Mit Rechten leben
Rechte bis rechtsextreme Positionen sind keine Randgesinnung, sondern finden Zuspruch bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Unweigerlich teilen viele mit ihren Sympathisanten und Verfechtern den Alltag – im Dorf, in der Familie, im Verein. Was tun? Sollte man sie meiden, bekämpfen, die Brandmauer ins Private ziehen? Oder könnten Empathie, Bindung und Offenheit helfen, die Demokratie im Nahverhältnis zu verteidigen?
Obwohl die Feier schon einige Jahre zurückliegt, hat sie sich in Brittas* Gedächtnis eingebrannt. Es ist der Geburtstag ihres Neffen. Man hat ein Lokal gemietet, zwischen 40 und 50 Gäste sind da, Nachbarn, Freunde, Familie. Die Stimmung ist ausgelassen. Als Britta aufsteht, um sich am Büfett zu bedienen, entdeckt sie den Geschenketisch, der daneben aufgestellt ist. „Ich schaue mich um und bleibe an einer Collage mit Fotos hängen. Da entdecke ich ein Bild von zwei oder drei Männern, die den Hitlergruß zeigen.“ Sie erstarrt, ist zunächst unfähig zu reagieren. „Ich habe mich furchtbar erschrocken. Und dann kam auch gleich die Wut und ich dachte: Warum sagt keiner was?“ Britta spürt eine diebische Freude im Raum, Augenwinkel, die sie fixieren. Unter ihnen die Männer. Die von der Collage. In ihrem Kopf toben die Fragen, sie versucht sich zu entscheiden: Fährt sie sofort nach Hause? Bricht sie jeglichen Kontakt ab? Doch in ihr ist auch diese andere Stimme. „Es ist aber meine Familie. Ich habe den Bubi auch gerne.“ Bubi. Damit ist der Neffe gemeint, auf dessen Geburtstagsfeier sich Nazis treffen. „Will ich auf ihn verzichten? Will ich hier ein Fass aufmachen und die ganze Geburtstagsfeier aufmischen?“
Lücke im Diskurs
Wir werden auf Britta und die Feier, die sie damals in Thüringen besuchte, noch zurückkommen. Ihre Geschichte bildet den Schlusspunkt einer Deutschlandreise, mit der ich eine Lücke füllen möchte. Denn sooft über den Umgang mit Rechten in der Politik, über Brandmauern auf Regierungsebene, und über die Präsenz von AfD-Politikern in den Medien diskutiert wird (und das zu Recht), kommt ein anderer Aspekt doch viel zu kurz: der Umgang im Alltag. Politikerinnen und Wähler der AfD und all jene, die mit rechten bis rechtsextremen Positionen sympathisieren, sind auch Kolleginnen und Vorgesetzte, alte Bekannte und Nachbarinnen, Gefährten im Chor, Feuerwehr- oder Sportverein, Bruder, Schwester, Onkel. Wie verhält man sich ihnen gegenüber? Sollte man den Umgang mit ihnen meiden, oder wenn der Kontakt unvermeidbar ist, ihnen nur in Opposition begegnen? Oder wäre es möglich, ja sogar der Demokratie dienlich, sich emphatisch oder neugierig zu zeigen? Zugespitzt: Sollten wir die Brandmauer vom Politischen ins Private ziehen, weil alles andere zur Normalisierung der extremen Rechten beiträgt – oder wäre gerade das ein Fehler? Auf diese Fragen findet man im öffentlichen Diskurs wenig Antworten. Zeit also, sie zu suchen. Und zwar bei den Menschen, die mit Rechten leben. In Ost wie West. Tag für Tag.
