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Bild: Csaba Segesvári (CC BY-SA 4.0)

Interview

Imre Kertész: „Denken ist eine Kunst, die den Menschen übersteigt“

Imre Kertész, im Interview mit Alexandre Lacroix veröffentlicht am 13 Juni 2013 14 min

Der 27. Januar ist der internationale Gedenktag an die Opfer des Holocaust. Aus diesem Anlass empfehlen wir Ihnen eines der letzten Gespräche mit dem ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der sich weder durch Konzentrationslager noch durch kommunistische Zensur zum Schweigen verdammen ließ.

 

„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe. 

Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie Roman eines Schicksallosen oder Der Spurensucher. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.

Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.

 


 

Philosophie Magazin: Können Sie die wichtigsten Etappen Ihres intellektuellen Werdegangs nachzeichnen?

Imre Kertész: Zum Kriegsende 1945 bin ich aus dem KZ Buchenwald freigekommen und nach Budapest zurückgekehrt. Ich war 15 Jahre alt. Meine Verwandten und nächsten Freunde waren verschwunden, ich hatte zwei Schuljahre verpasst. Ich wusste nichts, war auf nichts vorbereitet. Ich war sozusagen ganz dem Leben ausgeliefert. Erst um 1948 begann ich vage zu verstehen, dass mich intellektuelle Arbeit anzog, während der historische Kontext einer solchen Karriere zunehmend feindlich gesonnen war. Die Kommunisten hatten im Juli 1948 die Macht in Ungarn übernommen und im Jahr darauf eine totalitäre Diktatur errichtet. Ich hatte begonnen, für die Presse zu arbeiten, weil ich dachte, dass das ein gutes Mittel sei, um Zugang zum Metier der Worte zu finden. In dem Moment, als die Dinge einen günstigen Lauf für mich nahmen, legte sich bleiern die Zensur über Ungarn …

Das erklärt, warum Sie 1951 den Journalismus aufgegeben haben.

Tatsächlich wurde ich entlassen, weil ich nicht die aktuellen Parteimeldungen verbreiten wollte. Diese Entlassung war wirklich noch ein Glücksfall, denn für gewöhnlich wurden die Aufsässigen viel brutaleren Maßregelungen unterworfen. Die Jahre der Festigung der kommunistischen Diktatur waren besonders hart; meine erste Frau hatte Kontakte geknüpft, um zu emigrieren, doch sie wurde verhaftet und eingesperrt, ohne jede gesetzliche Grundlage. Eine Lähmung übermannte mich, die meine Weiterentwicklung im Bereich des Wortes sehr verzögert hat. Wenn es mir auch nicht gelang zu schreiben, meine eigene Sprache zu sprechen, gab es dennoch einen Vorteil an meiner Situation: Ich hatte enorm viel freie Zeit. Ich ging spazieren und dachte nach. Mir ist bewusst, dass das ein Luxus ist, der für viele, zumal heutzutage, schwer vorstellbar ist …

Haben Sie nie darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?

Als meine Frau aus dem Internierungslager zurückkam, hat sie es, trotz des Hasses, den sie für das neue Regime empfand, und trotz ihres unbändigen Verlangens, das Land zu verlassen, meiner Entscheidung anvertraut, ob wir weggehen sollten oder nicht. Und ich, wie soll man das erklären … Ich hatte ein Gefühl, das dem der anderen und sogar den Kräften der Geschichte selbst entgegenstand … Während sich die Grenzen schlossen und die Repression immer schlimmer wurde, hatte ich das Gefühl, dass sich für mich etwas öffnete. Ich wusste weder, was für eine Welt ich brauchte, noch, was ich in einer solchen Welt zu tun hätte, und trotzdem war etwas wie eine Öffnung am Entstehen. Ich habe meine Überlegungen in Form von Tagebüchern niedergeschrieben. In meinen damaligen Manuskripten vermischten sich zwei Stimmen: Einerseits wusste ich, dass ich in diesem historischen Kontext nicht leben wollte, dass ich das kommunistische Ungarn inständig hasste, doch andererseits wusste ich auch, dass ich dableiben musste. Ich musste jetzt alle meine Kraft zusammennehmen, um einen Roman zu schreiben. Diese Aufgabe rief mich, und nichts sonst. Um den Roman eines Schicksallosen zu schreiben, bin ich in Ungarn geblieben! Und am erstaunlichsten war, dass ich eine so schwerwiegende Entscheidung, für mich und für meine Frau, getroffen habe, noch ohne eine einzige Zeile meines Romans verfasst zu haben.

