Moralische Minderwertigkeitskomplexe
Warum sehen sich engagierte Menschen im Netz oft mit blankem Hass konfrontiert? Weil die Hassenden ahnen, dass sie ein falsches Leben führen, argumentiert Matthias Kiesselbach.
1 Hass
„Warum werden immer die Falschen vergewaltigt?“ „Faules, verkommenes, linkes Drecksschwein.“ „Und wieder kein Scharfschütze in der Nähe.“ Grüne Aktivistinnen und Aktivisten blicken regelmäßig in den Abgrund. Wenn etwa einer ihrer Posts auf Twitter oder Instagram virale Aufmerksamkeit erfährt, können sie ziemlich sicher sein, dass ihnen jemand eine Ausweisung aus Deutschland wünscht, jemand anders den Tod, und ein Dritter – es sind meistens Männer – eine Vergewaltigung.
Die Frage, woher der scheinbar zunehmende Hass im Internet stammt, wird in letzter Zeit ausgiebig diskutiert. Der gängigsten Erklärungsansätze verweisen auf die Anonymität des Internet und die algorithmengesteuerte Lagerbildung in den sozialen Netzwerken. Aber wie steht es mit den Adressaten hasserfüllter Reaktionen? Wie mit den Anlässen für den Hass? Und wie mit seiner konkreten Gestalt? In Bezug auf diese Dinge verlangt die Hass- und Beleidigungsflut auf Vertreterinnen und Vertreter grüner Gedanken nach spezifischeren Erklärungen.
Wieso sind es gerade ökologisch argumentierende Menschen, die mit Hass überhäuft werden? Wieso sind es oft so nichtige Anlässe, die den Hass provozieren? Greta Thunberg beim Tanzen? Die Veröffentlichung eines veganen Rezepts? Die Idee einer Kaufprämie für Lastenfahrräder – wieso regt das so auf? Es gibt eine Fährte zu möglichen Antworten, die weniger auf das Internet und seine Auswirkungen auf das moderne Leben zielt als auf einen Aspekt der Bedeutung politischer Äußerungen – und auf psychologische Mechanismen, die darauf anspringen. Die neue Wut – entzündet sie sich möglicherweise am moralischen Anspruch ihrer Objekte?
2 Moralischer Anspruch und moralisches Urteil
Wenn sich etwa eine Philosophin für Tierrechte stark macht, wirft sie ein Schlaglicht auf jene, die Tierrechte nicht achten. Zum Beispiel, indem sie Tiere – nun: essen. Man muss das nicht explizit schreiben. Die meisten Autorinnen und Autoren halten sich mit expliziten Urteilen über Einzelne sogar bewusst zurück. Aber implizit schwingen in politischen Aussagen eben auch Urteile über jene mit, die den resultierenden moralischen Forderungen nicht entsprechen wollen oder können.
Dass aus politischen und ethischen Aussagen auch Urteile über die moralische Zulässigkeit individueller Handlungsweisen folgen, ist nicht neu. Tatsächlich lässt es sich gar nicht vermeiden. Wer etwas fordert oder als gut oder richtig auszeichnet, muss damit auch Urteile über oder Forderungen an andere verbinden – auch wenn diese Urteile und Forderungen implizit bleiben. Wie aber kommt es, dass der moralische Anspruch hinter öffentlichen Äußerungen so viel Wut auf sich zieht, und das scheinbar heute mehr als früher?
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Sprachliche „Spezialoperationen“
Die Liste der vom Kreml verbreiteten Unwahrheiten wird von Tag zu Tag länger. Doch handelt es sich dabei um bloße Lügen? Nein, meint der Philosoph Matthias Kiesselbach und bietet mit Rationalisierung, Trollen und gezielter Bedeutungsverschiebung drei andere Perspektiven an.

„Hate Watching“: Warum sind wir fasziniert von dem, was wir hassen?
Wer kennt das nicht: Eine Realityshow anschauen, obwohl man sie albern findet; einem Filmsternchen in den sozialen Netzwerken folgen, das man verachtet; eine Serie bis zum Ende gucken, obwohl sie einen vor Langeweile gähnen lässt... Warum sind wir derart fasziniert von dem, was wir verabscheuen? Weil wir im Grunde genau das begehren, was wir angeblich hassen, antwortet René Girard.

Daniel Hornuff: „Hass ist eine Technik der Kommunikation“
Bei Debatten über Hass im Netz geht es oft um Sprache. Der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff betont in seinem gleichnamigen Buch jedoch auch die Bedeutung von Hassbildern. Warum diese oft zusammengeschustert aussehen, weshalb man nicht von „Shitstorm“ sprechen sollte und inwiefern sich hier historisch äußerst stabile Muster zeigen, erklärt er im Gespräch.

Wo endet meine Verantwortung?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.
Gefangen im Dilemma?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.

Klingt komisch, ist aber so
Diese Woche wird Die Sendung mit der Maus 50 Jahre alt. Seit ihrer Erstausstrahlung am 7. März 1971 hat sie Generationen von Kindern begeistert. Der Philosoph Matthias Warkus gratuliert zum Geburtstag und erklärt, warum gerade die Sachgeschichten einen ehrlichen Blick auf die hyperkomplexe Moderne liefern.

Synapse trifft Platine
Auf ihrem Album Ghost Notes bringen John Matthias und Jay Auborn Mensch und Maschine gleichermaßen zum Schwingen.

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
Kommentare
Hallo,
Ihr Impulsvortrag hat mir vielfältige Anregungen gegeben, auch über meine eigenen (eher seltenen) Momente der Empörung nachzudenken. Danke dafür! Ich bleibe aber auch überzeugt, dass derartig enthemmte, hasserfüllte Reaktionen eine besondere "gedankliche Basis" brauchen, die über die beschriebenen Mechanismen hinausgehen.
Ihre begeisterte Leserin