Frau zu Mann: „Am Anfang, in der Euphorie, war der Gedanke: Ich ändere das jetzt einfach. Im Endeffekt ist es aber eine ziemlich lange Reise geworden.“ Sie begann in einer Selbsthilfegruppe und mit einer für ihn schrecklichen Erfahrung: Auch hier gab es kein Dazwischen, sondern nur ein Entweder-oder. „Da war das Binäre wieder komplett da!“ Er erinnert sich an „geschminkte Transfrauen mit klaren Vorstellungen davon, was eine Frau ist“, und an „Transmänner im Karohemd, die sich sorgten, ob die Beule in der Hose an der richtigen Stelle sitzt“. Diejenigen Menschen, die sich durch operative Eingriffe komplett verwandeln wollen, nennt Hirschauer „die Orthodoxen, weil sie die alten Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit und den Zusammenhang mit körperlichen Merkmalen bestätigen“. Genau das wollte Eric nicht, doch das Gefühl, das ihm seine Umwelt vermittelte, war eindeutig: So wie er war, war er unglaubwürdig. Sein feminines Äußeres war nicht mit der für ihn existenziellen „männlichen Grundierung“ zu vereinbaren.
So führte sein Weg zu Psychologen, zur damals vorgeschriebenen Sterilisation, zu einer Hormontherapie und zu chirurgischen Eingriffen bis hin zur genitalen Operation. Aus der Zeit, in der sein Äußeres als ein Dazwischen wahrgenommen wurde, hat Eric wenig Erinnerungen. Eine geht so: Mit tiefer Stimme und männlichen Zügen ging er, gerade nach Berlin gezogen, im lilafarbenen Samtkleid und High Heels auf eine queere Party. „Aufgebrezelt wie eine Dragqueen, aber mit eigenen Brüsten.“ Doch ohne den folgenden Termin zur Brustentfernung, der Mastektomie, hätte es nichts zu feiern gegeben. Heute findet Eric es schade, diese Phase nicht bewusster genossen zu haben. Doch er erinnert sich auch an die große Angst, die er damals vor Bemerkungen, kein „richtiger Mann“ zu sein, hatte. Auf die Frage, ob er durch seine komplette Wandlung die Zweigeschlechtlichkeit nicht bestätige, antwortet er: „Das ist genau das Problem. Warum muss ich unbedingt ein Mann sein, wenn ich doch nicht glaube, dass es Männer und Frauen gibt?“ Eine Sichtweise, die ungewöhnlich klingen mag, aber in der feministischen Theorie prominent vertreten wird. In ihrem Standardwerk Das Unbehagen der Geschlechter (1990) hatte die amerikanische Philosophin Judith Butler dargelegt, dass nicht nur das soziale Geschlecht – also etwa die Rollen, die wir täglich einnehmen –, sondern auch das biologische Geschlecht eine kulturelle Konstruktion sei, die von Machtdiskursen hervorgebracht wird.
Der Umstand, die Fortpflanzungsorgane zur Basis und zentralen Merkmalen der Geschlechtsidentität zu erklären, führt dazu, Menschen als Frau oder Mann festlegen zu wollen, und in der Folge, Heterosexualität als Norm für die affektive Verbindung zweier Menschen zu erklären. Um diese Festlegung aufzubrechen, fordert Butler eine „queere“, das heißt überschreitende Inszenierung von Geschlecht: als Frauen geborene Menschen, die sich wie Männer fühlen und verhalten und umgekehrt. Wenn also Eric Judith Butler innerlich recht gibt, wäre es dann nicht progressiver gewesen, die Geschlechtsanpassung zu unterlassen und trotzdem als Mann zu leben? Auf diese Frage hat Eric noch keine befriedigende Antwort gefunden. Was seine Körperlichkeit angeht, ist er dennoch gewiss: Mit jeder Veränderung habe er sich näher an etwas gefühlt, was er mit „zu Hause in mir selber“ umschreibt. „Allerdings teuer bezahlt“, fügt er an und erzählt von Spätschäden, Schmerzen und Narben. Eric erlebt in Berlin heute junge Transmenschen, die in Richtungen denken können, von denen er vor 30 Jahren nicht mal etwas ahnte. Es gab kein Internet, keine Lobby, keine Fernsehdokus. Trotz allem: Eric bereut nichts, versteht sich selbst mittlerweile als „Dazwischen“ und legt beim Ausgehen auch schon mal Make-up auf. „Ich habe eigentlich zwei Leben.“