Kunst für alle
Meine Reise führt mich zunächst in ein kleines Dorf in Ostbrandenburg. Bei der letzten Landtagswahl haben hier über 38 Prozent die AfD gewählt. „Die Menschen hier sind historisch in Kontakt mit Rechten und finden das auch überhaupt nicht schlimm. Die kennen sie schon von klein auf und sehen deswegen den Menschen hinter der Gesinnung“, sagt Grit*, während wir in ihrem Bulli über die unbefestigten Wege poltern, die sich an den Rändern des Dorfes entlangziehen. Grit ist Künstlerin und heißt eigentlich anders. So wie alle Personen, die in dieser Reportage über ihr Leben sprechen, will auch sie nicht mit ihrem richtigen Namen erwähnt werden. Denn auch wenn Grit im Alltag immer wieder Stellung gegen rechts bezieht, teilt sie ihn zugleich mit jenen Menschen, die rechte Positionen vertreten. Das Miteinander möchte sie nicht aufs Spiel setzen, sich nicht ins gesellschaftliche Aus befördern. Grit wirkt auf mich rau und sanft zugleich. Ihre kurzen Haare hat sie an der Stirn mit einem Clip zur Seite gestrafft. Nachdem sie lange woanders gewohnt hat, ist sie vor einigen Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Hier weiß jeder über jeden Bescheid. In solch gewachsenen Nahverhältnissen ist das Gegenüber immer mehr als nur seine politische Position.
Das gilt, erzählt Grit, auch für jenen Mann aus dem Dorf, der regelmäßig ein Auto- und Rallyetreffen veranstaltet. „Das Spektakel ist schön, es hat etwas Anarchisches. Aber wenn man dann all die Glatzen mit Springerstiefeln sieht oder diese wehrmachtsgrauen Autos und den Seitenwagenfahrer mit Koppelschnalle und Hakenkreuz, da wird es einem mulmig.“ Grit war einmal dort und würde nicht wieder hingehen. Den Veranstalter aber mag sie nach wie vor. Sie erzählt von einer langen Unterhaltung mit ihm, auch um Geflüchtete und Ausländer sei es gegangen. Man habe sich auf nichts geeinigt, sei sich aber offen und respektvoll begegnet. „Wir sehen über diese unterschiedlichen Standpunkte hinweg“, sagt sie. „Wenn wir gemeinsam ein Bier trinken wollen, dann tun wir das auch.“ Von einer Freundschaft zu sprechen, wäre hier übertrieben. Aber die beiden schätzen und helfen einander. Einmal mähte er fünf Stunden ein Feld, damit ein Künstler, den Grit eingeladen hatte, eine Skulptur dort aufstellen konnte.
Dieser Ansatz – Bindungen halten, trotz krasser politischer Differenzen – zeigt sich auch in Grits Arbeit. Gemeinsam mit Sabine*, einer engen Kollegin und künstlerischen Partnerin aus Westdeutschland, organisiert sie derzeit einen Workshop. Das Ziel: gemeinsam ein Logo für das Dorf zu entwickeln. Die Einladung, die die beiden an die Bewohner geschickt haben, ist so offen formuliert, dass alle sich davon angesprochen fühlen können. Sie hätten jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, um so neutral wie möglich zu klingen, erklärt Sabine, die sich per Videoanruf meldet, während wir in Grits Küche sitzen. Eingeladen wird jetzt zu Kaffee, Kuchen und Spaß. Ist das richtig, sich so positionslos zu präsentieren? „Unsere Idee ist, all diese Leute, mit ihren verschiedenen, komischen Ideen und Ängsten, wieder zusammenzubringen und über den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reden, nämlich das Dorf.“ Dafür, meint Grit, müssten sie unpolitisch sein. „Das Politische ist das Trennende. Damit verhindere ich Kommunikation.“ Sabine sieht es etwas anders: „Man kann gar nicht unpolitisch sein. Einen Raum zu schaffen, in dem alle sein können, ist für mich eine politische Tat.“ Sie haben also keine Sorge, damit zu angepasst daherzukommen, gerade jetzt? „Nein, gar nicht“, entgegnet Grit. „Gerade weil wir alle einladen, setzen wir den Rechten etwas entgegen. Bei denen sind ja gerade nicht alle willkommen.“
