Liquider Autoritarismus
Zumindest als US-Präsident ist Donald Trump bald Geschichte. Doch bleibt nach dem Sturm auf das Kapitol auch für die Zukunft die Frage, wie sich die von ihm geschaffene Bewegung einordnen lässt: Ist sie klassisch rechtspopulistisch oder gar faschistisch? Genauer lässt sich das Phänomen fassen, wenn man es mit Zygmunt Bauman auch als Reaktion auf die „flüchtige Moderne“ begreift. Ein Essay von Heinrich Geiselberger.
Von dem 1978 gestorbenen italienischen Schriftsteller und Theoretiker Ignazio Silone ist der Satz überliefert, dass der Faschismus, wenn er wiederkehre, nicht sagen werde, er sei der Faschismus. Er werde sagen, er sei der Antifaschismus. Der Satz wurde mittlerweile von Rechten in Besitz genommen und von Twitter-Usern auf vielfältige Weisen anders vervollständigt. Bemühungen, den „Sturm auf das Kapitol“ auf den Begriff zu bringen, folgten einem ähnlichen Muster: Man konnte lesen, es habe sich um einen Putschversuch gehandelt, der jedoch als etwas anderes verkleidet gewesen sei. Andere hielten entgegen, es habe sich nicht um einen Coup gehandelt, sondern um „entfesseltes Rabaukentum“ (FAZ-Herausgeber Gerald Braunberger), um eine Entladung „akkumulierter Ressentiments“ (Politikwissenschaftler Edward Luttwak) oder ein „Re-Enactment“ zuvor in den sozialen Medien durchgespielter Fantasien (Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich).
Einigen dieser Deutungen wurde vorgeworfen, dass sie das Geschehen verharmlosten. Dabei spiegelt sich in der Unklarheit bei Bezeichnung der Washingtoner Ereignisse vor allem eine allgemeinere Unsicherheit: Was ist der „Rechtspopulismus“, der uns mit Figuren wie Donald Trump entgegentritt, nun eigentlich genau? Autoritarismus? Oder gar Faschismus? Wie man es einordnet, hängt offenbar nicht zuletzt von der Ebene ab, auf die man sich konzentriert: auf das Programm, die Struktur, die Ästhetik, die soziale Basis oder die Folgen. Versteht man Faschismus mit dem ungarischen Philosophen Gáspar Miklós Tamás sehr allgemein als Bewegung, die mit dem Aufklärungsversprechen der universellen Bürgerrechte (citizenship) bricht und diese Rechte bestimmten Gruppen (Migrantinnen, Empfängern von Sozialtransfers usw.) vorenthalten will, gibt es Übereinstimmungen. Gewaltaffinität und Maskulinismus weisen in eine ähnliche Richtung. Mit Blick auf Erscheinungsbild, Strategie und Demografie stechen allerdings sofort Unterschiede ins Auge.
Als Silone oder Erich Fromm in der Zwischenkriegszeit den Faschismus analysierten, interpretierten sie ihn, grob gesprochen, als eine gegen die Arbeiterbewegung gerichtete Allianz von bestimmten, wie man lange sagte, Kapitalfraktionen und Kleinbürgertum. Intuitiv wird heute bei Faschismus an Versuche gedacht, mit autoritären Mitteln Ordnung zu schaffen. Es werden Organisationen für Kraftfahrer, junge Frauen usw. gegründet. Arbeitgeber und Gewerkschaften werden zu einer Arbeitsfront zusammengebracht, in braune oder schwarze Hemden gekleidete Massen führen im Stechschritt Choreografien auf. Vor diesem Hintergrund beginnen die Unterschiede jedoch schon damit, dass nicht wirklich klar ist, was für eine linke Herausforderung heute abgewehrt werden sollte – schließlich bestimmten Autoren wie Silone und Fromm so die Funktion des Faschismus: Man verstand sich als Bollwerk gegen den Sozialismus.
Frei flottierende Einstellungen
Doch die organisierte Arbeiterbewegung ist in der Gegenwart so schwach wie seit 150 Jahren nicht (wenn man von faschistischen Phasen absieht). Bezeichnend ist insofern, dass plötzlich alles Mögliche als „Sozialismus“ firmieren kann: Forderungen nach einem Tempolimit oder Einschränkungen des privaten Waffenbesitzes ebenso wie gendergerechte Sprache oder das Wertpapierkaufprogramm der EZB. Auch welche Gruppen die gegenwärtigen Träger rechter Bewegungen sind, ist trotz entsprechender politikwissenschaftlicher Untersuchungen nicht endgültig klar. Dass am „Rechtspopulismus“ Repräsentanten bestimmter Wirtschaftszweige als Verstärker, Finanziers oder Akteure beteiligt sind, man denke an Rupert Murdoch (Medien), Charles Koch (Öl), Christoph Blocher (Chemie) oder Donald Trump (Immobilien), passt in die genannte Deutung, wird aber oft ausgeblendet, wenn der „Rechtspopulismus“ als Protestbewegung von „Hinterwäldlern“ oder „Globalisierungsverlierern“ interpretiert wird.
