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Bild: © Benjakon

Reportage

Liberalismus in Grün

Jana C. Glaese veröffentlicht am 09 September 2021 12 min

Die Grünen kämpfen noch immer mit dem Vorwurf der „Verbotspartei“. Sie selbst hingegen sehen ihre Politik als Steuerung von Prozessen, die lebenswichtig, ja überlebenswichtig sind. Wer aber hat recht? Eine Reportage von Jana C. Glaese.

 

Denkt man an die Anfänge der Grünen zurück, so ist die Kritik, sie seien eine Partei der Unfreiheit, zumindest bemerkenswert. Denn was die Grünen mit ihren diversen Wurzeln – sowohl in der außerparlamentarischen Opposition der 1960er, der Umwelt-, Anti-Atomkraft-, Friedens- und Frauenbewegung der 1970er und der DDR-Bürgerrechtsbewegung der 1980er – zunächst einte, war nicht allein die Natur. Es war der Kampf um mehr Selbstbestimmung. Es ging darum, sich in Strickpullovern von der Werte- und Wirtschaftsordnung der damaligen Zeit zu emanzipieren und Freiräume für alternative Lebensentwürfe zu schaffen. Dem Staats- und Machtapparat gegenüber waren viele Grüne argwöhnisch. Partei im klassischen Sinn wollten sie nicht sein. Sondern eher eine „Anti-Parteien-Partei“. Gründungsmitglied Petra Kelly schrieb: „Wir streben danach, Macht zu dezentralisieren und die Freiheit und Selbstbestimmung von Einzelnen, Gemeinschaften und Gesellschaften zu maximieren.“ Macht sollte von unten nach oben fließen.

Heute wollen die Grünen längst nach oben, in die Regierung – und sehen sich weiterhin als Partei der Freiheit. Meinen sie damit aber noch das Gleiche? Auf dem jüngsten Parteitag der Grünen Anfang Juni erklärte der Bundesvorsitzende Robert Habeck seinen „qualifizierten Freiheitsbegriff“ vor einem Grund leuchtender Blätter und Baumkronen: „Freiheit ist nicht Regellosigkeit und dass alle machen, was sie wollen. Freiheit wohlverstanden bedeutet, über die Regeln und Bedingungen des eigenen Lebens selbst zu bestimmen.“ Regeln sind, anders gesagt, Ausdruck und Gewähr der Freiheit.

Ich spreche Habeck wenige Tage nach dem Parteitag per Videokonferenz. Der Terminkalender ist voll. Als er sich einwählt, wackelt das Bild. Er habe sich verquatscht, entschuldigt er sich, sei noch unterwegs. Als ich ihn, mittlerweile in seinem Büro in der Geschäftsstelle angekommen, auf seine Rede anspreche, betont Habeck, dass sein Freiheitskonzept philosophisch gesehen natürlich „wenig spektakulär und wenig neu“ sei. Man denke an Albert Camus oder Hannah Arendt. Für sie bedeute Freiheit eben nicht frei von den Bedingungen der Wirklichkeit zu sein, sondern diese zu gestalten. In der Politik, allerdings, seien derart differenzierte Sichtweisen offensichtlich noch nicht angekommen. „Im politischen Diskurs wird ein vulgärer Freiheitsbegriff zugrunde gelegt“, sagt er. „Da ist Freiheit ein purer, abstrakter, fast metaphysischer Begriff. Da heißt es, ‚die gesellschaftlichen Normen, die Regeln des Staates, die sozialen Bedingungen, die ökologischen Bedingungen, die spielen alle keine Rolle.‘ Wir postulieren, ‚Freiheit bedeutet frei von allen Bezügen zu sein.‘“ Für Habeck absolut falsch und unterkomplex.

 

Habeck
 
Bild Robert Habeck: Jens Passoth

 

Philosophisch lässt sich seine Position mit dem Begriff der „positiven Freiheit“ fassen – dem Gegenbegriff zur „negativen Freiheit“. Negative Freiheit meint die Abwesenheit von Zwang und Einschränkungen. Mit positiver Freiheit hingegen werden die faktischen Möglichkeiten bezeichnet, eigene Lebensentwürfe zu realisieren. Für die einen beginnt Freiheit also dort, wo der Einfluss von Staat und Gesellschaft endet. Für die Vertreter positiver Freiheit wie Habeck gilt just das Gegenteil. Der Staat wird zu einer geschätzten Kraft, welche die Bedingungen unserer Selbstentfaltung sichert.