Raus aus der Polarisierung
Grit und Sabine versuchen, eben jenes Freund-Feind-Schema auszuhebeln, das so oft die Kommunikation zwischen Nichtrechten und Rechten bestimmt und im Kern auf den Juristen Carl Schmitt zurückgeht. Im Denken Schmitts – der selbst Anhänger der Nationalsozialisten war – ist der Feind konstitutiv für die eigene Identität. Der Historiker Per Leo hat diese Dynamik gemeinsam mit Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn in dem Buch Mit Rechten reden herausgearbeitet. Ich treffe Per Leo im idyllisch am Halensee gelegenen Wissenschaftskolleg zu Berlin, an dem er gerade Fellow ist. „Das rechte Sprachspiel ist die klassische Bully-Situation auf dem Schulhof“, sagt Leo. „Jemand braucht ein konfrontatives Gegenüber, um sich in seiner Identität finden zu können.“ In dem Moment, wo der andere der rechten Provokation, zum Beispiel einer Behauptung wie „Man darf seine Meinung nicht mehr sagen“ oder „Die eigentlichen Nazis sind die Linken“ widerspricht, spielt er mit. Er gibt den Rechten den Widerspruch und die vermeintliche Bedrohung, die sie suchen. Für Per Leo ist schon viel gewonnen, wenn man der Provokation nicht auf den Leim geht, sondern sie ins Leere laufen lässt. „Ich muss oft an die taoistische Maxime von Laotse denken: Tue nichts und alles ist getan“, sagt er. Besonders im Privaten sei das Risiko, das im Umgang mit Rechten liege, sehr gering. Anders als auf der Bühne, laufe man hier kaum Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Stattdessen gebe es die Chance, etwas über das Gegenüber herauszufinden. „Wenn wir Rechte wittern, sollten wir den Impuls, sie zu bekämpfen, kleinhalten.“ Im Zweifel sei zuhören, laufen lassen, freundlich in der Tonlage, höchstens bestimmt in der Sache nachfragen, besser, als sich zu sagen: „Wenn ich jetzt nicht laut Nein schreie und kämpfe, dann bricht das vierte Reich aus.“ Also lieber bewusst-passiv anstatt aktivistisch-kämpferisch.
Klingt gut. Aber, hake ich nach, läuft man so letztlich nicht doch Gefahr, zu einer Normalisierung von rechten Positionen beizutragen? Wie lange kann man die Dinge „laufen lassen“? Die Grenze sei da erreicht, antwortet er, wo der andere den öffentlichen Raum, der allen gehören soll, für sich vereinnahmt. Beispiel Fußball: Auf einem stinknormalen Platz sei auch Kicken mit Nazis gewöhnlicher Sport. „Wenn aber überall Reichsfahnen hängen? Don’t do it.“ Landnahme durch politische Symbole, oder im schlimmsten Fall durch Gewalt, das sei politische Aggression, da müsse man sich wehren, da habe auch der praktizierte Antifaschismus seine absolute Berechtigung. Das heißt: „Kämpfen, wenn kämpfen angesagt ist.“
Allein unter Beschuss
Prenzlauer Berg, Berlin. Hier treffe ich Thomas*. Er ist seit nunmehr 55 Jahren Fußballfan des Berliner Fußball Club Dynamo, kurz BFC Dynamo, der weiter im Osten der Stadt, in Hohenschönhausen zu Hause ist. Thomas kann nicht verstehen, dass viele Fans sich gegen das Label „rechter Verein“ wehren. „Beim BFC geht es um Hardcore-Nazis. In diesem Umfeld ist die AfD Pillepalle.“ Die Geschichte des Vereins ist zu reich an Ereignissen und Wendungen, um sie hier erzählen zu können. Entscheidend für unseren Zusammenhang sind die 1990er-Jahre, in denen der BFC – so erzählt es Thomas – seinen absoluten Tiefpunkt erreicht. Da hat der einst stolze Verein, der in der DDR zehnmal Meister in Folge wird, der zunächst bürgerlich und stasiaffin ist und dann Anziehungspunkt für eine vielgestaltige Punk-Skinhead-Szene wird, kein Geld und keinen Erfolg mehr. Die wenigen Zuschauer, die in den frühen Wendejahren blieben, seien alle Neonazis gewesen, „da war sogar die Katze vom