Handelt es sich bei der anderen Hälfte der Allianz jedoch wirklich vor allem um arbeitslos gewordene Industriearbeiter? Gehen die überhaupt noch wählen oder auf die Straße? Oder handelt es sich nicht doch vielmehr um die petite bourgeoisie? Um Handwerker, und Ladenbesitzerinnen, denen man Angst vor Anarchie und höheren Steuern eingeredet hat? Was bedeuten Kategorien wie „Kleinbürgertum“ oder „Proletariat“, wenn Klassen sich immer weiter ausdifferenzieren, wenn das Proletariat in Kernbelegschaften und Leiharbeiterinnen zerfällt und ein festangestellter Automobilingenieur mehr zu verlieren hat als Gig Worker bei Uber oder die Inhaberin einer kleinen Boutique in Kenosha, Wisconsin? Am „Sturm auf das Kapitol“ waren wohl unter anderem Nonnen und Angehörige der Sicherheitskräfte beteiligt. Eine Immobilienmaklerin aus Texas reiste im Privatflugzeug an. Einer der „Pelzmantel-Randalierer“ ist offenbar der Sohn eines New Yorker Richters.
Natürlich kann man darüber mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung Genaueres erfahren, es gibt keinen Grund, angesichts der Unübersichtlichkeit zu kapitulieren. Doch wo (Post-)Strukturalisten darauf insistieren, dass keine natürliche Verbindung zwischen Zeichen und dem besteht, was sie bezeichnen sollen, gilt dies auch für die Beziehung zwischen Klassenposition und Wahlverhalten, die nicht vorgegeben, sondern ein Ergebnis von Organisierung und der erfolgreichen Vermittlung von Deutungsangeboten ist. Politische Einstellungen können relativ frei flottieren und tun es auch, heute erst recht.
Karnevalesker Schrecken
Unernst statt grimmiger Entschlossenheit; Schwarm statt choreographierte Formation (Narendra Modis paramilitärische Organisation RSS mag hier eine Ausnahme darstellen); Merchandise-Artikel statt Uniformen; Follower statt Mitglieder; Flashmobs statt regelmäßiger Treffen (natürlich gibt es auch klandestine Gruppen, die Todeslisten anlegen, und Milizen mit mehr als nur rudimentären Strukturen); erratische Maßnahmen statt langfristiger politischer Projekte (wobei es auffallend oft um Deregulierung und Machterhalt etwa durch Einschränkungen der Gewaltenteilung geht); eine Figur wie Trump, der spalterische Reden mit popkulturellen Versatzstücken kombiniert – vielleicht ist es schon im Ansatz falsch, solche Phänomene einfach mit Begriffen wie „Putsch“, „Faschismus“ oder „Autoritarismus“ auf den Punkt bringen zu wollen, handelt es sich dabei doch um Kategorien aus einer, mit dem 2017 verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman gesprochen, „festen Moderne“. Die prägten noch halbwegs stabile Großgruppen, planbare Karrierewege, intermediäre Assoziationen (Kirchen, Gewerkschaften usw.) und um ein Mindestmaß an Konsistenz bemühte Ideologie – mit einer gewissen, sich daraus ergebenden Berechenbarkeit.
Der ungarische Philosoph Gáspar Miklós Tamás hat schon 2000 von „Postfaschismus“ gesprochen, um den skizzierten Unterschieden Rechnung zu tragen, wobei Begriffe mit der Vorsilbe „post“ immer den Nachteil haben, dass sie nur sagen, was nicht mehr ist. Bauman selbst spricht daher nicht von Postmoderne, sondern hat der festen Moderne einen konkreteren Begriff gegenübergestellt. Viel Ständiges und Stehendes sei verdampft, so Bauman, westliche Gesellschaften seien spätestens im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in die Phase einer „liquiden“ oder „flüchtigen Moderne“ eingetreten. Atomisiert, volatil, schwarmartig, mit unklaren Grenzen zwischen Ernst und Ironie. Der 1925 in Posen geborene Bauman, der die feste Moderne mit all ihren Schattenseiten erlebte, hat diese Diagnose auf diverse Bereiche angewandt: „liquid love“, „liquid time“, „flüchtige Überwachung“.