Liegt in der Hinwendung zur positiven Freiheit ein neuer grüner Ansatz? Habeck stimmt auf Nachfrage zu, dass es sicherlich eine Verschiebung im Freiheitsverständnis gegeben habe. „Früher, als die Grünen eine kleine Minderheit waren, als die Mehrheitsgesellschaft den Kopf geschüttelt und gesagt hat, ‚Ihr Spinner, was macht ihr denn eigentlich?‘, ging es darum, Freiräume zu verteidigen“, sagt er. „Heute geht es darum, Freiheit zu ermöglichen – und zwar für möglichst viele, vielfältige Lebensformen.“

Das Freiheitsverständnis der Grünen scheint auf dem Vormarsch – besonders nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ende April erklärte das Gericht das 2019 von der Bundesregierung verabschiedete Klimaschutzgesetz für verfassungswidrig. Die teilweise jungen Kläger, darunter Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung, so das Urteil, würden durch unzureichende Vorkehrungen zum Klimaschutz in ihren Freiheitsrechten verletzt. Es „darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen“, befanden die Richter, „wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt“ wird.

 

Klimaschutz als Freiheitsschutz?

 

Den Anspruch, die Verantwortung für unser Handeln zeitlich und räumlich auszuweiten, hat wohl kaum jemand so eindringlich vertreten wie der Philosoph Hans Jonas. In seinem 1979 erschienenen Buch Das Prinzip Verantwortung warnte er vor den destruktiven, kaum kontrollierbaren Kräften neuer Technologien wie etwa der Atomkraft und formulierte einen erweiterten, ökologischen Imperativ. Wenngleich eine solche Ethik in dem Sinne radikal ist, dass sie die Tragweite menschlicher Verantwortung ausweitet, sah Jonas sie auch als ganz basalen Erhalt der Freiheit. „Worauf es jetzt ankommt, ist nicht, ein bestimmtes Menschenbild (…) herbeizuführen“, schrieb er, „sondern, zuallererst den Horizont der Möglichkeit offenzuhalten, der (…) der menschlichen Essenz immer neu ihre Chancen bieten wird.“

Ein Argument, das die Grünen mit der Formel „Klimaschutz ist Freiheitsschutz“ immer wieder anführen. Wenn wir wegen der eskalierten Klimakrise in 20 Jahren Freiheitseinschränkungen ähnlich wie bei der Coronapandemie hinnehmen müssten, dann hätten wir politisch alles falsch gemacht, so Habeck. Konkret gesprochen wollen die Grünen deshalb die Erhöhung des CO2-Preises vorziehen, ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos zulassen und ein Klimaschutzministerium einrichten, das gegen Vorhaben, welche gegen die Pariser Klimaziele verstoßen, ein Veto einlegen kann. „Jetzt rechtzeitig in die Regelhaftigkeit und die Normgebung des Staates einzusteigen“, sagt Habeck, „schützt am Ende die Freiheit.“

Stimmt das? Ist die Abwägung tatsächlich so eindeutig? Widerspruch regt sich besonders gegen die Verquickung von Prognosen und Politik. „Die Sachzwangpolitik hatten wir doch schon in den letzten 40 Jahren“, schreibt mir auf Nachfrage Robert Pfaller, Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Für ihn signalisiert die Politik der Grünen nur eine Verlängerung dieser Logik. Zu den vermeintlich objektiven finanziellen Zwängen sind nun eben ökologische dazugekommen. Dabei, unterstreicht er, bedürfe Politik doch immer einer Interpretation. „Realitäten sprechen niemals für sich selbst.“

 

Pfaller
 
Bild von Robert Pfaller: Stefanie Moshammer

 

