Kopflos durch die Nacht
Am 22. November veröffentlichte die Musikerin Soap&Skin mit TORSO ein Cover-Album. Wo die eigenwillige Aneignung gelingt, entstehen neue Originale.
Der Mensch wird nackt geboren, aber kaum ist er auf der Welt, wickelt man ihn in Windeln, warme Tücher, gibt ihm Körper- und Kopfbedeckung, auf Englisch: cover. Die Musikerin Anja • wurde 1990 auf einem Schweinemasthof in der Steiermark geboren, ging mit sechzehn an die Wiener Kunstakademie, war Meisterschülerin bei Daniel Richter, schmiss das Studium aber schnell wieder hin, nannte sich Soap&Skin und veröffentlichte mit achtzehn ihre erste EP. Nun, mehrere preisgekrönte Schallplatten, Schauspielmusiken, Film- und Theaterrollen später, erscheint erstmals ein reines Cover-Album der Künstlerin: Torso enthält Songs von David Bowie, Tom Waits, The Velvet Underground und den Doors, aber auch von weniger konsensfähigen Kandidatinnen wie den kalifornischen Poprockern 4 Non Blondes oder dem französischen One-Hit-Wonder Desireless.
Anja Plaschgs erstes Instrument war das Klavier, später kam die Geige hinzu: Diese kammermusikalische Herkunft merkt man etwa ihrer Version von Mystery of Love noch an, wo der intime interpretatorische Gestus unverkennbar auf den Urheber des Songs, den gottbegnadeten Indie-Säusler Sufjan Stevens, verweist. Interessanter wird es dort, wo das musikalische Ausgangsmaterial nicht ganz passt, wo das Cover sich nicht an den Körper schmiegt, wo der Ausgangsstoff juckt oder Falten wirft. Den 1980er-Jahre-Disco-Stampfer Voyage Voyage interpretiert Soap&Skin als tastend hingetupfte Klavierstudie. Und die Powerballade What’s Up? lässt sie mit verlorenem A-capella-Gesang beginnen, bevor eine dissonante Drum Machine reinbratzt, später kommen tröstende Streicher und eine Kirchenorgel dazu. Dieses Dekonstruktionsverfahren erinnert bisweilen an die norwegische Sängerin Stina Nordenstam und ihr meisterhaftes Cover-Album People Are Strange. Wer bei der dezent austriakisch gefärbten, nicht immer intonationsfesten, gerade dadurch aber schmerzhaft ehrlich wirkenden Stimme von Soap&Skin an Nico denkt, liegt aber auch nicht ganz falsch: Plaschg verkörperte die legendäre Chanteuse fatale einmal in einer Theaterproduktion in den Berliner Sophiensaelen.
Das Lied als Gebäude
Vielleicht liegt es an Plaschgs Erfahrung als Bühnenschauspielerin, dass sie Musik nicht temporal, sondern auch räumlich denkt. „Es kann sowohl wunderbar als auch beängstigend sein, diese Räume zu betreten“, sagt sie über ihre Sammlung von Stücken aus fremder Feder, „diese voll eingerichteten Orte von anderen Seelen zu öffnen, (…) meine Geschichte in der Form anderer zu erzählen, ein Haus, das von jemand anderem gebaut wurde.“ Das Lied als Gebäude, das seinem Wesen nach statisch, aber doch veränderbar ist, das seinen Charakter mit jeder Baumaßnahme verändert: Das Konzept erinnert an die „Bekleidungstheorie“ des Architekten und Kunsttheoretikers Gottfried Semper, der Mitte des 18. Jahrhunderts erklärte, dass die „Bekleidung der Mauern (…) das Ursprüngliche, seiner räumlichen, architectonischen Bedeutung nach das Wesentliche“ sei, die tragenden Mauern dahinter hingegen „das Sekundäre“. Aristotelisch gesprochen: Die vermeintlichen Akzidentien bilden die Substanz. Oder, auf die Interpretation fremder Songs angewandt: Das fremde Musikgewand wird zum eigenen. Das Cover wird zum Original.
Vor diesem Hintergrund wird auch der Titel des Albums plastisch. Beim Torso ist der menschliche Körper ja auf das scheinbar Wesentliche reduziert, den Rumpf, das Herz, die inneren Organe. Aber: Ein Torso an sich wäre nicht überlebensfähig, und vor allem: Er hat kein Gesicht, keine Stimme. Der Torso lebt erst, wenn ihm jemand seinen Hals, seinen Mund, seine Lippen und Zunge verleiht. Er wird durch den anderen geboren. •
Soap&Skin: „Torso“ (PIAS), 22.11.2024