Wie lassen sich aus dieser Perspektive die Ereignisse am Kapitol deuten? Einzelne Ereignisse sind natürlich immer flüchtig, also hätte Bauman wohl kaum von einem „flüchtigen Putsch“ gesprochen, aber von einem liquiden Autoritarismus möglicherweise doch. Versuche, die Besonderheiten von Phänomenen wie des „Trumpismus“ herauszuarbeiten, laufen damit nicht automatisch auf eine Verharmlosung hinaus. Was flüchtig oder karnevalesk aussieht, kann schreckliche Folgen haben: für – darauf hat Tamás ebenfalls schon 2000 hingewiesen – Angehörige abgewerteter Gruppen, für etwaige Ziele zukünftiger Rohrbombenbauer, für Gesellschaften insgesamt, die immer weiter aufgeheizt werden. Und wer kann heute wirklich ausschließen, dass die Farce vom 6. Januar sich bei Joe Bidens Amtseinführung oder später als Tragödie wiederholt?
Arnold Schwarzenegger verglich den „Sturm auf das Kapitol“ mit den Novemberpogromen von 1938, woraufhin ihm zu Recht entgegengehalten wurde, der Bürgerbräu-Putsch sei doch die passendere Referenz. 1923 war die nationalsozialistische Bewegung ihrerseits noch in einem flüchtigen Stadium, bevor sie sich im Lauf der zwanziger und dreißiger Jahre organisatorisch und institutionell verfestigte. Aggregatszustände können in unterschiedliche Richtungen wechseln: von fest über flüssig zu gasförmig und umgekehrt. In diesem Sinne könnte man den Rechtspopulismus der Gegenwart, zumindest seitens der heterogenen Basis, also auch als Versuch interpretieren, mit liquid autoritären Mitteln auf eine Situation der kulturellen und ökonomischen Flüchtigkeit zu reagieren, um die – ein weiterer Begriff Zygmunt Baumans – „Retrotopie“ einer festeren Moderne zu verwirklichen. •
Heinrich Geiselberger gab 2017 im Suhrkamp Verlag den Sammelband „Die große Regression“ heraus, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
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Umberto Eco im Gespräch: "Die Sprache ist eine permanente Revolution"
Seiner Herkunft nach Philosoph, wurde Umberto Eco als Romanautor und kosmopolitischer Essayist zu einer intellektuellen Legende. Die Leichtigkeit, mit der er alle Themen angeht, zeigt, dass Denken eine lustvolle Tätigkeit ist.
Umberto Eco war eine geheimnisumwitterte Figur. Wie ist aus diesem Kind einer einfachen Familie im Piemont der kosmopolitische Intellektuelle geworden, der er war? Als Enkel eines Druckers und Sohn eines Buchhalters verbrachte Eco den Krieg mit seiner Mutter in den Bergen, wo sich der Salesianerorden Don Bosco seiner annahm und in ihm die Liebe zu der Philosophie des heiligen Thomas von Aquin wachrief. Wie ist aus dem Autor zweier erfolgreicher Mittelalterkrimis und ein paar ironischer Essays über den Zeitgeist ein Gelehrter geworden, der sich wie ein Magier von Peking über São Paulo nach Paris durch die Welt bewegte, um seine intelligente und vergnügte Meinung über den Triumphzug der Simulakren zum Besten zu geben, über den Niedergang des Buches, über Verschwörungstheorien – oder über Charlie Brown als „Moment des universellen Bewusstseins“? Um dieses Geheimnis zu lüften, haben wir uns mit ihm im Louvre getroffen, wo er 2012 auf Initiative des Instituts Transcultura eine Kommission von Künstlern, Architekten und Intellektuellen aus Europa und China versammelt hatte. Das Ziel? Die Einübung einer Art intellektueller Gymnastik, die seiner Meinung nach nötig ist, wenn es gelingen soll, in der großen Konfrontation zwischen den Kulturen, die sich vor unseren Augen abspielt, Orientierung zu finden. Das, was er „geistige Vielsprachigkeit“ nennt oder die Fähigkeit, nicht nur eine einzige Sprache zu sprechen, sondern die feinen und entscheidenden Unterschiede zwischen den Kulturen auszumessen.

Imre Kertész: "Denken ist eine Kunst, die den Menschen übersteigt"
Die Redaktion des Philosophie Magazin trauert um Imre Kertész. In Gedenken an den ungarischen Schriftsteller veröffentlichen wir ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2013.
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Nietzsche, Wittgenstein, Camus – es war die Philosophie, die Imre Kertész den Weg zur Literatur wies. Der ungarische Nobelpreisträger blickte in seinem, wie er selbst vermutete, „letzten Interview“ zurück auf ein Leben, das sich weder durch Konzentrationslager noch die kommunistische Zensur zum Schweigen verdammen ließ.