Bereuen Sie es nicht?

Unser Leben wäre im Ausland zweifelsohne besser gewesen. Doch wir hatten das Glück, dass wir von einer lebhaften, sehr munteren Freundesschar umgeben waren. Eines Tages kam einer dieser Freunde zu mir herauf. Er sah mich in der Ecke vor der Heizung hocken; es war Winter, meine Wohnung war eiskalt. „Mensch, was machst du denn dort, so zusammengekauert?“, hat er mich gefragt. „Nichts, ich schreibe einen Roman.“ – „Du kommst auf Ideen! Willst du verhungern oder was?“ Ich hatte sicher keine Lust, im Elend zu verkümmern, aber ich hatte kein Mittel gefunden, auf statthafte Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen, solange ich nichts mit dem Regime zu tun haben wollte. Da hat dieser Freund, der erfolgreicher Theaterautor war, mir Zugang zu seinem Metier verschafft …
 
Gab es Theaterbetrieb im kommunistischen Ungarn?

Das alles spielte sich mehr oder weniger im Verborgenen ab. Um die Lage zu verstehen, müssen Sie wissen, dass es in Ungarn Ende der fünfziger Jahre viele talentierte und berühmte Schauspieler gab, die weder auf den nationalen Bühnen auftreten noch offizielle Filme drehen durften, weil sie 1956 massiv Imre Nagy bei seinem Versuch der Erhebung gegen die Russen unterstützt hatten… Diese Schauspieler waren allerdings relativ frei. Sie traten in Boulevardstücken auf, die sie oft an improvisierten Orten aufführten, mal in Kulturhäusern in der Provinz, mal in Scheunen. Diese Stücke hatten großen Erfolg. Da sie keine politischen Themen berührten, drückten die Behörden die Augen zu. Ich machte mich also daran, fürs Boulevardtheater zu schreiben und mich mit einer Truppe von fünf, sechs fröhlich aufgelegten Schauspielern um Engagements zu bemühen, „nach Stempeln zu rennen“, wie man damals sagte … Ich habe ein Stück geschrieben, das Eselskarren hieß – hübscher Titel, nicht wahr? –, das ein voller Erfolg war. Aus literarischer Sicht waren diese Boulevardstücke mittelmäßig, aber damit hatte ich nicht wirklich ein Problem. Mein Motto dazu ist übrigens: Wenn man schon schlechte Literatur macht, ist es wichtig, dass sie richtig schlecht ist, nicht nur halbwegs. Sonst verdirbt man ihre Wirkung. Jedenfalls hätte ich nicht meine ganze Zeit für diese Beschäftigungen aufwenden können, ohne schizophren zu werden. Deshalb habe ich Ende der fünfziger Jahre damit begonnen, meine Jahre in zwei Hälften zu teilen. Sechs Monate lang war ich mit meinen Komödiantenfreunden auf Tournee. Die übrigen sechs Monate waren gänzlich philosophischer Lektüre gewidmet. Ich habe mich darangemacht, alle Klassiker zu lesen, von Platon bis zu den Modernen, denn ich wollte nachdenken, wusste aber nicht, wie ich das anfangen soll. Nachdenken ist schwierig. Einfach denken reicht nicht, man braucht einen Gegenstand, über den man nachdenken kann. Die Klassiker der Philosophie waren für mich dieser Gegenstand. In gewisser Weise ist das Nachdenken eine Kunst, die den Menschen übersteigt.

Die Lektüre Nietzsches scheint auf diesem Weg von besonderer Bedeutung gewesen zu sein. Haben Sie aus seinem antisystematischen und individualistischen Denken nicht die Mittel zu einem Widerstand gegen die systematische und kollektivistische marxistische Doktrin schöpfen können?

Gewiss, doch ich würde das nicht ganz mit diesen Worten formulieren. Die Philosophen sind im Allgemeinen sehr empfindliche Leute. Künstler spielen mit Ideen. Philosophen sind zu dieser Distanz und diesem Humor nicht imstande.

Sie haben, neben Nietzsches Die Geburt der Tragödie, auch die Vermischten Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein übersetzt.

