Nomen est omen
Bezeichnungen wie die „indische Variante“ für Mutationen des Coronavirus seien stigmatisierend. Deshalb will die WHO bei der Benennung künftig Buchstaben des griechischen Alphabets nutzen. Damit beherzigt sie eines der wichtigsten Theoreme der Soziologie.
Wenn künftig über Coronavirus-Varianten gesprochen wird, soll es nicht mehr um die „britische“, die „südafrikanische“ oder die „brasilianische Variante“ gehen, sondern die Rede von Alpha, Beta und Gamma sein. Das zumindest sieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor, die jüngst bekannt gab, dass sie sich ab jetzt mit Buchstaben des griechischen Alphabets auf Mutationen von COVID-19 beziehen wird. Grund hierfür sei erstens, dass alphanumerische Namen wie B.1.1.7, B.1.351 und 20H/501Y.V2 für die öffentliche Kommunikation zu kompliziert und selbst für Expertinnen und Experten oft verwirrend seien. Zweitens würden im Fall der geographischen Bezeichnungen wie „indische Variante“ Länder sowie deren Bewohner bewusst oder unbewusst stigmatisiert, was nicht nur das Image der jeweiligen Staaten beschädigen, sondern auch zu Übergriffen auf Menschen führen könne, die etwa als indisch gelesen werden. Beides gelte es zu vermeiden.
Damit trägt die WHO einem Phänomen Rechnung, das der 1863 geborene Soziologe William Isaac Thomas bereits Anfang des letzten Jahrhunderts umfassend beschrieb und in einem mittlerweile berühmt gewordenen Theorem zusammenfasste: „Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.“ Auf den konkreten Fall angewendet bedeutet das: Wenn ein Land und dessen Bewohner sprachlich immer wieder in die Nähe eines Krankheitserregers gerückt werden, kann sich deren Ansehen und der Umgang mit ihnen verändern, obwohl es hierfür keine wissenschaftliche Grundlage gibt – schließlich sind die entsprechenden Virusvarianten lediglich zufällig in den entsprechenden Ländern entstanden oder auch nur zuerst entdeckt worden. Die wahrgenommene Wirklichkeit muss demnach behandelt werden, wie die tatsächliche Wirklichkeit, weil erstere weitreichende und handfeste Folgen haben kann. Man denke an weiterhin ausbleibende Urlauberzahlen oder Gewaltverbrechen, wie sie seit Beginn der Pandemie besonders auf asiatisch gelesene Menschen zugenommen haben, da u.a. Donald Trump immer wieder vom „chinesischen Virus“ sprach. Bedeutung, so könnte man das Thomas-Theorem also paraphrasieren, folgt dem sprachlichen Gebrauch.
Eine tote Sprache für das Leben
Dass die Namensgebung von Krankheiten nicht erst seit dieser Pandemie Stigmatisierung erzeugt und für Schuldzuschreibungen genutzt wird, beschreibt Laura Spinney eindrücklich in ihrem Buch „1918 – Die Welt im Fieber“. Denn obwohl die Herkunft der sogenannten „Spanischen Grippe“ bis heute nicht abschließend geklärt ist, obschon ziemlich sicher scheint, dass sie keinesfalls auf der Iberischen Halbinsel entstanden ist, sprach man seinerzeit in Frankreich, Großbritannien und den USA von eben dieser. In Spanien wiederum versuchte man sich vor dem „Soldaten von Neapel“ zu schützen und in Brasilien hoffte man, vor der „Deutschen Grippe“ verschont zu bleiben.
Bevor sich die WHO auf das nun beschlossene Bezeichnungssystem mit Buchstaben des griechischen Alphabets einigen konnte, waren zahlreiche andere Optionen im Gespräch. So bezeichneten einige Wissenschaftler die Varianten auf eigene Faust und der Einfachheit halber mit den Namen bestimmter Vogelarten. Dass die WHO künftig keine Virusmutationen nach dem Rotschwanzweber benennen wird, hat den einfachen Grund, dass sich Tierschützer Sorgen um die Sicherheit der Tiere machten. Denn auch diese seien in Gefahr und wären dann womöglich buchstäblich vielfach zum Abschuss freigegeben, wenn sie sprachlich permanent in die Nähe der Krankheit gerückt würden. Es klingt beinahe paradox, doch das Leben scheint sich in diesem Fall am besten schützen zu lassen, wenn man seine Feinde mit einer toten Sprache adressiert. •
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