Arndt: Transmann und schwanger
Er ist ein schlanker Mann, mit kurzen braunen Haaren – geschnitten „beim besten arabischen Friseur, den es im Viertel gibt“, wie Arndt (Name geändert, d. Red.) sagt –, mit eckiger Brille und schwarzem Kapuzenpulli. Er wurde als Mädchen geboren und kam 2003, mit 28 Jahren, nach Berlin, wo er sich bis heute wohlfühlt: „Berlin ist eine aufgeschlossene, tolerante Stadt mit vielen Möglichkeiten.“ Damals begann er, seine Transidentität zu leben, erst im Freundeskreis, dann auch bei seiner Arbeit als Programmierer: „Im vertrauten Kreis als Mann anerkannt zu werden, hat sehr zu meinem Wohlbefinden beigetragen.“ Später begann Arndt eine Therapie mit männlichen Hormonen, entschied sich für eine Mastektomie und änderte seinen Personenstand. Dies ist ihm nicht leichtgefallen: „Einerseits habe ich mich in meinem Körper wohlgefühlt und ihn gemocht, andererseits hat er sich aber auch immer falsch angefühlt, nicht zu meiner Identität passend: Ich wollte immer einen androgynen männlichen Körper. Außerdem wurde ich von anderen falsch als Frau zugeordnet.“ War Arndts Problem also nur die gesellschaftliche Wahrnehmung? Und welche Rolle spielt die Selbstempfindung, falls sich das überhaupt trennen lässt? Er sagt, er sei im Nachhinein sehr froh, sich für die Operation entschieden zu haben, er fühle sich jetzt „viel wohler“. Der Kontrast zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung, der sich für Arndt längst aufgelöst zu haben schien, tritt nun in zugespitzter Form wieder auf: Arndt ist schwanger und das führt dazu, dass er meist als Frau wahrgenommen wird. „Ich bin nicht schwanger, weil ich mich weiblicher fühlen will, sondern weil ich ein Kind wollte.“ Für ihn hat seine Schwangerschaft nichts mit Weiblichkeit oder Männlichkeit zu tun, und es stört ihn, wenn er nun wieder als Frau eingeordnet wird. In der Trans-Community geschehe das nicht, sagt er.
Ein schwangerer Mann ist zweifelsohne eine unerwartete, ja radikale Form der Umschreibung geschlechtlicher Zuordnungen. Aber ist er deswegen eine Zumutung? Und falls ja, für wen eigentlich? Arndt selbst sieht durch die Schwangerschaft vor allem seine gesellschaftliche Anerkennung als Mann bedroht. Auch deshalb sehnt er sich danach, schnell zu entbinden, damit „die falsche gesellschaftliche Zuordnung als Frau“ bald ein Ende findet. Arndt selbst hätte sich übrigens folgende Reaktion gewünscht: „Oh, ein schwangerer Mann – das ist ja super!“ Doch er meint etwas genervt: „Das ist wohl ein bisschen zu viel erwartet.“
Ese Montenegro: Der Kampf um Rechte am anderen Ende der Welt
Vielen in der Transszene gilt Argentinien als leuchtendes Vorbild. Das hat mit dem 2012 verabschiedeten Gesetz über das Recht des Menschen auf Geschlechtsidentität zu tun, das diese Identität als „das empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit eines jeden einzelnen Menschen zu einem Geschlecht“ definiert. Das heißt: keine medizinischen Untersuchungen, keine psychologischen Gutachten, es zählt allein das eigene Empfinden, auch zur Änderung des Personenstands. Zudem legt das Gesetz fest, dass diejenigen erwachsenen Menschen, die es wünschen, ein Anrecht auf chirurgische beziehungsweise hormonelle Behandlung haben, die vom Gesundheitssystem finanziert wird. Es war weltweit das erste Gesetz dieser Art.