Das stimmt, auch wenn es sich hierbei gar nicht wirklich um ein Buch handelt. Diese Vermischten Bemerkungen sind von einem Wissenschaftlergremium zusammen­gestellt worden, ausgehend von einem ungefähr halbmeterhohen Berg von Manuskripten, den der Philosoph bei seinem Tod hinterlassen hat. Und meine Übersetzung ist eigentlich eine Interpretation, eine freie Lektüre, die ich von diesem Material unterbreite. Von Wittgenstein behalte ich vor allem die Idee zurück, dass es keine private Erfahrung gibt, weil die Sprache, in der ich denke und mich ausdrücke, eine öffentliche Sprache ist, die gemeinschaftlich geschaffen wurde und wird. Jedes Mal, wenn ich „ich“ sage, sage ich ebenso auch „er“ und „sie“, da ich mich eines Pronomens bemächtige, das nicht mein alleiniges Eigentum ist. Zudem ist auch die Tatsache, dass ich mich Imre Kertész nenne, keine unantastbare Wahrheit, sondern eine Gewohnheit, die ich angenommen habe – zu denken, dass man, jedes Mal, wenn dieser Name ausgesprochen wird, von mir spricht.
 
Eine andere Quelle für Sie sind die französischen Existenzialisten. In Ihrem Galeerentagebuch bekräftigen Sie im Hinblick auf die „großen Franzosen“ der Nachkriegszeit: „Ich muss zugeben, dass meine Wurzeln in ihrer Welt liegen.“ Was verdanken Sie dem Existenzialismus, insbesondere Albert Camus?

Meine Begegnung mit Albert Camus war wirklich ein Zufall. Im Mai 1957 besuchte ich die Budapester Buchmesse. Unter dem kommunistischen Regime machte die Messe es möglich, große Literatur in Ausgaben zu erschwinglichen Preisen zu verbreiten. Ich war auf der Suche nach einem Buch, das ich mir leisten könnte, denn meine Mittel waren damals sehr beschränkt. Als ich mich den Ständen näherte, bemerkte ich ein kleinformatiges Buch mit gelbem Einband – ich erinnere mich noch genau an diesen Moment. Ich habe immer kleine Bücher gemocht, denn sie scheinen Geheimnisse, klandestine Sätze zu bergen. Ich habe also den Roman auf der ersten Seite aufgeschlagen und diesen Satz gelesen: „Heute ist Mama gestorben.“ Danach die Beerdigungsszene … Ich blätterte weiter, mit dem zunehmenden Gefühl, dass mich das Buch interessieren würde. Vom Autor, Albert Camus, wusste ich wirklich überhaupt nichts, nicht einmal seinen Namen kannte ich. Das Buch kostete zwölf Forint, das war nicht der Rede wert, aber für mich armen Schlucker stellte das dennoch eine beachtliche Summe dar. Was soll’s, ich kaufte es und bin nach Hause gelaufen, um es in Windeseile zu lesen. Wie soll ich es Ihnen beschreiben? Der Roman Der Fremde hat mich umgehauen. Er ist mir buchstäblich in den Händen explodiert. Ich fand ihn genial. Ich war 27 Jahre alt und hatte es in meinem Leben noch nie mit einem genialen Schriftsteller zu tun gehabt. Ich war so durcheinander, dass ich nicht die Kraft hatte, einen Bleistift zu nehmen, um meine Eindrücke aufzuschreiben. Doch sie haben sich nicht in Luft aufgelöst, ich spürte noch vier oder fünf Jahre lang die Wirkungen dieses Schocks.

Was hatte dieses Buch, dass Sie derart von ihm eingenommen waren?

Ich weiß nicht. Ich glaube, es ist die Freiheit. Dank Der Fremde habe ich verstanden, dass die wahre Literatur ein gewaltiges Freiheitsgefühl verschafft.

Schätzen Sie auch Camus’ philosophische Essays?

