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Bild: Dick Thomas Johnson via Flickr (CC BY 2.0)

Interview

Klaus Zeyringer: „Das IOC ist ein Spezialist im Fassadenschwindel“

Klaus Zeyringer, im Interview mit Nils Markwardt veröffentlicht am 02 August 2021 12 min

Die Olympischen Spiele in Tokio liefern mitreißende Bilder. Der Kulturwissenschaftler Klaus Zeyringer beschäftigt sich indes auch mit den Abgründen des Sportbetriebs und erklärt im Interview, warum das IOC fast wie eine Sekte funktioniert, die Host City Contracts ein Skandal sind und der Kommerz den Nationalismus befeuert.

 

Herr Zeyringer, Sie haben 2016 eine 600 Seiten starke Kulturgeschichte der Olympischen Sommerspiele vorgelegt. Wie schauen Sie derzeit die Spiele: Als Kulturwissenschaftler? Als Sportfan? Gar als Anhänger des österreichischen Teams?

Ich habe bis dato tatsächlich noch gar nicht geschaut, weil ich meine Enkelkinder zu Gast habe, steige diese Woche aber ein und gucke dann vor allem auch aus strategischen Gründen. Zusammen mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow bereite ich nämlich gerade ein Buch vor, das von den größten Sportevents der Welt und ihren Fans handelt. Dabei wird es unter anderem auch um Olympia unter den Bedingungen der Pandemie gehen. Deshalb starte ich eine Art Selbstbeobachtung, ausgehend von einer Bemerkung des IOC-Präsidenten Thomas Bach, der in Richtung der Athletinnen und Athleten sagte, sie mögen sich um die leeren Ränge keine Sorgen machen, da sie immerhin von jenen Milliarden Menschen unterstützt werden, die an den Bildschirm gefesselt sind. Mich interessiert nun, wie es sich anfühlt, wenn man gewissermaßen als umgekehrter Prometheus der TV-Gesellschaft an den Bildschirm gekettet wird. Insgesamt gucke ich mir Sport, ganz gleich ob Olympia oder Fußball, aber immer fast ein wenig schizophren an.

Inwiefern?

Ich kann sehr fasziniert sein, möchte aber gleichzeitig analysieren, was da passiert – und vor allem vor welchen Hintergründen. Ich habe vor kurzem etwa das Schwarzbuch Sport veröffentlicht, in dem es darum geht, wie der Sportbetrieb funktioniert. Letzteres scheint mir in den Medien viel zu wenig Beachtung zu finden. Denn im Sportbetrieb zeigen sich nicht nur die enormen Probleme unserer Gesellschaften, sondern es gibt auch eine Reihe von Skandalen, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie die Host City Contracts für Olympia. Den Vertrag für die Winterspiele 2026, die schließlich nach Mailand und Cortina d’Ampezzo gegangen sind, kann man im Internet einsehen. Und dieser Vertrag – wie ähnliche der FIFA und der UEFA – verpflichtet das Gastgeberland mindestens fünf wichtige Hoheitsrechte an das IOC abzugeben, also an eine Organisation, die nach Schweizer Recht zunächst einmal nur ein Verein wie jeder Kegelclub auch ist. Dem IOC wird eine Extraterritorialität garantiert, was etwa beutetet, dass das IOC und seine Partner vier Jahre vor und ein Jahr nach den Spielen von sämtlichen Steuern des Gastgeberlands befreit werden. Der Staat gibt also erstens seine Steuerhoheit auf. Zweitens werden auch die Arbeitsrechte ausgesetzt. Drittens dürfen keine Veranstaltungen stattfinden, die die Olympischen Spiele beeinträchtigen könnten, beispielsweise Demonstrationen. Der Staat gibt viertens die Hoheit über seine Grenzen auf, weil sämtliche vom IOC akkreditierten Personen ohne Kontrolle einreisen dürfen. Und fünftens wird auch das Medienrecht aufgegeben, da das IOC die weitestgehende Kontrolle über die Übertragungen und Bilder hat. Und das halte ich für einen ziemlichen Skandal.