„Es ist extrem wichtig, dass es diesen Rechtsanspruch gibt, das Gesetz verändert unsere Lebensbedingungen“, sagt Ese Montenegro. Er ist politisch aktiv und versteht es als seine Aufgabe, sich einzubringen. Dem Interview in einem Café von Buenos Aires, in dem der ältere Kellner entspannt mit uns rumschäkert, hat er auch deshalb sofort zugestimmt. Trotz der Rechtslage sei die Veränderung in der Gesellschaft aber sehr langsam, schränkt Ese gleich ein. Als er zum Beispiel vor zwei Jahren zum Arzt gegangen sei, da habe der behauptet, er benötige ein psychologisches Gutachten. „Dann hab ich mich in Ruhe mit ihm hingesetzt und ihm das ganze Gesetz vorgelesen“, erzählt Ese. „Sehen Sie? Ich muss gar nichts.“ Zwei Monate später war die Brust weg und Ese mit seinem Körper im Reinen. Als „Sabrina“ vor 38 Jahren in Buenos Aires geboren, wurde Ese als Mädchen erzogen. „Ich wusste immer, was ich als Frau zu tun hatte, das ist ja eine soziale Rolle“, erzählt er. Er habe sich nicht gehasst, aber eben auch nie als Frau gefühlt. Ese hat das Glück entspannter Eltern, für die es kein Problem war, dass die Tochter sich wie ein Junge aufführte und als „Mannweib“ bezeichnet wurde. Und es gab Vorbilder: Lohana Berkins, die vor zwei Jahren verstorbene Transaktivistin, hatte bereits 1994 eine Interessenvereinigung gegründet und 2001 für das Parlament kandidiert. Zum Vergleich: In Deutschland wurde 2018 erstmals über einen transsexuellen Abgeordneten im bayerischen Landtag berichtet.
Aber noch mal zum Gesetz: Ist das nicht zu einfach? Nichts weiter als eine Unterschrift, um irreversible chirurgische Eingriffe an einem organisch gesunden Körper vorzunehmen? In der deutschen Debatte fallen in diesem Kontext gerade Begriffe wie „Mode“ oder „Zeitgeist“, erzählen wir. Ese blickt ungläubig und holt aus: Einer Studie zufolge liegt die Lebenserwartung von Transmenschen in Argentinien bei unter 40 Jahren: „Wir sterben sehr jung, weil viele von uns keinen Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem und daher auch keine Arbeit haben.“ 80 Prozent der transfemininen Menschen in Argentinien waren oder sind in der Prostitution tätig. „Und sie bringen uns um wie die Fliegen“, sagt Ese lapidar. Der Alltag sei, vor allem außerhalb der Hauptstadt, von Diskriminierung, Kriminalisierung und körperlicher Gewalt geprägt. Wer bitte sollte sich so ein Leben freiwillig aussuchen? Deshalb sei auch völlig klar, dass sich niemand „einfach so“ einer Operation unterziehe. Jeder Transmensch mache eben das, was für ihn notwendig sei: „Wir erleben das nicht alle auf gleiche Art und Weise.“ Er zum Beispiel hat seinen Personenstand nicht geändert: „Wenn ich mal festgenommen werde, würde ich dann in einem Männergefängnis landen – und das wäre echt gefährlich!“
„Ese“, das heißt im Deutschen übrigens „das da“ und bezeichnet den Buchstaben S. Die Uneindeutigkeit des selbst gewählten Namens ist Programm. Ese, der bis vor Kurzem in einem internationalen Großkonzern gearbeitet hat, spricht von Männlichkeiten im Plural und den Arten und Weisen, „das Männliche zu bewohnen, ohne die patriarchalischen Privilegien zu wollen“. Im Rückgriff auf den Philosophen Antonio Gramsci bezeichnet Ese die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit als hegemonial, insofern diese in der Gesellschaft die Deutungshoheit über das weite Feld der Geschlechtlichkeit innehat. Einen entsprechenden hegemonialen Diskurs über „den richtigen Transmann“ hielte er für fatal. „Klar hab ich ein biologisch weibliches Geschlecht“, sagt Ese, die Haltung, jegliche Kategorie von Geschlecht zu negieren, sei „kompletter Unfug“. Seit Ewigkeiten streitet Ese für Frauenrechte und erlebt in jüngster Zeit, dass radikale Feministinnen ihn ausschließen wollen: „Das ist biologistisch.“ Es sei ein klarer Rückschritt, die Identität von Menschen auf ihre Genitalien zu reduzieren. Für ihn geht es darum, „dass kein Geschlecht über einem anderen steht“.