Platzwart Nazi“, witzelt Thomas. In den 2000er-Jahren änderte sich die Situation, der BFC gewinnt wieder, das Publikum wird diverser, es bilden sich Fangruppen aus dem antifaschistischen Milieu. Und doch dominieren die Rechten die Fanszene bis heute, ja, sind genau genommen wieder stärker geworden, erzählt Thomas. Warum er trotzdem noch ins Stadion gehe? „Fan bleibt man“, lautet seine Antwort. Außerdem sei die Atmosphäre im Stadion „total geil“. Sicher, mit Nazis gemeinsam zu jubeln, „ist schon ein zwiespältiges Gefühl“, gibt er zu. Zwar seien die Fanlieder selbst unpolitisch, trotzdem komme es vor, dass nur ein paar Plätze entfernt Mitglieder der Hells Angels rechtsextreme Parolen grölen. „Wenn die dann Dreck singen, fragt man sich schon: Kann ich hier noch herkommen?“ Er entscheide sich dann immer dafür, weil er wissen wolle, wie es mit dem BFC weitergehe. Außerdem, fügt er hinzu, gebe es noch genug andere Fans. Ganz normale Leute, Literaten und Intellektuelle, auch Familien – eine homogene Masse sei es eben nicht. Dass er rechte Strukturen stärkt, indem er dem BFC die Treue hält, verneint Thomas. Schließlich gebe er Kontra, gerade dann, so ergänzt er, wenn historische Fakten geleugnet werden. Und: Sein Kontakt zu Nazis beschränke sich auf das Stadion. Nie würde er sich einfach so auf ein Bier mit ihnen treffen. Denn damit verlasse man den Bereich des reinen Miteinander-Redens. „Dann begibst du dich in ein Gefüge.“
Hört man Thomas so zu, dann klingt es, als hätte er sich in einem spielerisch-diskursiven Schlagabtausch mit den Rechten eingerichtet, in dem der Anspruch nicht die Verständigung ist, sondern die Gegenseite im Auge zu behalten. Provokationen und verstörende Sprüche scheint er dabei erstaunlich gut wegzustecken. Nicht alle, die ich treffe, nehmen es so sportlich.
Ich reise weiter nach Sachsen. In eine Stadt, die bei der vergangenen Landtagswahl mit über 35 Prozent für die AfD gestimmt hat und deren Namen ich gebeten wurde, nicht zu nennen. Hier lebt Johanna*. Johanna hat Angst, erkannt zu werden, und überlegt zunächst, ob sie überhaupt mit mir spricht. Ihre Wachsamkeit spüre ich auch noch, als wir uns in einem kleinen Café in der Innenstadt treffen. Sie spricht leise, beugt sich zwischendurch nach vorne, als ob sie den Weg, den ihre Worte zu mir zurücklegen müssen, verkürzen wolle, damit sie nicht von einem der Gäste an den anderen Tischen abgefangen werden. 35 Prozent sind noch lange nicht die Mehrheit, aber manchmal fühlt es sich für Johanna so an. Zum Beispiel bei der Elternversammlung, von der sie mir erzählt. An dem Abend kam das Ergebnis einer fiktiven Wahl zur Sprache, die an der Schule organisiert worden war. Ein Drittel der Kinder hatte die AfD gewählt. Der Direktor erklärte, Schule könne zu kritischem Denken befähigen, nicht aber gesellschaftliche Entwicklungen richten. Sogleich sei eine Diskussion entbrannt, jemand äußerte den Vorwurf, der Unterricht sei nicht neutral genug. Daraufhin habe sie, Johanna, sich zu Wort gemeldet: „Ich habe gesagt, Schule soll auch nicht neutral sein. Lehrer haben die Aufgabe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen.“ Keiner pflichtet ihr bei.
Eine Mutter entgegnet, Johanna wolle wohl zurück in die DDR, das sei Meinungsdiktatur. „Da stand ich allein da.“ Sie schluckt. „Man fragt sich unweigerlich: Sehe das nur ich so?“
Die Stimmung hat sich in Johannas Stadt so weit nach rechts verschoben, dass es mittlerweile undenkbar scheint, offen eine Partei zu kritisieren, die zwar demokratisch gewählt sein mag, aber undemokratische Inhalte vertritt. Und wer doch Kritik äußert wie Johanna, bekommt keine Rückendeckung, weder institutionell noch von Mitbürgern.