Auf der einen Seite ist das IOC also eine Art parastaatliche Organisation, die Regierungen vor sich hertreiben kann. Auf der anderen Seite schafft es der Verband dennoch immer wieder, unpolitisch zu wirken, indem er die vermeintliche Neutralität und völkerverbindende Kraft des Sports betont. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?

Der gesamte Sportbetrieb hat in dem Moment eine große Veränderung erlebt, als das Fernsehen – und damit der Kommerz – dazu kam. So richtig Geld gemacht hat das IOC erstmals bei den Sommerspielen in Rom 1960. Vorher handelte es sich um einen vergleichsweise mittellosen Verband, der sein Büro in Lausanne im Hinterzimmer eines Juweliers hatte. Doch als Fernsehen, Werbung und vor allem Adidas eingestiegen sind, hat sich das immer weiter in eine neoliberale Richtung entwickelt. Von heute aus betrachtet ist das Olympische Komitee – inklusive seines Gründers Baron de Coubertin sowie dessen Nachfolgern – ein Spezialist im Fassadenschwindel. Das funktioniert fast wie eine Sekte, was insofern auch nicht verwundert, als dass Coubertin sehr stark von dem Pariser Pater Didon beeinflusst wurde, welcher auch den olympischen Slogan „citius, altius, fortius“ („schneller, höher, stärker“) prägte. Dieser Fassadenschwindel funktioniert also auch deshalb so gut, weil das IOC von Anfang an eine sakrale Dimension hatte. Und das Sakrale baut ja eine Kulisse vor die Realität, hinter der dann gehandelt und gearbeitet wird. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Spiele 1936 in Berlin. Hinzu kommt aber auch noch, dass die Medien die Olympischen Spiele ab 1960 als Geld- und Aufmerksamkeitsmaschine entdecken, was bei den aktuellen Spielen in Tokio noch eine neue Stufe erreicht, da das IOC nun einen eigenen Kanal betreibt und zum Teil Eurosport übernommen hat.       

Gleichwohl wurden diese Fassaden ja aber auch immer wieder durchbrochen. Man denke etwa an Tommie Smith und John Carlos in Mexiko-Stadt 1968, die bei einer Siegerehrung die Black Power-Faust in den Himmel reckten. Bei den aktuellen Spielen sieht man zudem LGTBQ- und Black Lives Matter-Gesten, die vom IOC – wenn auch zögerlich und nur teilweise – sogar unterstützt werden. Insofern scheint sich das Verhältnis der Spiele zur Politik auch geändert zu haben.

Was den Fall von Mexiko-Stadt 1968 betrifft, so ist zunächst bezeichnend, dass man im Olympischen Museum in Lausanne, zumindest als ich es vor fünf Jahren das letzte Mal besucht habe, zwar unzählige Kultworte, -bilder und -gegenstände versammelt hat, dort aber alles, was die Fassade durchbrochen hat, nicht vorkommt – und dementsprechend auch nicht die besagte Siegerehrung im 200-Meter-Lauf. Wenn man dazu noch bedenkt, dass die beiden Sportler damals direkt nach der Siegerehrung ausgeschlossen wurden, wird deutlich, dass die Fassade nach dem Durchbruch immer wieder sofort schließt. Aber dennoch stimmt es: Das Verhältnis hat sich gewandelt. Denn auch die großen Sportverbände spüren mittlerweile einen gewissen moralischen Druck, der vor allem aus den gebildeten Mittelschichten kommt, sodass sie ihre Fassaden so gestalten müssen, dass diese dem Druck standhalten. Tun sie das nicht, bekommen IOC, FIFA und Co. das Problem, dass Partnerfirmen sich zurückziehen, weil diese um den avisierten Imagegewinn fürchten. Was sich indes auch verändert hat, ist das Selbstverständnis der Sportfunktionäre. Thomas Bach sieht sich heute auf einer Ebene mit Staatschefs. Und da solch ein Verständnis demokratisch schwierig zu vermitteln ist, lässt man sich gerne auch mit Diktaturen und Autokratien ein. Bach sitzt dann neben Putin und erklärt, dass die Winterspiele in Sotschi die tollsten aller Zeiten waren, während Putin tags drauf die Krim annektiert. Der kürzlich verstorbene Präsident des Internationalen Skiverbands Gian Franco Kasper hat vor ein paar Jahren auch ganz offen erklärt, man verhandele lieber mit Diktaturen, da sei das alles einfacher.