Ich mochte vor allem seine Respektlosigkeit. Für mich stellte er wirklich die Figur des jungen Mannes dar, der alles entdeckt, alles sieht, sich getraut, alles zu sagen. Schauen Sie, wie Camus, der aus Algerien kam und noch keine 30 Jahre alt war, es wagte, sich der großen Begriffe der Philosophie zu bemächtigen – das Absurde, der Mord, die Freiheit – ohne Respekt, ohne Vorsicht, ohne Angst. Ich habe ihn um diese Energie beneidet. Ich habe sie ihm sogar stehlen wollen. Wenn ein Schriftsteller einen seiner Kollegen bestehlen will, kann er auf zwei Weisen vorgehen. Entweder stiehlt er auf direktem Weg bestimmte Wendungen, bestimmte Bilder – anders gesagt, er kopiert dessen Stil. Oder er taucht gänzlich in dessen Werk ein, indem er es unaufhörlich wieder und wieder liest, bis er imstande ist, seine eigene Welt mit den Augen desjenigen zu sehen, den er als Meister erwählt hat. Das ist mir mit Albert Camus passiert. Ein einziger anderer Autor hat einen vergleichbar starken Eindruck bei mir hinterlassen – Thomas Mann. Die Entdeckung von Tod in Venedig war ebenfalls ein Schock, eine Explosion, doch gedämpfter als im Fall von Der Fremde. Camus repräsentierte für mich den exzessiven und inspirierten jungen Mann, Thomas Mann den ruhigen und weisen Professor, der nicht in alle Richtungen läuft, der über Wissen verfügt und es einem gelassen vermittelt. Aus dem Werk von Thomas Mann habe ich den Geschmack an der Gelehrtheit geschöpft, während das von Camus mir eine Lektion im Leben erteilt hat.

Die Gemeinsamkeit von Camus und Mann besteht darin, dass es sich bei ihnen um Philosophen-Schriftsteller handelt. Würden Sie sich in dieser Kategorie einordnen?

Nein, ich sehe die Philosophie als eine Suche nach Wahrheit, was eine gewisse Ernsthaftigkeit des Geistes voraussetzt, während es in der Literatur um etwas anderes geht. Schreiben ist ein Spiel mit dem Tod. Wenn man sich auf das Schreiben eines Romans einlässt, muss man eine Sprache finden. Die Sorge, eine eigene Sprache zur Welt zu bringen, nimmt in den Augen des Schriftstellers eine tödliche Gewichtigkeit an, wird für ihn zu einer lebenswichtigen Frage. Mein erstes Werk, Roman eines Schicksallosen, hätte in keiner anderen Sprache als der seinen geschrieben werden können. Andernfalls wäre es keine Fiktion, sondern lediglich ein Zeugnis.

Können Sie diese wesentliche, aber nicht offensichtliche Unterscheidung vertiefen? Warum ist der Roman eines Schicksallosen in Ihren Augen Fiktion und nicht Zeugnis?

Es gibt zahlreiche Definitionen des Romans, aber ich werde Ihnen meine geben. Die Kunst des Romans besteht darin, eine Einheit zwischen drei Schlüsseldimensionen zu finden: der Sprache, der Zeit und der Handlung. Ich habe versucht, für den Roman eines Schicksallosen eine Sprache zu finden, die es mir erlaubt, wie soll ich sagen – irgendwo einzudringen. Ja, das ist es, es handelt sich um ein Buch, das keinerlei Ansprüche erhebt, das sich nicht um die Geschichte kümmert, weil ich mich weigere, die Dinge von oben oder von außen zu betrachten. Der Erzähler ist am Eintauchen, während das Zeugnis immer eine Art Zurückhaltung voraussetzt. Was die Zeit betrifft, muss der Romancier für sein Werk auch ein eigenes System der Zeitlichkeit finden. Im Fall vom Roman eines Schicksallosen ist die Chronologie linear. Wenn Sie den Roman mit verschiedenen historischen Zeugnissen vergleichen, werden Sie bemerken, dass diese Linearität Elemente zum Vorschein treten lässt, die bei den anderen beseitigt werden. Insbesondere jene Szene des Buches, in der der Erzähler aus dem Zugwaggon steigt, in Auschwitz ist und sich in die Reihe stellt, um auf die medizinische Untersuchung zu warten. 20 Minuten, 20 kleine Minuten, eine zugleich tragische und blödsinnige Sequenz, über die die meisten Überlebenden lieber kein Wort verloren haben, weil sie während dieser 20 Minuten alle, ebenso wie mein Erzähler, von einer im Nachhinein irgendwie beschämenden Naivität und Sorglosigkeit gewesen sind.

Würden Sie ein Beispiel nennen?