Heike Radvan findet das gefährlich. Radvan ist Erziehungswissenschaftlerin und hat eine Professur am Zentrum für Rechtsextremismusforschung in Tübingen. Wir telefonieren miteinander, während sie im Zug nach Rügen sitzt, den Ort ihrer Kindheit und Jugend. „In einer Situation wie heute, wo wir es mit einer politischen Rechtsverschiebung zu tun haben, ist es gerade die Aufgabe von Institutionen, ebenso wie von Individuen, sich zu positionieren und Demokratie zu verteidigen.“ Der deutsch-jüdische Soziologe Karl Mannheim meinte eben das, als er 1943 im britischen Exil den Begriff der „wehrhaften Demokratie“ prägte. „Unsere Demokratie muss kämpferisch werden, wenn sie überleben soll“, schrieb er. Mannheim legte den Fokus auf die Zivilgesellschaft und weniger auf das Agieren des Staates und seiner Rechtsinstitutionen. Radvan findet das richtig. Zu Unrecht werde die wehrhafte Demokratie oft auf staatliche Macht reduziert. Demokratie, sagt sie, werde maßgeblich durch zivilgesellschaftliches Handeln gesichert und verteidigt.
Johanna strebt zweifelsohne danach, dieser Forderung nach Eigenengagement gerecht zu werden. Regelmäßig, zwischenzeitlich fast wöchentlich, geht sie auf Demonstrationen, beteiligt sich in einem demokratischen Aktionsbündnis und meldet sich für Seminare über Demokratiebildung und Argumentation an. Aber so ganz mag die Sache nicht gelingen. „Man denkt, Dialog muss doch möglich sein. Aber wenn man mit Verschwörungstheorien oder Halbwahrheiten konfrontiert wird, die man nicht ohne Weiteres widerlegen kann, wird es sehr schwierig.“
Wo sind die Rechten?
Im Gespräch mit Johanna und den anderen Protagonistinnen dieser Reportage kommt immer wieder eine ganz grundsätzliche Frage auf. Ab wann ist jemand überhaupt ein „Rechter“? Ab wann ein „Nazi“? Reicht ein wohlwollender Kommentar zu Putin, ein böser Satz über Ausländer, um annehmen zu können, dass jemand die AfD wählt? Und macht das die Person dann schon zum „Rechten“ oder trägt der stetige Gebrauch der Kategorie vielmehr dazu bei, dass es Menschen schließlich werden, weil man sie – ebenso wie im Sprachspiel, das Per Leo beschreibt – immer wieder auf eine Identität festnagelt, bis sie selbst daran glauben?
Anders als in Talkshows und Parlamenten bleibt die Gesinnung im Alltag oft im Verborgenen. Das scheint insbesondere im Westen, den alten Bundesländern, zu gelten. Zumindest hat sich mir dieser Eindruck während meiner Recherche unweigerlich aufgedrängt. Eigentlich nämlich sollten in dieser Reportage Menschen aus der gesamten Republik auftauchen, um nicht das Stereotyp des alleinig braunen Ostens zu befördern. Zwar stimmt es, dass es im Osten gesichert rechtsextreme AfD-Landesverbände gibt und der Anteil ihrer Sympathisanten vielerorts deutlich höher liegt als im Westen. Doch bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass der Westen kein Problem hat. Absolut gesehen leben die meisten Menschen, die für die AfD stimmen, in den alten Bundesländern. Bei den letzten Landtagswahlen in Bayern landete die AfD in Günzburg bei 23 Prozent der Stimmen, in Hessen gewann sie in vier Gemeinden bei den Erststimmen, darunter in Cornberg mit 33 Prozent. Trotzdem scheint es so, als treffe niemand die AfD-Wähler persönlich – selbst in den Hochburgen nicht. Theatermacher und Kunstvermittler berichten mir von rechten Shitstorms im Internet, kennen selbst aber niemanden; Kirchen erzählen mir besorgt über die Wahlerfolge der AfD in ihrer Heimatstadt und organisieren Gesprächsformate, aber wer aus ihrer Gemeinde die Partei nun unterstützt, können sie nicht sagen. Im Westen scheint „mit Rechten leben“ zu heißen, dass man nicht weiß, dass man mit ihnen lebt.