Trotz alledem vermag Olympia nach wie vor Heldinnen und Helden zu produzieren. Und es scheint dabei einerseits jene zu geben, die gut zu der angesprochenen Fassade passen, also makellose Top-Athleten wie Michel Phelps oder Birgit Fischer. Andererseits gibt es aber auch jene, die gebrochener sind. Sie beschreiben in Ihrer Kulturgeschichte der Sommerspiele etwa den Fall der Schwimmerin Dawn Fraser, Goldmedaillengewinnerin im 100 Freistil von 1956, 1960 und 1964. Sie litt an Asthma, musste wegen Verletzungen bei einem Autounfall ein Korsett tragen, war Raucherin, nach Eigenaussage „die beste Bietrinkerin Australiens“ und wehrte sich immer wieder gegen die Regeln der Funktionäre.

Eine Gesellschaft braucht Helden und der Sport liefert schon aus medialen Gründen heute die meisten davon. Und bei den Helden gibt es verschiedene Kategorien, weil das Publikum eben auch verschiedene Vorstellungen des Lebens damit verbindet. Am publikumswirksamsten, das lässt sich statistisch nachweisen, sind jedoch immer noch die bruchlosen Helden. In einer Umfrage, die vor wenigen Jahren in Österreich gemacht wurde, sollte angegeben werden, wer international der wichtigste Österreicher sei – und es gewann mit Abstand der Skifahrer Marcel Hirscher, der ein völlig ungebrochener Held ist, da er einfach immer seine Siege eingefahren hat. Gleichzeitig braucht es aber in der Tat auch noch andere Helden. Das sind etwa Underdog-Helden wie Georg Thoma, der 1960 in Squaw Valley Olympiasieger in der Nordischen Kombination wurde und vorher im Schwarzwald als Briefträger gearbeitet hatte. Ebenso braucht man wiederauferstandene Helden wie den Skifahrer Hermann Maier, der nach einem furchtbaren Sturz zurückgekommen ist. Und es braucht schließlich auch Heldinnen wie Dawn Fraser, die sich um nichts scheren, weil das dem Publikum die Vorstellung vermittelt, dass man sich nicht nach allen Regeln der Gesellschaft richten muss. Olympia bietet all das, was auch zu seiner Faszination beiträgt.       

Helden sind bei Olympia indes auch immer nationale Helden. Gab es diese Spannung zwischen proklamierten Internationalismus der Sportgemeinschaft und patriotischer Begeisterung eigentlich schon immer oder ist das nationale Starren auf den Medaillenspiegel ein neueres Phänomen. Immerhin hat Pierre de Coubertin ja anfangs stets den völkerverbindenden Charakter der Spiele betont.

Diese nationale Komponente hat es bei allen Spielen gegeben, sie hat sich nur in der Form verändert. 1896 in Athen ging es sehr stark um einen griechischen Patriotismus im Hinblick auf die Eroberung Kretas. In diesem Zusammenhang gab es auch ein starkes symbolisches Bild, der Kronprinz, der beim Marathon zusammen mit Spyridon Louis über die Ziellinie gelaufen ist, war dann auch derjenige, der die griechischen Truppen in die Schlacht um Kreta führte. Und schon damals wurde aufmerksam registriert, wie viele Griechen eine Medaille gewonnen haben. Zudem war das Publikum im Athener Panathinaikos Stadion entsetzt, als zwischendurch die Nachricht kam, beim Marathonlauf führe gerade kein Grieche. Ähnliches gab es auch andersherum: Der deutsche Turnerbund wollte etwa nicht nach Athen, weil die von Coubertin ins Leben gerufenen Spiele eine „französische Erfindung“ seien. Das IOC hatte sich anfangs zwar tatsächlich etwas gegen diesen patriotischen Überschwang gewehrt, konnte aber nicht verhindern, dass es dann auch sehr bald die Nationenwertung gab. Der Patriotismus ging dann sogar so weit, dass manche vor 1914 nicht unter der Flagge ihres Staatenbundes antreten wollten, die Tschechen nicht für das Habsburger Reich, die Finnen nicht für Russland, die Iren nicht für Großbritannien.

