Kleine Kulturgeschichte des Boykotts
Die USA werden die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking diplomatisch boykottieren. Doch welche Erfolgschancen bietet diese Strategie? Ein Blick in die Geschichte des Boykotts kann helfen.
Aus Protest gegen den „Genozid und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ an den Uiguren in Xinjiang werden die USA im Februar keine diplomatische Delegation zu den Olympischen Winterspielen nach Peking entsenden. Auch wenn diese Entscheidung kräftig Staub in den internationalen Beziehungen aufwirbelt, ist sie nicht mit den Boykotten zu vergleichen, die von UdSSR und USA in den 1980er Jahren gegen internationale Sportveranstaltungen verhängt wurden: Dieses Mal dürfen die amerikanischen Athleten an den Spielen teilnehmen, lediglich „Regierungsvertreter und Diplomaten“ bleiben ihnen fern. Kann diese Strategie aufgehen? Um darauf eine Antwort zu finden, wollen wir zu ihren Ursprüngen zurückgehen.
Die Strategie des Boykotts ist bereits in der Antike bezeugt. Unter anderem auch im Rahmen sportlicher Wettbewerbe. Wie Bernard Jeu und Martine Gauquelin in Le Sportif, le philosophe, le dirigeant (1993) ausführen, nennt der griechische Reisende Pausanias zwei Beispiele: Das erste entstammt dem Reich der Mythen. Als Herakles seinen Lohn für das Ausmisten des Augiasstalls einfordert, wird er geprellt. „Verdrossen und zur Rache entschlossen“, „metzelt [er] mit Pfeilschüssen“ zwei Sportler nieder, die aus der von Augias regierten Stadt Elis zu den Isthmischen Spielen gekommen sind. „Die Einwohner von Elis fordern Wiedergutmachung. Doch Argos, wo Herakles weilt, verweigert seine Herausgabe. Und Korinth lehnt es ab, Herakles von den Isthmischen Spielen auszuschließen. Zutiefst gekränkt geloben die Eleer feierlich, in Zukunft keine Repräsentanten mehr zu den Wettkämpfen am Isthmus zu entsenden.“
Die zweite Affäre, historisch wahrscheinlicher, aber auch prosaischer: „Im Jahr 332 v.u.Z. hatte der Athener Kallippos seine Kontrahenten beim Fünfkampf [Wettrennen, Weitsprung, Diskuswerfen, Speerwerfen und Ringen] bestochen. Die Affäre wäre wahrscheinlich schnell ad acta gelegt worden, wenn nicht die Athener, die die Strafe begleichen sollten, das Bußgeld verweigert und darüber hinaus beschlossen hätten, keine Athleten mehr zur Olympiade zu schicken“. Kurz, der Boykott ist keine neuzeitliche Erfindung.
Soziale Exkommunikation
Der Begriff Boykott hingegen ist relativ neu. Er leitet sich vom Namen Charles Cunningham Boycott ab, einem Gutsverwalter John Crichtons, des dritten Earl of Erne in der irischen Grafschaft Mayo. Nach Ernteausfällen forderten die Bauern eine 25-prozentige Pachtminderung. Der Comte lehnte ab und Boycott wurde ausgeschickt, um die Aufsässigen davonzujagen. Doch die Bevölkerung rebellierte, worüber zu der Zeit auch Le Figaro berichtete: „Über Hauptmann Boycott wurde ein absolutes Verbot verhängt, kein Arbeiter war bereit, für ihn zu arbeiten, kein Händler wollte ihn noch mit dem Wenigsten versorgen. Briefe und Depeschen wurden abgefangen, und um sein Leben zu schützen, konnte er nur noch bis zu den Zähnen bewaffnet und unter Polizeischutz das Haus verlassen.“ Die Ächtung erstreckte sich auch auf Pächter, die die Güter der Vertriebenen erwerben wollten: „Wenn sich jemand auf einem Hof niederlassen möchte, von dem ein anderer unrechtmäßig vertrieben wurde, müssen Sie ihn auf Straßen und Wegen meiden, müssen Sie ihn in den Gassen ihrer Stadt meiden, müssen Sie ihn in den Geschäften, in den Gärten, auf den Märkten, ja selbst in der Kirche meiden.“ Es geht also um eine „soziale Exkommunikation“.
