Natürlich Feministin?
Die Schauspielerin Kate Winslet bestand jüngst darauf, dass ihre Lidfalten in einer neuen Serie nicht retuschiert werden. Vertreterinnen einer jüngeren feministischen Generation setzen hingegen nicht auf die Ablehnung, sondern gerade auf die Aneignung solcher Schönheitsideale. Ein Widerspruch?
In der neuen Krimiserie Mare of Easttown spielt Kate Winslet, Mitte vierzig, eine ebenfalls Mitte vierzigjährige Kleinstadtpolizistin aus Philadelphia und besteht dabei auf die authentische Darstellung all ihrer Falten und kleinen Makel. Mit den Worten „Wage es ja nicht!“ in Richtung Regisseur Craig Zobel soll die Schauspielerin die Nachbearbeitung einer Sexszene abgewehrt haben, die sie in einem vermeintlich unvorteilhaften Licht zeigte. Auch das Werbeposter für Mare of Easttown autorisierte Winslet erst als die wegretuschierten Lidfalten wieder sichtbar gemacht wurden. Mit diesen Forderungen nach unbearbeiteter Darstellung positioniert sich die Schauspielerin gegen den allgegenwärtigen Jugend- und Schönheitswahn, der von Frauen jeden Alters eine glatte Stirn und den Körper einer Zwanzigjährigen erwartet.
Die Oscarpreisträgerin sagte, sie schulde vor allem jüngeren Frauen dieses Bekenntnis zum natürlichen Altern. Im Interview mit der New York Times äußerte sie sich besorgt über die steigende Popularität von Filtern und Photoshop, die die natürliche Schönheit von Frauen in Vergessenheit geraten ließen. Denn nicht nur Filmstars und Models, sondern nahezu jede Frau kann mittlerweile auf solche Formen der einfachen Bildbearbeitung zurückgreifen, zum Beispiel in sozialen Netzwerken wie Instagram. Noch nie war es so leicht, dem eigenen Aussehen digital nachzuhelfen, bietet mittlerweile doch sogar das Videokonferenzprogramm Zoom einen Filter an, der Falten glättet und virtuellen Lippenstift aufträgt.
Trotz der steigenden Nachfrage nach digitalem Make Over fühlt sich Winslets starke Geste fast ein wenig aus der Zeit gefallen an. Denn zum einen kritisieren prominente Frauen schon seit Jahren immer wieder, wie verfremdet sie in Zeitschriften und Werbeanzeigen dargestellt wurden. So stritt sich Beyoncé schon im Sommer 2013 mit H&M über die Nachbearbeitung ihrer Bikinifotos. Die Sängerin war verärgert, als sie feststellte, dass der Modekonzerne ihre Hüfte und Taille auf Werbeplakaten sichtlich geschmälert hatte und bestand auf die originalgetreuen Fotos. Und auch Kate Winslet selbst hat sich schon lange vor den Dreharbeiten zu Mare of Easttown gegen übertriebene Bildbearbeitung zur Wehr gesetzt: 2003 gewann sie eine Klage gegen das Männermagazin GQ, das ihr Aussehen auf dem Cover zu stark bearbeitet hatte. 2011 gründete sie mit Schauspielkolleginnen Rachel Weisz und Emma Thompson die British Anti-Cosmetic Surgery League.
Opposition oder Aneignung?
Ein noch gewichtigerer Grund dafür, dass Winslets Statement für ein natürliches Frauenbild etwas retro erscheinen könnte, liegt darin, dass das feministische Ideal, das auf Echtheit und Authentizität setzt, in den letzten Jahren Konkurrenz bekommen hat. Nicht wenige Frauen der jüngeren Generation beantworten den omnipräsenten Zwang zu makellosem Aussehen nicht mit der ostentativen Ablehnung von Photoshop und Schönheitschirurgie. Im Gegenteil: So zeigen sich zum Beispiel die amerikanischen Rapperinnen Cardi B und Nicki Minaj selbstbewusst und mit Brust- und Poimplantaten, Make-up, künstlichen Nägeln und falschen Wimpern. Ihr Auftreten ist überzogen sexualisiert, stereotyp feminin, pink, glitzernd und soll dennoch weibliches Empowerment verkörpern.
Auch hierzulande greift diese Neue Künstlichkeit um sich. Vor allem in der deutschen Rap- und YouTube-Szene bekennen sich Künstlerinnen wie Katja Krasavice oder Shirin David zu ihren Schönheitsoperationen – und im selben Atemzug zu feministischen Idealen. So sagte Katja Krasavice dem Zeit Magazin: „Meine Seele fühlt sich gut, wenn sie Silikonbrüste hat“ und erklärt Doppel D Brüste damit zum Teil ihrer Selbstwerdung. Dass Frauen des öffentlichen Lebens mit Impetus der Selbstbestimmung über ihre Schönheitsoperationen reden, wie Kate Winslet über ihre Falten, verweist nicht zuletzt auch auf einen Konflikt zwischen zwei feministischen Generationen.