Und wie war die Situation beim Publikum?

Guckt man sich die damaligen Bilder von den Tribünen an, sieht man kaum Zeichen von Nationalität, keine Flaggen oder Trikots. Ähnlich wie beim Fußball gingen die Menschen seinerzeit in Alltagskleidung ins Stadion. Das änderte sich, als der Kommerz einzog, was wiederum auch mit Adidas zu tun hatte, da das Unternehmen seine Marke unter die Leute bringen wollte. In diesem Zusammenhang kamen sie darauf, Nationaltrikots an die Fans zu verkaufen. Ab den späten 1960er Jahren und dann nochmal verstärkt ab den 1990er Jahren, in denen sich der Neoliberalismus entfaltet hat, kamen die nationalen Symbole und Rituale dann immer stärker in die Stadien.

Dass die Kommerzialisierung den Sport-Patriotismus so beschleunigt hat, scheint ja fast ein bisschen paradox. Denn gerade jene, die viel auf Patriotismus geben, sehen in nationalen Symbolen ja geradezu etwas Sakrales, das unberührt vom Kommerz existieren muss.

Das ist letztlich genau jener Parallelismus von Neoliberalismus und Sportbetrieb, den ich genauer im Schwarzbuch Sport beschreibe. Man kann sehen, dass Mont Pèlerin und Lausanne, die im Übrigen nur 16 Kilometer voneinander entfernt sind, viel miteinander zu tun haben. Das Grundprinzip des Neoliberalismus besteht darin, alle Orte zu besetzen – und damit natürlich auch den Sport. Nicht zuletzt, weil der Sport seit den 90er Jahren die höchsten ökonomischen Steigerungsraten verzeichnete, weshalb Marketing sich buchstäblich extrem bezahlt machte.    

Neben den beiden Spannungen, über die wir schon sprachen – jener zwischen vermeintlicher Neutralität und Politik sowie der zwischen Kommerz und Nation – gibt es vielleicht noch eine dritte, und zwar die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv. Nicht nur, weil einerseits der Team-Gedanke so betont wird, während es andererseits einen Star-Kult um Einzelne gibt, sondern auch, weil die patriotische Aufladung von Sportlerinnen und Sportlern ebenso davon abhängt, ob sie siegen oder verlieren.

In jedem Fall, ja. In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es mit Sicherheit Ähnliches, aber in Frankreich, wo der Nationalismus durch den Zentralismus nochmal eine andere historische Form angenommen hat, ist mir das besonders aufgefallen: Wenn gewonnen wurde, hieß es „On a gagné“, „Wir haben gewonnen“, wenn verloren wurde „Ils ont perdu“, „Sie haben verloren“. Das Verhältnis von Ich und Masse ist insgesamt eine Beobachtung wert, vor allem auch eine Selbstbeobachtung, die mitunter erschreckend ausfallen kann. Ich bin mit Adi Hütter befreundet, der bis vor kurzem Trainer von Eintracht Frankfurt war, und war deshalb einmal bei einem Europa League-Spiel in Frankfurt. Ich kannte die Stadt und den Verein vorher kaum, konnte mich der Stimmung aber nicht entziehen, bin bei Toren jubelnd aufgesprungen und habe mitgesungen. Hat man sich einmal auf die Masse eingelassen, kann man sich ihr schwer verwehren, was auch mit Gründen zu tun hat, die Elias Canetti bereits in Masse und Macht beschrieben hat. Das Stadionrund ist nach außen geschlossen und blickt nach Innen auf sich selbst. In der Masse ist man also permanent auf sich selbst in der Masse zurückgeworfen. Dadurch kann man sich entweder nur als extrem Außenstehender betrachten, den das alles nicht interessiert, oder man lässt sich beeinflussen. Dass diese Verbindung von Masse und Macht gleichzeitig auch politisch hochsensibel ist, zeigt indes ein Beispiel aus Österreich. 1972 fand hier die größte Demonstration seit 1945 statt, nachdem der Skifahrer Karl Schranz von den Winterspielen in Sapporo wegen Werbung und Anti-Amateurismus ausgeschlossen wurde. Als dieser nach Österreich zurückkam, wurde er von einer Masse auf dem Wiener Heldenplatz empfangen und der damalige Bundeskanzler sah sich praktisch gezwungen, mit Karl Schranz auf den Balkon des Kanzleramts zu treten. Im Nachhinein sagte Kreisky, es sei ihm kalt den Rücken heruntergelaufen, weil er gemerkt habe, was man mit einer Masse machen kann.