Später wurde der Begriff aus dem angelsächsischen Sprachraum in andere Sprachen übernommen. Und über die Jahre verbreiteten sich in unterschiedlichen politischen Kontexten vielfältige Boykottpraktiken, ob spontan oder organisiert, über politische oder ökonomische Hebel, strafend oder Anreize schaffend: der von Gandhi initiierte Boykott der kolonialen Salzsteuer in Indien, der 1955 von Martin Luther King angestoßene Busboykott von Montgomery, mit dem gegen rassistische Diskriminierung protestiert wurde, der internationale Boykott gegen die Marke Outspan in den 1970er Jahren, der sich gegen die Apartheid in Südafrika richtete, die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) gegen die israelische Politik in Palästina oder auch – viel episodenhafter – 2020 der chinesische Boykott des Films Mulan.
Der ökonomische Faktor
Natürlich ganz zu schweigen von den zahlreichen Boykotten der olympischen Spiele: besonders 1980 der US-amerikanische Boykott in Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und 1984 als Vergeltung der Boykott durch die UdSSR. Der jetzt von den USA beschlossene diplomatische Boykott schreibt sich in diese Tradition ein, zugleich unterscheidet er sich aber auch davon, wie die Soziologinnen Ingrid Nyström und Patricia Vendramin in Le Boycott (2015) herausgearbeitet haben: „Heute sind die Spiele mehr eine ökonomische als eine ideologische Angelegenheit. Ein Land, das die Spiele boykottiert, riskiert damit, die Märkte des Gastlands zu verlieren. Die Wahl des Ausrichters orientiert sich an ökonomischen Kriterien. Zum Beispiel hat kein Land die Spiele von Peking 2008 boykottiert, und das trotz zahlreicher Proteste gegen die chinesische Repression in Tibet. […] Die boykottierenden Länder begnügen sich damit, keine politische Delegation zur Eröffnungszeremonie zu entsenden, und hüten sich dabei oft, ihre Gründe offenzulegen.“
Bei aller Formenvielfalt bleibt die Logik dieselbe: Druck auf ein Land oder Unternehmen auszuüben, indem man sich einem von ihm organisierten Ereignis kollektiv verweigert und ihm so ökonomischen oder symbolischen Schaden zufügt. Wie der Soziologe Albert Hirschmann in Abwanderung und Widerspruch (1974) festhält, ist „der Boykott eine Erscheinung an der Grenze zwischen Widerspruch und Abwanderung. Beim Boykott wird die Abwanderung nicht nur angedroht, sondern findet tatsächlich statt, doch wird sie in der spezifischen und ausdrücklichen Absicht unternommen, eine Änderung des Verhaltens der boykottierten Organisation herbeizuführen, und ist daher eine echte Mischung aus den beiden Mechanismen. An die Stelle der Abwanderungsdrohung als Instrument des Widerspruchs tritt hier ihr Spiegelbild, das Versprechen des Wiedereintritts“.
Nur symbolische Ereignisse?
Kann diese Strategie etwas bewirken? In gewissem Maße ja. Charles Cunningham Boycott hat am Ende aufgegeben. Doch der Erfolg dieses Boykotts beruhte erstens auf der massiven Mobilisierung einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit und zweitens darauf, dass der Verwalter, gegen den sich der Boykott richtete, direkt geschädigt werden konnte. Heute, in einer globalisierten Welt mit gegenseitig voneinander abhängigen Akteuren, liegen die Dinge komplizierter. Es ist schwer, eine ausreichend große Gruppe von Boykotteuren lang genug zu mobilisieren, um Druck auf Staaten oder transnationale Unternehmen auszuüben und sie eine Zeit lang vom internationalen Spiel auszuschließen.
Im Allgemeinen bleiben die Kräfte hinsichtlich der eingesetzten Mittel ungleich verteilt, daher sind Boykotte zunehmend nur noch punktuelle oder symbolische Ereignisse. Um die Gegenüberstellung aufzugreifen, die der Jurist Monroe H. Friedman in Consumer Boycotts. Effecting Change Through The Marketplace and The Media (1999) vorschlägt, handelt es sich nicht mehr um „instrumentelle Boykotte“, die auf eine wirkliche und unmittelbare Veränderung abzielen, sondern um „expressive Boykotte“, die das Gewissen aufrütteln und die öffentliche Meinung sensibilisieren möchten, um umfangreichere Aktionen vorzubereiten. Die Wirksamkeit eines Boykotts hängt also von seiner Zielsetzung ab! •
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