Mit Bourdieu im Banlieue
Vor der Wahl am Sonntag mobilisieren einige französische Parteien mit Anfeindungen gegen die Bevölkerung der Banlieues ihre Wählerschaft. Anhand Pierre Bourdieus Theorien wird deutlich, dass das wahre Problem in der Architektur der Stadt versteckt liegt.
Auch in diesem Wahlkampf spielen die französischen Banlieues eine große Rolle: Immer wieder rücken die Vororte der französischen Großstädte in den Vordergrund medialer Berichterstattungen und dienen als Grundlage politischer Kampfansagen. So hetzen rechte Politiker*innen wie Marine Le Pen gegen die dortige Bevölkerung, von der Linken wird sie missachtet und Emmanuel Macron hat schon im vergangenen Wahlkampf viel versprochen und nichts davon gehalten.
Tragisch, da mehr als fünf Millionen Menschen in den Vororten leben: Um die Wirtschaft anzukurbeln, holte die französische Regierung in den 1950er-Jahren Millionen von Gastarbeiter*innen aus den ehemaligen Kolonien ins Land und siedelte sie in den Peripherien an. Dort wurden sie vergessen, reduziert auf ihre Fähigkeit Arbeit zu verrichten. Als die nächste Generation ihr Recht auf Bildung und eine Gesundheitsversorgung beanspruchte, wurden aus den gesichtslosen Arbeiter*innen plötzlich Menschen, die die gefühlt begrenzten Mittel der französischen Bevölkerung beanspruchten.
Aus der passiven Ausgrenzung wurde eine aktive. Sowohl die politisch Rechte als auch die politische Mitte mobilisierten so ihre Wählerschaft. Vor allem den Jugendlichen haftet ein negatives Stigma an, die „jeunes de banlieues“ gelten als „kriminell“ und „verkommen“. Sarkozy nannte sie „Abschaum und Gesindel“ und ließ verlauten, dass man in den Banlieues „einmal mit dem Hochdruckreiniger durchkärchern müsse“. 2005, nachdem zwei Jungen bei ihrer Flucht vor der Polizei starben, ereigneten sich Aufstände im ganzen Land. In den folgenden Wochen wurden Zehntausende Autos in Brand gesteckt, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und weiteren tausenden Verhaftungen. Die Menschen haben ihre Wut gezeigt. Am 26. März wurde in Seine-Saint-Denis, einem Vorort von Paris, ein 33-jähriger Schwarzer Mann bei einer Verkehrskontrolle erschossen und wieder gehen Hunderte Menschen dort auf die Straße. Währenddessen tragen die Präsidentschaftskandidat*innen Dutzende Lösungsvorschläge an die Bevölkerung und übersehen dabei den Kern des Problems: Die Architektur der Stadt.
Machtstrukturen und Stadtplanung
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Bourdieu und der Habitus
Im Zentrum von Pierre Bourdieus Hauptwerk Die feinen Unterschiede steht der „Habitus“. Eine Art Stallgeruch, der Einfluss auf die Eigen- und Fremdwahrnehmung eines Menschen hat. Über ein System von Grenzen und Möglichkeiten im Zeitalter der Globalisierung.

Warum verschicken wir kitschige Postkarten?
Vorne Kitsch, hinten Floskeln. Gerade jetzt verschicken wieder Tausende Menschen Postkarten an die Daheimgebliebenen. Doch warum eigentlich? Harry Frankfurt, Pierre Bourdieu und Jacques Derrida geben Antworten.

Pierre Zaoui: „Man muss seinem Begehren treu sein“
Geglückte Veränderung hieß für den niederländischen Denker Baruch de Spinoza (1632–1677) nicht, sich neu zu erfinden. Ganz im Gegenteil forderte er dazu auf, „in seinem Sein zu beharren“. Der Spinoza-Experte Pierre Zaoui erklärt, was damit gemeint ist.

Sirenengesang
Am 10.09. werden in ganz Deutschland um 11 Uhr für eine Minute die Sirenen heulen und die Radiosender ihren Betrieb einstellen. Der Grund: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) führt damit einen nun jährlich stattfindenden „Warntag“ ein, durch den die Bevölkerung für künftige Katastrophen sensibilisiert werden soll. Daran wird deutlich, wie fundamental sich unser Verständnis von Sicherheit geändert hat – und warum dieses für die großen Katastrophen der Zukunft wenig taugt.

Am Beispiel des Kellners
Philosophen führen gerne Beispiele an, um ihre Theorien zu veranschaulichen. In Das Sein und das Nichts wählt Sartre einen Kellner, um sein Konzept der „Unaufrichtigkeit“ zu illustrieren.

Zeichen der Hoffnung
Als Russlands Invasion in der Ostukraine begann, trafen die Bewohner der Stadt Lwiw Vorkehrungen zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung – sowie ihrer Statuen und Denkmäler. Eine Deutung mit David Hume.

Versteckte Logiken
Lange galt eine Gewissheit als unerschütterlich: Die Welt strebt unaufhaltsam auf eine vom Westen orchestrierte, wohlstandssteigernde, friedenssichernde Ordnung zu.

Der Kampf um den stillen Ort
Jeden Morgen entleert fast eine halbe Milliarde Inder ihren Darm im Freien, was große gesundheitliche Probleme für die Bevölkerung mit sich bringt. Um dem abzuhelfen, möchte der Premierminister Narendra Modi ein „sauberes Indien“ und bis zum Jahr 2019 alle Haushalte mit Toiletten ausstatten. Doch der Bau von sanitären Anlagen ist auch eine kulturelle Baustelle: Beim Versuch, das Verhalten von Millionen Individuen zu verändern, wird Indien zu einem großen Experimentierfeld für biopolitische Strategien.