Das IOC hat vor wenigen Tagen sein Motto erweitert. Zu „citius, altius, fortius“ ist nun noch „commuter“ dazugekommen, weshalb es jetzt also „schneller, höher, stärker – gemeinsam“ heißt. Vor dem Hintergrund des eben Gesagten, erscheint das „gemeinsam“ indes wesentlich ambivalenter, als es das IOC beabsichtigt haben mag.

Das ist nicht nur ambivalent, sondern trägt auf fast lustige Weise zum Fassadenschwindel bei. Wenn es wirklich um Gemeinsamkeit ginge, könnte man die IOC-Mitglieder beispielsweise fragen, warum sie nicht auch im Olympischen Dorf wohnen. Es ist letztlich eine Anleihe an den Neoliberalismus, der ja auch eine Art von Gemeinsamkeit behauptet, nämlich eine „Wirtschaft für alle“, auch wenn man weiß, dass es diese nicht gibt. Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass Thomas Bach nach seinem Antritt als IOC-Chef eine „Agenda 2020“ ausrief, ähnlich Gerhard Schröders „Agenda 2010“, einer der neoliberalsten Reformprojekte, die es in der deutschen Politik je gegeben hat.

Um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Können Sie angesichts der Beschäftigung mit dem Sportbetrieb den Sport wirklich noch genießen. Oder denken Sie sich nicht, dass man das eigentlich alles boykottieren müsste?

Ich kann ihn sehr stark genießen, weil mich der Sport seit Kindheitstagen fasziniert. Ich kann mir dabei nur überlegen, was die wirklichen Momente der Faszination sind. Als Österreich bei der Fußball-Europameisterschaft gegen Italien gespielt hat, wollte ich beispielsweise, dass die Italiener gewinnen, weil mich deren Spiel viel mehr begeistert hat. Insofern kann ich von einer nationalen Faszination absehen. Was den Boykott betrifft, gibt es für mich ein gutes Beispiel. Zusammen mit dem Standard-Redakteur Stefan Gmünder habe ich 2018, kurz vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland, das Buch Das wunde Leder publiziert. Am Ende steht ein Manifest, das ich mit Ilija Trojanow verfasst habe und in dem wir erklären, was wir von diesem Fußballbetrieb halten, um dann dazu aufzurufen, man möge die WM im Fernsehen boykottieren. Ich habe es unter größten Mühen geschafft, mir keine Minute eines Matches anzuschauen. Ilija Trojanow, der Deutscher ist, hat sich aber die Spiele der deutschen Mannschaft angeguckt, Stefan Gmünder, der Schweizer ist, die Spiele der schweizerischen Mannschaft. Wenn also schon wir, die wir zum Boykott aufrufen, diesen nicht schaffen, kann man das von niemandem verlangen. Insofern ist das mit Boykott illusorisch. Ich erachte es jedoch als Aufgabe, sowohl von den Medien, aber auch von mir, dem interessierten Publikum zu berichten, was sich im Hintergrund abspielt, sodass sich diejenigen, die wollen, auch informieren können. Ich bin dennoch nicht verwundert, dass so viele Menschen vom Sport fasziniert sind – denn er ist eben faszinierend. •

 

Klaus Zeyringer ist Germanist und Kulturwissenschaftler und lehrte als Professor für Germanistik an der Université Catholique de l’Ouest in Angers. Zuletzt veröffentlichte er u.a. „Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte. Band I: Sommer“ (S. Fischer, 2016), „Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte. Band II: Winter“ (S. Fischer, 2018) und „Schwarzbuch Sport – Show, Business und Skandale in der neoliberalen Gesellschaft“ (Springer, 2021).

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