Es lässt sich aber doch nicht bezweifeln, dass der Klimawandel eine Gefahr darstellt, auf die wir reagieren müssen, gebe ich zu bedenken. Wie also lässt sich Selbstbestimmung dabei angemessen verhandeln? Wie einen Ausgleich zwischen individueller und kollektiver, zwischen heutiger und zukünftiger Freiheit schaffen? Pfaller zeigt sich über den Verweis auf die Zukunft gewaltig irritiert. „Zu glauben, dass hier luxuriöse Freiheitsspielräume von Einzelpersonen existierten, die man für die ökologischen Ziele der Gattung anzapfen könnte, ist entweder naiv oder infam.“ Für ihn ist das Problem schon falsch dargestellt. Bedroht sieht er nicht die Freiheit in der Zukunft, sondern Menschen und Natur heute – und zwar durch massive Ausbeutung. Wenn man sich dieser Situation wirklich stellen wolle, erklärt er, dann müsse man ihr „mit Maßnahmen im Großen“ begegnen. Das hieße, der Rüstungs- und Kriegsindustrie („bekanntlich besonders prominente Umweltschädlinge“) aufzukündigen, eine Deglobalisierung einzuleiten und mit eigens geförderten Rohstoffen auszukommen.

Die Grünen begründen ihre „starke“ Politik allerdings nicht nur mit der Klimakrise. Sie beanspruchen auch, Orientierung und Stabilität in einer Zeit von beschleunigtem Wandel zu bieten. Habeck spricht unter Rückgriff auf den konservativen Philosophen Arnold Gehlen von einem „Entlastungsbedürfnis“, dem Politik begegnen soll. In Habecks zu Jahresbeginn erschienenen Buch Von hier an anders (KiWi) beschreibt er die Erleichterung, die sich einstellt, folgendermaßen: „Bestimmt zu werden, Entscheidungen nicht treffen zu müssen, kann erleichternd sein. Jeder weiß, wie gut es sich anfühlen kann, wenn einem jemand eine Entscheidung abnimmt.“ Funktional gesehen ist das durchaus einleuchtend. Es geht um Arbeitsteilung. Aber das Versprechen irritiert auch. Sollten wir nicht die Idee hochhalten, dass Mündigkeit bedeutet, auch Belastungen und Ungereimtheiten zu ertragen? Kants Grundsatz, dass wir uns unseres Verstandes „ohne Leitung eines anderen“ bedienen sollen – gilt der etwa nicht mehr?

„Es ist eine Gradbemessung“, sagt Habeck. „Aber unter dem Strich würde ich sagen, dass die Unterstellung, der Mensch ist frei und deswegen selbstverantwortlich, ausblendet, wie der Mensch ist.“ Wenn er sich etwa bei jedem Socken- oder Hemdenkauf vergewissern müsste, ob das Produkt fair produziert wurde, würde er wahnsinnig werden. Die Idee, dass jede Entscheidung eigenverantwortlich getroffen werde, sei eben nur abstrakt richtig, passe aber nicht zur Wirklichkeit. „Daraus ergibt sich, dass der Staat eine Entlastungsfunktion hat, ein Leben nach den Idealen, die wir haben, halbwegs zu gewährleisten.“ Das Ideal vom mündigen Konsumenten hält er für „eine Schimäre“. Ein Teil der Gesellschaft kaufe sehr bewusst ein, aber eben doch ein kleiner Teil. „Wir können als Bürger politisch stärker sein, als wir es als Konsumenten und Verbraucher sind.“

 

Nur Gewinner?

 

In Teilen sieht das auch Robert Pfaller so. Die Probleme der Ökologie, der Ungleichheit und der kriegerischen Konflikte, sagt er mir, könnten Menschen niemals als Einzelne lösen. „Dazu ist die Politik da.“ An anderer Stelle aber hält er nichts von Einmischung. „Dafür kann sie uns aber in Ruhe lassen mit ihren infantilisierenden Warnungen vor bösen Worten oder ungesunden Genussmitteln.“ Übergriffig findet er insbesondere Vorstöße für eine inklusive, nichtdiskriminierende Sprache, beispielsweise die Einführung von Binnen-Is oder die Streichung rassistischer Bezeichnungen, wie sie sich auch im Wahlprogramm der Grünen finden. Bereits in seinem Buch Erwachsenensprache (S. Fischer, 2017) bezeichnet er solche Vorstöße als „Pseudopolitik“. Anstatt dringliche, materielle Missstände anzugehen, halte man sich an Bezeichnungen und symbolischer Inklusion auf. „Die postmodernen Identitäts- und Sprachpolitiken sind nicht der Anfang“, schreibt er, „sondern vielmehr das Ende und der Ersatz einer Politik der Gleichheit.“