„Wissen Sie, ich habe viel über Ihre Fragen nachgedacht“, sagte Imre Kertész gleich zu Beginn, als er uns in seiner Wohnung in Buda, einem Stadtteil von Budapest, empfing. „Mir liegt daran, mit Ihnen ein schönes Interview zu führen, weil es vermutlich mein letztes sein wird.“ Dieser testamentarische Satz könnte makaber wirken, aber im Gegenteil: Seiner kurzatmigen Stimme zum Trotz leuchtet es in seinen Augen lebhaft und verschmitzt. Seit gut einem Jahrzehnt kämpft Kertész mit der Parkinsonkrankheit, Ursache zahlloser Schmerzen und Schwierigkeiten, von denen seine veröffentlichten Tagebücher berichten. Diese Krankheit zwang ihn, 2012 offiziell das Schreiben aufzugeben, und lässt ihm täglich nur wenige kurze Momente der Ruhe.
Es ist schwer, nicht gerührt zu sein bei der Begegnung mit diesem so geprüften und zugleich so zäh durchhaltenden Menschen, der unentwegt über die Paradoxa des Daseins als „Überlebender“ nachgesonnen hat. Imre Kertész wurde 1929 geboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald gebracht, wo er 1945 die Befreiung des Lagers erlebte. Den wesentlichen Teil seines Lebens hat er daraufhin unter dem kommunistischen Regime in Ungarn verbracht. Kertész begann Mitte der fünfziger Jahre zu schreiben. Zugleich toleriert vom Regime und sorgsam ferngehalten von der Öffentlichkeit, veröffentlichte er in äußerst überschaubaren Auflagen und kühl aufgenommen von der offiziellen Kritik Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ oder „Der Spurensucher“. Erst mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden seine Werke in aller Welt übersetzt und fanden internationale Anerkennung, gekrönt vom Literaturnobelpreis im Jahr 2002.
Wenn es eine weniger bekannte Dimension seiner Existenz gibt, dann ist es das Verhältnis des Schriftstellers zur Philosophie. Aus Leidenschaft, doch auch, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, übersetzte Imre Kertész zahlreiche deutsche Philosophen vom Deutschen ins Ungarische, unter ihnen Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein. Die Lektüre dieser Autoren sowie die von Albert Camus und Jean-Paul Sartre hat unentwegt sein Werk genährt. Vor allem aus dem Wunsch heraus, sich über seine – intensive und beständige – Beziehung zur Philosophie zu äußern, stimmte Kertész unserer Interviewanfrage zu.

Roger Berkowitz: „Dieser Wahlkampf zeugte vom Ende einer ‚gemeinsamen Welt‘“
Auch wenn es so aussieht, dass Joe Biden die US-Wahlen für sich entscheiden kann, wirft Donald Trumps überraschend gutes Abschneiden viele Fragen auf. Der Philosoph Roger Berkowitz, Direktor des Hannah-Arendt-Zentrums am Bard College in New York, erklärt im Gespräch, weshalb der amtierende Präsident der schrecklichste der amerikanischen Geschichte ist, er nach wie vor so viele Menschen überzeugt und seine Amtszeit im Rückblick dennoch ein Glücksfall für die USA sein wird.

Sie ist wieder da. Die Frage nach der Identität.
In der gesamten westlichen Welt kehren Identitätsfragen ins Zentrum des politischen Diskurses zurück. Donald Trump stilisierte sich erfolgreich als Anwalt des „weißen Mannes“. Marine Le Pen tritt in Frankreich mit dem Versprechen an, die Nation vor dem Verlust ihrer Werte und Eigenheiten zu bewahren. Auch in Deutschland wird das Wahljahr 2017 von kulturellen Verlustängsten dominiert werden. Das Projekt der Europäischen Union droht derweil zu scheitern. Terrorangst schürt Fremdenfeindlichkeit Wie lässt sich diesen Entwicklungen gerade aus deutscher Sicht begegnen? Mit einem noch entschiedeneren Eintreten für einen von allen nationalen Spuren gereinigten Verfassungspatriotismus? Oder im Gegenteil mit neuen leitkulturellen Entwürfen und Erzählungen? Bei all dem bleibt festzuhalten: Identitätspolitik war in den vergangenen Jahrzehnten eine klare Domäne linker Politik (u. a. Minderheitenrechte, Genderanliegen). Sind bestimmte Kollektive schützenswerter als andere? Was tun, damit unsere offene Gesellschaft nicht von Identitätsfragen gespalten wird?