Kate Winslets Abwehr künstlicher Verschönerung aller Art könnte der sogenannten zweiten Welle des Feminismus zugerechnet werden, die unrealistische Schönheitsideale offensiv bekämpft. Diese Strömung innerhalb der Frauenrechtsbewegung entstand in den 50er und 60er Jahren und richtete ihren Protest unter anderem gegen Miss-Wahlen, und auch das klischeehafte Bild der BH-verbrennenden Emanze entstand im Eindruck der zweiten Welle. Eine diametral entgegengesetzte Position, sogenannter „Lipstick Feminism“, billigt Make Up, freizügige Kleidung und kosmetische Chirurgie als Antwort auf den allgegenwärtigen Druck, perfekt auszusehen. Diese Haltung kann der dritten Welle des Feminismus zugerechnet werden, die in den 90er-Jahren entstand. Vertreterinnen der dritten Welle fordern nicht unbedingt radikale Opposition gegen existierende Schönheitsideale, sondern setzten auf die Aneignung stereotyper Frauenbilder und vor allem bedingungslose Entscheidungsfreiheit für Frauen.
Normativer Transformator
In diesem Sinne fragte Rapperin Shirin David im Interview mit der Vogue herausfordernd, ob die Zeit nicht gekommen sei, Frauen die Entscheidung über ihr Aussehen wirklich ganz freizustellen: „Aber darf ich dann nicht mein Make-up tragen, wie ich will, ohne kritisiert zu werden? Mich operieren lassen, um so auszusehen, wie ich will? Nicht ungeschminkt sein, damit ich mich schön finde?“. Auf den ersten Blick scheint es so, als würde David hier eine Doppelmoral der zweiten Welle des Feminismus aufdecken: wenn Frauen wirklich tun und lassen dürfen, was sie wollen, sollten sie auch das Recht haben, sich für ein sexualisiertes und künstliches Aussehen zu entscheiden? Oder anders gesagt: Wenn Männern Frauen nicht vorschreiben dürfen, wie sie aussehen sollen, sollten es andere Frauen auch nicht tun.
Anhängerinnen der zweiten Welle des Feminismus kritisieren diese Rhetorik der Wahlfreiheit als kurzsichtig. Schließlich würde der ideologische Hintergrund vergessen werden, vor dem Frauen über ihr Äußeres entschieden. Clare Chambers, Philosophieprofessorin an der Cambridge University, argumentiert zum Beispiel, dass eine Frau in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften nicht wirklich frei entscheiden könnte, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Chambers nennt die freie Wahl einer Handlung einen „normativen Transformator“: Das heißt: Durch unsere freie Wahl kann eine Handlung zulässig werden, die es ohne Wahl nicht wäre.
Freiwillig in einem Boxkampf anzutreten, macht es beispielsweise zulässig, seinem Gegenüber Schmerzen zuzufügen, während ein rechter Haken ohne die freie Wahl beider Parteien als Körperverletzung geahndet werden würde. Es gibt allerdings Situationen, in denen die freie Wahl in ihrer Funktion als normativer Transformator behindert wird, so Chambers. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn die Wahl von außen beeinflusst wird und zur Benachteiligung der wählenden Person führt.
Anders als Boxen
Die Einflussnahme von außen kann dabei mehr oder weniger direkt geschehen. Laut Chambers ist die Wahlfreiheit in Bezug auf das eigene Aussehen für Frauen schon dadurch in Frage gestellt, dass sie in einer Welt leben, in der Hochglanzmagazine, Werbe- und Kosmetikindustrie ein hegemoniales Schönheitsideal einfordern. Der Vergleich zum Boxen macht hierbei den Unterschied deutlich: Boxen ist ein Sport, für den wir uns entscheiden können, ohne dass die Welt um uns herum von einer Pro-Boxen Ideologie durchdrungen wäre. Anders als im Fall weiblicher Schönheitsideale wird uns nicht mehrmals am Tag über Plakatwände, Zeitschriften und soziale Netzwerke suggeriert, dass wir boxen sollten.
Die innerfeministische Debatte darüber, ob die Entscheidung, den eigenen Körper mit Skalpell, Mascara und Weichzeichner künstlich zu bearbeiten in unserer Gesellschaft nun frei getroffen werden kann, ist letztlich aber womöglich gar nicht einmal die entscheidende Frage. Denn beide feministischen Ausrichtungen, die der zweiten sowie die der dritten Welle, müssen gleichermaßen gegen unrealistische Erwartungen an das weibliche Aussehen Stellung beziehen, da es Frauen – im Gegensatz zu Männern – oft immer noch nicht möglich ist, einfach so auszusehen, wie sie wollen. Während Winslet betont, dass Frauen der Welt kein puppenhaftes Aussehen schulden, macht sich Shirin David selbst zur Barbie. Das eigentliche Problem ist deshalb vielleicht weniger die Spannung ihrer konkurrierenden Antworten, sondern vielmehr die Tatsache, dass es dieser Antworten überhaupt bedarf. •
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