Vernunft und Vertrauen
Zumindest meistens. Anders ergeht es Theresa* in Pforzheim, einer schlanken, elegant gekleideten Frau, die konzentriert und eloquent spricht. Ihr Terminkalender war so dicht gefüllt, dass es fast nicht geklappt hätte mit einem Treffen. Nun konnte sie doch ein Zeitfenster freischaufeln und trifft mich zwischen Terminen zum Gespräch. Sie hat Brezeln und Berliner vom Bäcker um die Ecke mitgebracht, der sowohl Burek, die auf dem Balkan typischen Teigtaschen, als auch regionale Backwaren anbietet. In solchen Details zeigt sich die Geschichte der Stadt: In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen die Gastarbeiter aus der Türkei, Italien und Jugoslawien, schafften bei Daimler am Band. In den 1990er-Jahren folgten die Spätaussiedler, zuletzt kamen viele Geflüchtete. 59,7 Prozent der Menschen in der Stadt haben einen Migrationshintergrund.
Gleichzeitig ist Pforzheim westdeutsche Hochburg der AfD. Seit den Kommunalwahlen im Sommer 2024 stellt die AfD die stärkste Fraktion im Gemeinderat. Im Stadtteil Buckenberg-Haidach kam sie in den letzten Landtagswahlen sogar auf 30,5 Prozent. Da dort größtenteils „Russlanddeutsche“ (genauer: Spätaussiedler aus der UdSSR) leben, wird das Problem gern dieser Community zugeschoben. Theresa, die ihr angehört und selbst erst als 17-Jährige aus Russland nach Deutschland kam, hat AfD-Sympathisanten in der Familie und im Bekanntenkreis. Zugleich weiß sie: Es sind auch ehemalige Gastarbeiter und Bio-Deutsche in ihrer Nachbarschaft, die für die Partei stimmen. „Ich wohne mit einem AfD-Wähler direkt Tür an Tür und gehe mit dem immer wieder in die Diskussion.“
Theresa will verstehen, setzt auf Kommunikation, nicht auf Distanz. „Wenn ich im Alltag lediglich abgrenze, wenn ich keine Angebote mache zum Reflektieren, Reden und um Ängste abzubauen“, sagt sie, „dann ist es ein jämmerlicher Weg.“ Damit fördere man die Radikalisierung nur. „Woher soll ich denn wissen, warum Menschen die AfD wählen, wenn ich nicht mit ihnen spreche? Wir teilen uns den Kindergarten, die Straße, den Supermarkt … Und dann will ich nicht wissen, was mein Gegenüber bewegt?“ Auf Dialog setzen – das gelte, schränkt sie ein, natürlich nicht für jene, die die Politik der AfD vertreten. Da müsse man klar Gegenposition beziehen. Anders verhalte es sich aber mit denen, die sie wählen. Für Theresa ist mit diesen Menschen in Kontakt zu bleiben das einzig Richtige. „Da sehe ich überhaupt keine Brandmauern.“ Im Gespräch versucht Theresa das Gegenüber zu irritieren, anstatt sich offensiv zu positionieren. Sie stellt Fragen wie: Warum denkst du so? Wie erklärst du dir das?
Auch Heike Radvan hält Irritation für eine gute Strategie. Der Grund: Man interveniert, ohne anzugreifen. Doch der Optimismus, den Theresa ausstrahlt, hat vermutlich auch noch einen anderen Grund: Die West-AfD polemisiert weniger aggressiv, tritt eher für konservative Werte ein, als mit allem aufräumen zu wollen. Genau da verläuft dann auch die Grenze: Wenn ihr Nachbar die Reichsbürgerfahne hisst oder Bekannte mit alternativen Fakten daherkommen, dann fühlt Theresa, dass ihr die Hebel fehlen. Am Konservativen hingegen kann sie anknüpfen, ringt mit Bekannten oder besagtem Nachbarn um Begründungen für ein traditionelles Frauenbild oder Widersprüche zwischen christlicher Nächstenliebe und Asylpolitik.