Hier eine Szene: Mein Erzähler ist 14 Jahre alt, er springt vom Waggon, im Durcheinander erklären ihm die zum Ausladen des Gepäcks bestimmten Lagerhäftlinge, dass er unbedingt zum Arzt sagen müsse, er sei 16 Jahre alt. „Warum?“, fragt er. Die anderen antworten: „Willst du arbeiten, ja oder nein?“ Das heißt, sie enthüllen ihm nicht die wirkliche Gefahr, um keine Welle der Panik auszulösen; sie sagen ihm nicht, dass ihn, wenn er weniger als 16 Jahre angibt, der sichere Tod erwartet. Während der Erzähler in der Warteschlange steht, schaut er hoffnungsvoll, fast enthusiastisch auf ein Fußballfeld auf der anderen Seite des Stacheldrahts, er freut sich darauf, bald dort spielen zu können. Natürlich hat er Lust zu arbeiten! Er ist beinahe zufrieden, als der Arzt ihn für tauglich erklärt, als habe er eine Prüfung bestanden. Was er nicht weiß, ist, dass die anderen direkt in die Gaskammern gehen. Einen Roman zu schreiben, heißt diese Zeit wiederzufinden, nach diesen fehlenden 20 Minuten zu suchen, die wir lieber verschweigen würden, wo sich aber alles abspielt. Es geht also nicht darum zu erzählen, was sich zugetragen hat, als eine Folge von vergangenen Ereignissen, sondern stattdessen das tiefe Gespür für das Eingetauchtsein in der Gegenwart wiederzufinden. Ein solches Eingetauchtsein ist dramatisch: Wenn ich vom Zug springe, mich in das Tohuwabohu einfüge, dann kooperiere ich – oder etwa nicht? –, dann passe ich mich meiner neuen Lage an, dann hat meine Haltung etwas von passiver Kollaboration. Im Laufe des Schreibens an diesem Roman fand ich mich unentwegt mit diesen verschlossenen Teilen meiner eigenen Geschichte konfrontiert, die ich wieder öffnen musste. Es geht nicht um historische Wirklichkeit, sondern um gelebte Authentizität.

Könnte man nicht sagen, Sie seien ein Skeptiker, ein Mensch, der vom Zweifel umgetrieben ist?

Wissen Sie, als Nietzsche erklärte: „Gott ist tot“, sprach er nicht wirklich von Gott, das ist keine theologische Behauptung. Um diesen Satz oder vielmehr diesen Aufschrei zu verstehen, darf man sich nicht Gott vorstellen, sondern muss an die Stelle dieser Vokabel die gesamte Kultur des Humanismus stellen, innerhalb derer wir es gewohnt waren, bestimmte Aussagen als Wahrheiten anzusehen. Wenn ein solcher Rahmen aus den Angeln gehoben wird, was bleibt dann? Sie sehen sich zu dem Schluss genötigt, dass jeder Mensch eine Fiktion ist, dass wir leben, indem wir in unsere eigenen Fiktionen getaucht sind, an ihnen festkleben. Schauen Sie mich an: Ich sitze in diesem Sessel, doch wenn ich mich in einen Satz stürze, beginne ich, Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Das Individuum formt sich in seiner und durch seine Sprache, es spricht und bringt sich in Form … Jeder Gedanke, der durch uns hindurchgeht, lässt eine neue Fiktion aufkommen. Einerseits kann die Tatsache, dass uns die Fiktion als Aufenthaltsort zugewiesen ist, unsere kreativen Triebe stimulieren. Andererseits hat eine solche Daseinsbedingung etwas Belastendes, sogar Tragisches. Denn die Geschichte ist tragisch, nicht wahr, wir wissen, dass es fünf oder sechs Millionen Tote in den Lagern gegeben hat , aber ich, der ich mit Ihnen spreche und der ich von dort zurückkomme, habe mein ganzes Leben eingeschlossen in Fiktionen verbracht, wie jeder beliebige andere Mensch seit Gottes Tod. Es gibt da einen Abgrund, der sich nie mehr wieder schließen wird. Und auch eine Art Lehre über unsere Daseinslage.

Wir kommen zum Ende unseres Interviews. Wollen Sie noch etwas hinzufügen?

Alles! Ich möchte gern alles sagen … doch ich habe nicht mehr die Kraft und die Zeit dazu.

Sie haben aufgehört zu schreiben. Die Krankheit lässt Ihnen also keine Atempause mehr?

Ich leide sehr darunter, das stimmt, dennoch habe ich einen guten Grund, diese Leiden zu ertragen, sie nicht schneller zu beenden. Denken Sie an die Selbstmorde von Primo Levi, von Tadeusz Borowski oder von Jean Améry, an all die Überlebenden der Lager, die sich das Leben genommen haben. Ich will meinen Namen dieser Liste nicht hinzufügen. Ich will nicht, dass man sagen kann, ich hätte den Schuldspruch selbst vollstreckt. Deshalb werde ich bis zum Ende durchhalten. •

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