Judith Butler: „Verletzungen bilden gesellschaftliche Strukturen ab“
Verwundbarkeiten sind eitel, zerstören die Debattenkultur? Die Philosophin Judith Butler widerspricht energisch – und plädiert dennoch dafür, an die Stelle des moralischen Vorwurfs wieder die Reflexion zu setzen
Forderungen nach „Safe Spaces“, Trigger-Warnungen und gendergerechter Sprache wurden in den letzten Jahren viel diskutiert. Werden die westlichen Gesellschaften feinfühliger – oder überempfindlich?
Judith Butler: Zunächst: Ich bin nicht sicher, was „westliche Gesellschaften“ sind. Ich weiß nicht, wo der Westen endet und der Osten anfängt. Hat heute nicht der Unterschied zwischen Norden und Süden größere Bedeutung? Ihre Frage zielt aber wohl darauf ab, ob Gesellschaften, die die Freiheit der Rede anerkennen, heute eher willens sind als früher, dem Sprechen Grenzen zu setzen, um Verletzungen zu lindern. Natürlich wird anstößige und verletzende Sprache heute anders definiert als früher. Und es besteht ein Dissens darüber, wo die Grenze zu ziehen sei. Hinzu kommt die Frage, ob Sprache traumatisieren oder Traumata wachrufen kann. Dieses Argument kann auf gesellschaftlicher Ebene vorgebracht werden – rassistische Äußerungen reaktivieren in den USA oft das Trauma der Sklaverei. Doch auch auf persönlicher Ebene spielt es eine Rolle, wenn Bilder oder Worte bei jemandem traumatische Erlebnisse aufrufen.
Ein gängiger Vorwurf lautet: Wenn sich der politische Diskurs auf individuelle Verletzlichkeiten konzentriert, gefährdet er die liberale Demokratie, denn er bringt die Leute davon ab, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Es wird über persönliche Erfahrungen debattiert anstatt über strukturelle Probleme. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?
Das ist ein guter Anlass, um über den Zusammenhang von individuellem Sprachgebrauch und gesellschaftlichen Strukturen mit potenziell tödlichen Mechanismen nachzudenken. Wird jemand durch eine rassistische oder homophobe Äußerung oder Handlung verletzt, ist das eine persönliche Erfahrung. Doch der Akt und seine Wirkung aktivieren eine soziale Struktur. Das Gleiche gilt für sexuelle Belästigung, die endlich im Blickpunkt der öffentlichen Debatte steht und der erfreulich viele Menschen heute Einhalt gebieten wollen. Belästigung besitzt stets eine individuelle Form, und doch bildet die Form der Handlung oder Handlungsweise eine gesellschaftliche Struktur ab und reproduziert diese. Manche sehen hier bloß eine individuelle Verantwortung, und natürlich sollten die Handelnden zur Verantwortung gezogen werden. Wenn aber das Individuum der einzige Bezugspunkt für die Analyse bleibt, entgeht uns das größere soziopolitische Bild. Wir müssen herausfinden, was es Individuen, zumeist Männern (aber nicht immer!), „erlaubt“, andere Menschen zu bedrängen, als sei das ihr Recht. Ich glaube nicht, dass zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Perspektive ein Entweder-Oder besteht. Doch eine soziale Bewegung braucht ein Verständnis, wie sich die gesellschaftliche Struktur in und mittels Handlungen auswirkt, die durch Formen von Macht und Privileg begünstigt werden. Um die Gesellschaft zu verändern, müssen wir begreifen, wie die sozialen Bedingungen der Unterwerfung durch die diversen Fälle von Schädigung reproduziert werden – und durch die Modi der Komplizenschaft, welche den Missstand festigen, indem sie vorgeben, solche Schädigungen seien etwas, das im Leben halt mal passiere.
In Ihrem Buch „Gefährdetes Leben“ kritisieren Sie, dass die Grenzen des Sagbaren sehr eng gezogen würden: etwa in den Debatten über den 11. September oder über die Politik der israelischen Regierung. Sie stellen in öffentlichen Diskursen eine Tendenz zum Antiintellektualismus fest. Heißt das umgekehrt, dass intellektuell zu sein voraussetzt, sich jeder Art von Debatte zu stellen?
Als ich jung war, konnte ich es nicht ertragen, wenn jemand den Staat Israel kritisierte, denn mir war beigebracht worden, dass er ein Fanal der Hoffnung sei, ein notwendiger Schutzraum und der einzige Weg, die Wiederkehr des nationalsozialistischen Genozids zu verhindern. Deshalb hatte ich große Schwierigkeiten damit, mir anzuhören, welches Unrecht dieser Staat an der palästinensischen Bevölkerung verübt. Wäre es mir gelungen, das mich Verstörende zu zensieren, dann hätte sich mein Begriff von Gerechtigkeit nicht gewandelt – dies konnte nur aus dem Widerspruch heraus geschehen.
Wenn es Grenzen des Sagbaren gibt, wo liegen die für Sie?
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