Essenziell für den Austausch, betont Theresa, sei das emotionale Fundament. Ohne Vertrauen – es fallen Worte wie „Vertrauenspflege“ und „Vertrauensarbeit“ – könne man nicht über Politisches sprechen. Man will sich aufeinander verlassen können, wissen, dass der andere nicht grob und unangenehm wird. Für Theresa bedeutet das, dass sie heikle Aussagen, die nebenbei beim Kaffee oder Spaziergang fallen, lieber erst einmal stehen lässt, um später darauf zurückzukommen. Aber auch dann bleibt sie behutsam. „Im Grunde muss ich es so vorsichtig machen, dass sie mich bei der Familienfeier noch vertragen und gerne sehen.“
Gute und gefährliche Nähe
Bis zu welchem Punkt aber sollte man für die Vertrauenssicherung gehen? Sogar so weit, dass rechte Positionen gebilligt werden, um nur ja den Kontakt nicht zu verlieren? Hier lohnt ein Blick in die jüngere Geschichte – denn genau das war eine der Kernideen der sogenannten „akzeptierenden Jugendarbeit“: Zunächst sollte eine belastbare Beziehung aufgebaut und die Probleme der Jugendlichen in den Mittelpunkt gerückt werden – nicht jedoch die Konflikte, die sie selbst verursachten. Das Konzept wurde in den späten 1980er-Jahren von dem Bremer Sozialpädagogen Franz Josef Krafeld entwickelt und bald in der Arbeit mit rechtsorientierten und rechtsextremen Jugendlichen in Ostdeutschland verwendet. Heute steht es in der Kritik, Rechtsextremismus normalisiert und damit sogar rechte Gewalt befördert zu haben.
Das Scheitern des Konzepts, erklärt Erziehungswissenschaftlerin Radvan, habe auch mit falschen Übertragungen zu tun: Angewandt habe man die akzeptierende Arbeit zunächst in der Suchtmittelprävention, dann auf kleinere Gruppen rechter, gewaltbereiter Jugendlicher in der multikulturellen Stadt Bremen und schlussendlich – nach den rassistischen Pogromen in Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992 – an Orten in Ostdeutschland, an denen es bereits eine rechte Dominanzkultur gab und nicht geschulte Pädagogen, sondern ABM-Kräfte eingesetzt wurden. Auch Jugendliche, die bereits in rechten Gruppen organisiert und ideologisch geschult waren, galten als „unsere Jungs“. Das alles, sagt Radvan, waren „Fehler“.
Verfechter des Konzepts argumentierten damals, dass es, um Jugendliche überhaupt mit Kritik zu erreichen, erst einmal eine Beziehung brauche, die sich nur durch Akzeptanz herstellen lasse.
Radvan widerspricht: „Auch wenn ich eine inhaltliche Gegenposition einnehme, kann ich eine Beziehung herstellen.“ Sich zu positionieren, Differenzen zu thematisieren und eine belastbare Bindung aufzubauen – das schließe sich nicht aus. „Ganz im Gegenteil. Wichtig ist, dass mich jemand ernst nimmt und sich mit mir auseinandersetzt.“ Radvan plädiert für Empathie statt Akzeptanz. „Wenn ich empathisch bin, versuche ich das Verhalten meines Gegenübers zu verstehen, mit all seinen Hintergründen.“ Akzeptanz hingegen meine viel mehr als das. Nämlich etwas hinzunehmen, zu billigen – zu dulden.
Die Nähe, die im Umgang mit Rechten entstehen kann, erweist sich also als Chance und Gefahr zugleich. Ohne Bindung, ohne Vertrauen, ohne Empathie wäre es kaum möglich, die Freund-Feind-Kategorien, die sich immer wieder auf Beziehungen legen, zumindest zeitweise abzuschütteln. Gerade im Alltag kann man die Ebene der Ideologie verlassen und auf ein Miteinander zurückgreifen, das in seinen Praktiken, Emotionen und Widersprüchen unendlich komplexer ist. Die Herausforderung aber bleibt, jene produktive Nähe, die kritisch und fragend bleibt, gegen ihre Kehrseite – gegen Akzeptanz, Gewöhnung und Affirmation – in Stellung zu bringen.