Dass grüne Politik uns nicht gleicher macht, sondern elitär sei, wird der Partei immer wieder vorgeworfen. Vor allem mit Blick auf ihre Klimapolitik. Belastet die Sicherung kollektiver Freiheit einige ganz besonders? Natürlich habe die Entwicklung hin zu einer CO2-freien Gesellschaft Konsequenzen für das Mobilitäts-, Essens- und Urlaubsverhalten der Menschen, sagt Habeck. Und im konkreten Fall – etwa für jemanden, der täglich 40 Kilometer zur Arbeit fahren müsse, höhere Spritkosten und kein Geld für ein neues Elektroauto habe – seien das „extreme Zumutungen“. „Völlig unstrittig.“

Die Grünen wollen hier sozialpolitisch entgegenwirken, etwa über billigeren Strom und ein Pro-Kopf-Klimageld. Doch vehemente Kritik können sie damit nicht entkräften. Warum? Es sei schon immer so gewesen, dass Techniken sich wandeln und damit Arbeitsplatz- und Einkommensverluste drohen, erklärt Habeck. „Was neu ist“, sagt er, „ist, dass die Veränderung jetzt politisch induziert werden muss.“ Bisher wurde Veränderung durch die Wirtschaft angestoßen. Ein Urprinzip des Kapitalismus. „Schöpferische Zerstörung“ nennt Habeck das in seinem Buch mit Rückgriff auf Joseph Schumpeter. Heute sei der Wandel nicht mehr allein technisch getrieben, sondern ökologisch notwendig. Daher müsse der Ausstieg aus alten und der Aufbau neuer Produktionsweisen nun politisch forciert werden. „Das macht die Schärfe der Debatte aus: dass Umwelt die Politik definiert, dass Klima die Politik definiert.“ Um Freiheit oder „gar ein gestörtes Verhältnis“ zur Freiheit geht es seiner Ansicht nach nicht.

 

Mehr als Freiheit

 

Wirklich nicht? Gerade für eine ambitionierte Klimapolitik müssen wir uns doch auch persönlich umstellen. Berühren wir damit nicht unweigerlich den Möglichkeitsraum gewisser Lebens- und Glücksvorstellungen, frage ich. „Nein“, antwortet er. „Es geht nicht darum, irgendwelche Lebensformen zu ermöglichen oder zu verbieten.“ Es gehe allein darum, die Regeln auf politischer Ebene neu zu justieren. Ein Beispiel: Das Ziel sei nicht, jedem Menschen ein persönliches Budget für CO2 oder tierische Kalorien zu geben. Das wäre ein direkter Eingriff. Grundfalsch. Wenn man aber die Preise für tierische Produkte oder den CO2-Ausstoß anziehe, dann würde der Verbrauch insgesamt reduziert, ohne in einzelne Konsumentscheidungen einzugreifen. Man stehe immer noch vor der freien Wahl, ob man auch noch das fünfte Kotelett grille oder am nächsten Tag auf etwas anderes verzichte, wofür man das Geld sonst ausgegeben hätte. „Menschen sind immer noch frei zu entscheiden, wie sie mit Maßnahmen umgehen.“ Habeck wiederholt eine von ihm gern genannte Devise: „Es geht nicht darum, bessere Menschen zu machen, sondern bessere Regeln.“

Ich frage Rahel Jaeggi, Professorin für Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität, was sie von dieser Unterscheidung hält. Wir sitzen im sonnigen, ruhigen Innenhof eines Kreuzberger Cafés. Richtig, sagt Jaeggi, findet sie Habecks Feststellung, dass Menschen in gestaltbaren sozialen Strukturen leben und diese Strukturen ihr Handeln prägen. „Was ich allerdings falsch finde, ist die Vorstellung, dass wir damit allein Rahmenbedingungen schaffen, in denen Menschen dann ihren Werten entsprechend leben können“, sagt sie. „Das ist natürlich unsinnig.“ Vielmehr begünstige der Rahmen ganz bestimmte Werte und Lebensformen.