Tonia: Irritation als gesellschaftliches Projekt
Tonia (Name geändert, d. Red.) ist Philosoph, 41 Jahre alt, ein sanfter, dunkler, ein bisschen schluffiger Typ, und wer ihn beim Basketballspielen erwischt, ist über die plötzliche Spannung und Schnelligkeit überrascht. Er wurde in der Toskana als Frau geboren, hat in Berlin gelebt und wohnt jetzt mit Frau und Kind in den USA. Tonia hat keine Eingriffe vorgenommen, ja nicht einmal seinen Namen ändern wollen. Eine tiefere Stimme hätte er gerne gehabt: „Oft lesen mich Fremde als Mann, aber sobald ich rede, denken sie: Nein, hier stimmt was nicht! Die Stimme zu verändern, würde mein Leben ändern.“ Aber Tonia wollte keine Hormone nehmen und lässt die Uneindeutigkeiten allesamt stehen. An seiner Elite-Uni in den USA wird Tonia mit männlichem Pronomen angesprochen. Der Sohn ruft ihn „Papa“. „Wenn die Leute ‚sie‘ zu mir sagen, passt es mir nicht, aber ‚er‘ passt wiederum auch nicht ganz“, meint er. Als seine Schwester fragte, was sie über Tonia sagen soll, antwortete er: „Wenn die Leute mich nicht kennen, dann sag, ich bin lesbisch, sonst nimm das männliche Pronomen.“ In seiner Heimatstadt sei damals lesbisch die „verfügbare Kategorie“ gewesen, heute präferiert Tonia „queer“.
Der Auftrag Tonias an die Schwester lautet: „Versuch so viel Verunsicherung wie möglich zu verursachen!“ Als wir anfangs Tonia gegenüber weibliche Pronomen benutzen – in der naiven Annahme, einem weiblichen Namen muss ein weibliches Wesen entsprechen –, beschwert er sich nicht, wahrscheinlich lacht er innerlich über uns. Der Wille zur Verunsicherung, erklärt Tonia, entspringe einer politischen Haltung. Jack Halberstam, der lange als Judith Halberstam firmierte und Professor für Literatur und Gender Studies an der University of Southern California ist, beschreibt sein Verhältnis zu geschlechtsanzeigenden Pronomen ähnlich: „Ich glaube, dass mein schwebendes Genderpronomen meine Weigerung gut zum Ausdruck bringt, meine Genderambiguität zu lösen, die für mich eine Art Identität geworden ist.“
Tonia sagt: „Wenn es die Unterscheidung Mann und Frau nicht gäbe, wäre für mich alles viel besser.“ Folglich scheint ihm auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht zielführend, das 2017 mit Verweis auf die Grundrechte entschied, dass es im Geburtenregister eine dritte Option neben weiblich/männlich geben muss. Das Urteil folgte auf eine lange Debatte um den Umgang mit intersexueller Körperlichkeit und die Praxis, geschlechtlich uneindeutige Neugeborene in die eine oder andere Richtung zu operieren. Damit ist im deutschen Recht das dritte Geschlecht amtlich. Tonia hält da etwas für grundsätzlich falsch: „Dass der Staat sich auf das fokussiert, was man zwischen den Beinen hat, ist eine Beleidigung der menschlichen Würde.“ Er wünscht sich die komplette Abschaffung geschlechtlicher Kategorien.
Liegt die Freiheit im Dazwischen?
Was wären die Folgen dieser in der queeren Theorie verbreiteten Haltung? Zum Beispiel würde sich die Frage um die Zahl transsexueller Menschen erübrigen. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch schätzte 1995 die „winzige Minderheit“ auf drei bis 6000 Menschen, die Bundesvereinigung Trans* bezeichnet uns gegenüber die Zahl 32 000 bis 100 000 als eine konservative Schätzung. Aus soziologischer Sicht sei die Zählung „evident sinnlos“, sagt Stefan Hirschauer, und zwar, „weil sie auf Klassifikationen beruht, die ihrerseits erstens umstritten, zweitens im historischen Wandel und drittens kontingent sind“. Aber auch der klassische Feminismus verlöre seine Grundlage: Wie soll man die existierende Ungleichheit konstatieren, wenn nicht mehr zwischen Mann und Frau unterschieden wird? Judith Butler zufolge braucht der Feminismus einerseits ein Subjekt „Frau“, um politisch wirksam zu sein, andererseits scheint ihr die Bildung einer homogenen Gruppe angesichts der Ausdifferenzierungen weiblicher Subjekte schwierig. Es gelte daher für die Frauen, politisch in einer „wilden demokratischen Kakophonie“ zu agieren, in der die Meinungsvielfalt dominieren muss. Tonia, der übrigens in keiner Statistik auftaucht, sorgt derweil mit einer Performance zwischen den Geschlechtern auf ruhige und freundliche Art für Irritation.