Wo ist die Grenze?
1945 beschrieb der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde einen Sachverhalt, den er das „Toleranz-Paradoxon“ nannte. Als Sohn konvertierter Juden war Popper 1937, angesichts der drohenden Annexion Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, ins Exil gegangen. Toleranz meint bekanntlich, das zu ertragen, was man als Übel betrachtet, also gerade das zu dulden, was man dezidiert ablehnt. Eben jene Toleranz, warnte Popper, führe, wenn „uneingeschränkt“, allerdings auch „zum Verschwinden der Toleranz“. „Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Die Schwierigkeit ist zu bestimmen, ab wann dieser Fall eintritt. Prescht man voraus und deklariert jedes Anzeichen der Bedrohung als toleranzunwürdig, läuft man Gefahr, sie selbst auszuhöhlen. Legt man die Hände zu lange in den Schoß, könnte es zu spät sein.
Es ist dieses Paradox, das in Britta arbeitet, als sie mir am Ende meiner Reise von jener Geburtstagsfeier erzählt, die ihr nicht aus dem Kopf gehen will. Arbeitet sie an der Abschaffung der Demokratie mit, wenn sie nichts gegen die Gesinnung ihres Neffen und seiner Freunde sagt? Ist es falsche Toleranz, in so einer Situation nicht zu gehen? Wie drängend diese Fragen für sie waren und noch immer sind, wird umso verständlicher, als sie mir die Vergangenheit ihrer Familie – und ihre eigene – schildert. Britta erzählt von ihrer Großmutter, die 1944 als politischer Häftling im KZ Ravensbrück ermordet wurde; von ihrer Mutter, damals erst vier Jahre alt, die von den Geschwistern getrennt aufwächst; und schließlich von sich selbst, die sich, als sie 18 Jahre alt ist, in einen Algerier verliebt. Als Vertragsarbeiter kommt er nach Rostock, Britta wächst unweit von dort auf. Man begegnet dem Paar mit offener Feindschaft. Fängt die beiden abends nach der Disko ab, um ihren Freund zu verprügeln. Spuckt auf offener Straße aus, als sie schwanger ist und später mit Kinderwagen durch die Stadt geht. „Für mich war klar, ich muss hier weg.“ Zunächst emigrierten sie nach Algerien, in den späten 1980ern dann in die Bundesrepublik. „Rechtsnahes Gedankengut“, ist sich Britta sicher, „war nie weg.“ Nicht im Osten, nicht im Westen, nicht in ihrer Familie.
Und doch war sie nicht vorbereitet auf den Hitlergruß in der Collage. „Meine größte Angst ist, dass es innerhalb meiner eigenen Familie wieder Täter gibt“, sagt sie. Und so hat sie ihren Neffen noch auf der Feier konfrontiert – mit ihrer Angst, mit ihrer Familiengeschichte, die auch die Geschichte des Neffen ist. Sie habe ihn gefragt, wie er denn zu ihr und ihren Kindern, die halb algerisch sind, stehe; ob er sich einmal überlegt habe, wie es für seine Oma, deren Mutter in Ravensbrück ermordet wurde, wäre, hier zu sitzen mit diesen Leuten? „Bist du auch ein Nazi? Wie stehst du dazu?“ Seine Antwort sei enttäuschend gewesen, erzählt sie. Er habe keine Argumentation angeboten, nur Floskeln, AfD-Überschriften, wenig eigene Gedanken.
Und doch hat Britta nicht mit ihrem Neffen gebrochen, auch wenn das Verhältnis kühler geworden ist. Gerade die Geschichte ihrer Familie, das Wissen um ihre Wunden und Fragilität, schaffen in ihr ein starkes Bedürfnis, sie zu bewahren. Wüsste sie davon, dass er jemanden niedermacht oder verletzt, wäre eine Grenze überschritten. „Ich hoffe, dass er das nicht tut.“ So lange will sie an der Beziehung festhalten. •
* Die Namen der Personen wurden geändert.