Kants Gedanken im Tumult
Michel Eltchaninoff ist Chefredakteur unseres Schwestermagazins in Frankreich und befindet sich gerade in Odessa. Hier hält er in den kommenden Tagen seine Eindrücke aus einer Stadt fest, die trotz allem solidarisch bleibt.
Seit mehr als drei Monaten befindet sich die Ukraine in einem von der russischen Armee begonnenen Krieg. Odessa, die große Hafenstadt am Schwarzen Meer und drittgrößte Stadt des Landes, durchlebt diesen auf eine ganz besondere Art. Als ehemaliges Juwel des russischen Reiches ist das „Sankt Petersburg des Südens“ ein wichtiger Bestandteil im ideologischen Phantasma des Putinismus und deshalb ein wichtiges militärisches Ziel. Doch obwohl Odessa mehrfach von Raketen getroffen wurde, scheint es vorerst uneinnehmbar – vom Land wie vom Meer aus.
Um zu verstehen, was die Odessiten und Ukrainer erleben, reiste Michel Eltchaninoff, Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine, in die Hafenstadt. Dort trifft er sich mit Vertriebenen, Einwohnern sowie Intellektuellen und schildert uns in einer Reihe von Texten seine Eindrücke. In diesem Eintrag berichtet er, wie sich die Hilfskräfte in Odessa organisieren, und zeichnet das bewegende Porträt eines 69-jährigen Mannes namens Viktor.
Odessa scheint zu Beginn der Woche seltsam leer zu sein. Kaum Staus, teilweise menschenleere Straßen und verlassene Terrassen. Die touristische Hauptsaison entfällt. Sehr viele Einwohner sind in andere Teile der Ukraine oder ins Ausland geflüchtet. Auf der Straße begegnen sich Bekannte und wechseln schnelle Worte:
„Ihr hier? Ich dachte, ihr seid weggegangen?“
„Ihr seht doch, dass das nicht so ist, denn wir sind ja hier! Wir dachten auch, dass ihr die Stadt verlassen hättet…“
„Aber nein!“
Not und Sorge
Derzeit beherbergt die Stadt mindestens 35.000 Vertriebene, die aus Gebieten stammen, die die russische Armee angegriffen hat. Viele von ihnen flohen Hals über Kopf und nahmen teils nur das Allernötigste mit. Dann suchten sie Hilfszentren auf wie jenes, in das die Schule Nr. 17 im Zentrum umfunktioniert wurde. Ein Banner, das zwischen mächtigen Säulen über dem Eingang gespannt ist, gibt das Motto für alle Ankommenden aus: „Ihr seid keine Flüchtlinge. Ihr seid Gäste Odessas“.
In den Augen der Familien, die davor warten, sind Not und Sorge natürlich dennoch deutlich zu erkennen. Drinnen sind mehrere Dutzend Freiwillige in schwarzen T-Shirts damit beschäftigt, Säcke mit Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern zu packen. Marina, eine der Hauptorganisatorinnen, begrüßt mich mit einem breiten Lächeln und zeigt mir, was die Familien bei ihrer Ankunft bekommen: Wäsche, Geschirr und Küchenutensilien, Shampoo, Zahnpasta und Zahnbürsten, Waschmittel, Waschschüsseln, Windeln, Gläschen, Kinderwagen und Medikamente. Odessiten, von Jugendlichen bis hin zu Rentnern, die selbst kaum mehr etwas haben, bringen spontan einen Teil ihrer Einkäufe. Dennoch fehlt es hier noch immer an allem und es wäre eine Katastrophe, wenn die Solidarität nachlassen würde, denn hier werden täglich bis zu 600 Familien aufgenommen.
„Ihr seid keine Flüchtlinge. Ihr seid Gäste Odessas“ (Bild: © Michel Eltchaninoff)
Eine Solidarität mit vielen Gesichtern
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Good Bye, Puschkin?
Michel Eltchaninoff ist Chefredakteur unseres Schwestermagazins in Frankreich und befindet sich derzeit in Odessa. Hier hält er seine Eindrücke aus einer Stadt fest, die mit ihrem russischen Erbe hadert.

Für eine Tasse Tee mit Xi?
Der jüngste Besuch Emmanuel Macrons in Peking hat in Deutschland heftige Kritik ausgelöst. Michel Eltchaninoff, der Chefredakteur Online unseres Schwestermagazins in Paris, wirft Macron eine falsche Gleichsetzung von China mit den USA vor und rät ihm zur Relektüre des Philosophen Raymond Aron.

Kants Königsberg
Heute ist Kaliningrad eine militärische Enklave Russlands, die vor allem für ihre Raketensilos bekannt ist. Doch früher, als sie noch Königsberg hieß, war die Stadt ein Zentrum der europäischen Aufklärung, in der Immanuel Kant sein beschauliches Gelehrtenleben führen konnte.

Wer sind "Wir"?
Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais.
Poulomi Saha: „Amerika befindet sich in einem regelrechten Kulturkrieg“
In vielen US-Staaten könnten Abtreibungen schon bald illegal werden. Die feministische Theoretikerin Poulomi Saha erläutert im Interview, was sich unter der Oberfläche des Streits um das historische Urteil Roe v. Wade befindet.

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Einbruch des Realen
Warum hielten trotz jahrelanger Drohungen so viele eine russische Invasion der Ukraine für unwahrscheinlich? Weil wir alternative Szenarien bevorzugen, um dem Realen zu entfliehen, meint Alexandre Lacroix, Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine. Zeit, das Undenkbare anzunehmen.

Kant und der Rassismus
Immanuel Kant gilt als der bedeutendste Philosoph der deutschsprachigen Aufklärung. Manche halten ihn gar für den größten Denker überhaupt. Vor einiger Zeit wurden Vorwürfe laut: Kant soll Rassist gewesen sein. Stimmt das?