Mittlerweile ist Judith Butlers Forderung, das Schema von Mann und Frau spielerisch zu überwinden, immer stärker zur gesellschaftlichen Realität geworden. „Die Mitte zwischen den Geschlechtern wird heute massiv besiedelt“, diagnostiziert Stefan Hirschauer: „Wer ist denn noch eine astreine Frau, ein astreiner Mann? Ich kenne keinen mehr!“ Wir leben in Zeiten eines „allgemeinen Transgenderism“, sagt Hirschauer, der damit ein Phänomen bezeichnet, in dessen Zug Millionen Menschen „ständig Geschlechtergrenzen überqueren, indem sie Verhaltenskodierungen oder Persönlichkeitseigenschaften als männlich oder weiblich hinter sich lassen“. Frauen lenken heute die Geschicke des Landes und Omnibusse, Männer waschen ihren Nachwuchs und das Geschirr. Frauen können aggressiv sein, Männer können weinen. Und: In den letzten Jahrzehnten hat der minoritäre Lebensstil der Transsexuellen enorme Aufmerksamkeit erfahren: „Dass sie so viel Gehör gefunden haben, liegt daran, dass sie die Spitze des Eisbergs dieses allgemeinen Transgenderism sind. Darum verstehen wir sie so gut“, so Hirschauer.
Doch selbst für diejenigen, die Transsexuelle nicht verstehen (wollen), sollte – mit Friedenspreisträgerin Carolin Emcke gesprochen – gelten: „Respekt ist zumutbar. Immer.“ Die Entscheidung, komplett oder teilweise vom Mann zur Frau oder von der Frau zum Mann zu werden oder ein Leben in einem Dazwischen zu führen, kann einer transsexuellen Person letztlich niemand abnehmen. Ganz gleich, ob ihre Körperlichkeit dann einer Norm entspricht, braucht es für eine gut gelebte eigene Identität einen gesellschaftlichen Raum, der rechtlich schon lange abgesichert ist, und zwar durch Artikel 2 unseres Grundgesetzes: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Man kann es auch mit Adorno sagen, der die emanzipierte Gesellschaft als eine kennzeichnete, in der es möglich sein muss, „ohne Angst verschieden sein zu können“. Um nichts weniger als das geht es. •
Sandra Schmidt befasste sich in ihrer Dissertation mit Körperbewegungen in der Frühen Neuzeit. Sie arbeitet als Freie Journalistin (u. a. für das ARD-Magazin „MONITOR“) und Übersetzerin aus dem argentinischen Spanisch und Italienisch.
Gloria Dell’Eva promovierte über Kierkegaard an der Freien Universität Berlin und an der Universität Padua und ist als Freie Autorin und Übersetzerin tätig. Ihre Arbeitsbereiche umfassen Philosophie der Religion und Körperlichkeit als Metapher.
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Kommentare
Als computeraffiner Mensch spukt mir beim Lesen ständig ein länglicher Artikel über Quantenphysik im Kopf rum, den ich kürzlich in der c't (Magazin für Computechnik) las: Wo herkömmliche Computer nur zwischen 0 und 1 unterscheiden können, sind Quanten beides zugleich und viele denkbare Zustände dazwischen. Und es ist Natur und unbegreiflich genug, dass auch Promovierte nicht von sich behaupten, den Kram vollständig verstanden zu haben. Als Analogie zur sexuellen Identität scheint mir das ganz passend.
Antwort auf Als computeraffiner Mensch… von tim
Interessanter Kommentar, dem ich noch den Hinweis auf die Fuzzy-Set-Theorie (unscharfe Mengenlehre), die von Lotfi Zadeh entwickelte wurde, hinzufüge. Er war lt. Wiki 1965 angetreten, um die Psychologie, die Linguistik oder die Medizin vom Zwang des Denkens in binären Strukturen zu befreien. In den Anfängen war man, vor allem in der digitalen Messtechnik, davon begeistert, endlich auch die Werte zwischen 0 und 1 sinnvoll nutzen zu können. Damals hat man in Bezug auf Menschen darüber nicht nachgedacht, aber warum soll das nicht auch für Menschen gelten? Man muss er nur noch den Ewiggestrigen richtig vermitteln. Das wird allerdings schwer sein.
Ich fand den Artikel auch sehr aufschlussreich, a) weil man/frau sich mit dem Thema selten auseinandersetzt und b) wir bei uns im Ort einen ehemals jungen Mann, jetzt eine junge Dame haben, die durch ihre ausgeflippte Kleidung bei einigen Leuten aneckt. Sie hatte früher in der Schule aufgrund ihrer Orientierung große Probleme, aber ihre Eltern haben immer zu ihr gestanden und inzwischen wird sie überwiegend akzeptiert.