Für Jaeggi erklärt sich damit auch die Gegenwehr gegen progressive Verstöße wie etwa die Gleichstellung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Natürlich gehe es hier in gewisser Weise nur um basale Freiheitsrechte für alle. Gleichzeitig greife dieser Blick aber zu kurz. Denn obwohl, so betont Jaeggi, sie die Gegenwehr nicht berechtigt finde, müsse man sehen: Der Pluralismus der Lebensformen verändere unweigerlich auch die Realität klassischer Familien. „Eine konservative Familienvorstellung, die davon lebt, dass sie naturalisiert ist, wird dadurch untergraben. Als eine Wahl neben zehn anderen ist die Vorstellung, ,Wir sind das Natürliche, wir sind das Normale‘ für immer vorbei.“

 

Jaeggi
 
Bild von Rahel Jaeggi: Gene Glover

 

Irreführend ist nach Jaeggis Ansicht auch die Unterstellung, dass die politische Prägung von Lebensformen etwas Neues sei. Schließlich folgt die aktuelle Geschlechterpolitik auf Jahrzehnte, in denen besonders durch die Union eine traditionelle Familienordnung gefördert wurde. Siehe Ehegattensplitting. Ähnliches lässt sich für die Verkehrspolitik sagen: So wie Autos heute den Fahrrädern Platz machen, beruhte die „freie Fahrt“ der Autofahrer lange auf dem Verbot für Kinder, in den Straßen zu spielen. „Es ist ein beliebter Trick, so zu tun, als ob der Status quo naturhaft gewachsen wäre, während das andere das eingreifende Verbot ist“, so Jaeggi. Dabei könnte man nicht so tun, als ob Politik die Ausgestaltung des Lebens je unberührt ließe oder ohne normative Setzung auskomme. „Die ethische Abstinenz halte ich für ein Scheinmanöver“, sagt sie. „In Wirklichkeit greift man natürlich ein. Und dann muss man sagen, dass man das genau will – und dafür Gründe liefern.“

Jaeggis eigener Ansatz geht genau in diese Richtung: In ihrem Buch Kritik von Lebensformen (Suhrkamp, 2013) plädiert sie dafür, die Frage des guten Lebens nicht länger als reine Privatsache zu verhandeln, wie es auch in der Philosophie lange der Fall war. Als gesellschaftlich-kulturelles Produkt sollte man Lebensformen ins Zentrum der Diskussion rücken, anstatt Neutralität zu wähnen. Anders gesagt: Ethik und Moral, Fragen des guten Lebens und der Gerechtigkeit, lassen sich nicht trennen. Folgt man dieser Sicht, so hieße das, Transformationen, wie sie die Grünen vorschlagen, viel offensiver zu diskutieren.

Dann würde es nicht nur um Freiheit und Gerechtigkeit gehen, sondern darum, ob Politik ein gelungenes Leben begünstigt oder verhindert. Mit Blick auf die Genderpolitik erläutert Jaeggi, was sie damit meint: „Es geht dann nicht nur darum zu beanstanden, dass bestimmte Gruppen diskriminiert und ausgeschlossen werden, sondern darum, gewisse Lebensformen als einengend und unglücklich machend zu kritisieren.“ Wir müssten uns also fragen, ob es nicht nur gerechter, sondern auch glücksversprechender ist, heterosexuelle Normen aufzusprengen und sich freier zu entwerfen. Und übertragen auf die Klimapolitik: Ist es nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch schlichtweg erfüllender, nachhaltig und naturnah zu leben?

 

Das gute, grüne Leben

 

Ein genauerer Blick ins Wahlprogramm der Grünen legt das durchaus nahe. Da soll die Zukunft nicht nur klimagerecht und frei, sondern auch „lebenswerter“ und „besser“ sein, indem sie „leiser, sauberer, gesünder, günstiger und sozial gerechter“ wird. Ausmachen lassen sich die Konturen des Lebenswerten vor allem dann, wenn es um die Stadt als Ort der Begegnung und die Nähe zur Natur geht. Insgesamt aber gilt: Eine explizite Auseinandersetzung über das gute Leben scheinen Habeck und die Grünen zu scheuen. Primär stellen sie den Schutz der Artenvielfalt, Klimaschutz, Geschlechtergleichstellung in den Dienst der Freiheit. Kaum mehr.

Sicher, wer Lebensstile thematisiert, riskiert, Mehrheiten zu verlieren, Unterstützung für den Klimaschutz zu vergraulen. Andererseits ließe sich fragen, ob die Grünen ihre eigenen Ziele erreichen können, ohne dabei auch Entwürfe des guten Lebens zu verhandeln. Reicht eine Politik, die bessere Regeln entwirft? Oder müssen wir nicht auch alte Lebensformen kritisieren, neue entwerfen, um uns und unsere Welt zu retten? Möglicherweise ist dies die entscheidende Frage der Zukunft. •

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