„Nope“: Überleben in der Gesellschaft des Spektakels
Mit „Nope“ bringt der amerikanischen Komiker und Regisseur Jordan Peele einen der spannendsten und visuell anziehendsten Filme dieses Sommers in die Kinos. Hinter dem so humorvollen wie beklemmenden Szenario verbirgt sich eine Kritik an der Gesellschaft des Spektakels.
Otis (Daniel Kaluuya) und Emerald (Keke Palmer) Haywood leben auf einer Ranch am Rande der kalifornischen Wüste, wo sie seit Generationen Pferde züchten und gelegentlich als Trainer für die Hollywoodindustrie arbeiten. Als ihr Vater durch den Angriff seltsamer Objekte getötet wird, die vom Himmel zu fallen scheinen, ahnen sie noch nicht, dass eine ganze Reihe solcher gespenstischen Ereignisse ihr Schicksal verändern wird. Ein Monster aus der Luft droht sie zu verschlingen.
Unter anderem durch den Einsatz der Westernkulisse, den Verweis auf Eadweard Muybridges animierte Fotos von 1872 und die Inszenierung einer alten Kamera mit Handkurbel, spielt der Regisseur Jordan Peel auf die Anfänge der Leinwandkunst an und verweist auf die einflussreiche Filmindustrie und die heute allgemeine Vorherrschaft der Bilder. Damit wirft er die Frage auf, ob unsere Zeit dazu bestimmt ist, sich von dieser Vorherrschaft verschlingen zu lassen.
Monströse Bilder
Die Kreatur, die die Haywood Ranch in Angst und Schrecken versetzt, erinnert zunächst an eine fliegende Untertasse. Ihre Gestalt verwandelt sich jedoch schon bald und enthüllt eine erschreckende organische Öffnung, durch die ihre Opfer verschluckt und verdaut werden. Das UFO entpuppt sich als ein lebendiges Monster, das auf der Suche nach Frischfleisch ist.
Otis, genannt „O.J.“, begreift schließlich, dass nur diejenigen zu Opfern des Monsters werden, die sein graues Ektoplasma anstarren. Das UFO ernährt sich also nicht von wahlloser Beute, sondern verschlingt seine Zuschauer. Wer aufblickt, geht zugrunde. Die fliegende Bestie wird zur Allegorie einer Gesellschaft, in der Bilder allgegenwärtig und tyrannisch geworden sind. Je weiter der Film fortschreitet, desto mehr erinnert die Öffnung der Kreatur an die Linse einer Kamera oder eines Smartphones.
Angesichts dieser ästhetischen und kraftvollen Bilder ist es schwer, nicht an Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels zu denken. Sie erinnern an seine Pferdeskulptur, die in eine Windschutzscheibe kracht, oder an die bunten Menschen in Form von riesigen Pommes, die mitten in der Wüste herumstapfen. Debord beschreibt einen für kapitalistische Gesellschaften typischen Entfremdungsmechanismus, der Menschen zu passiven Zuschauern macht, die sich immer weiter von der Realität entfernen: „Je mehr [der Mensch] zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen akzeptiert, umso weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde.“
Eine gute und eine schlechte Show?
Die Gesellschaft des Spektakels entspricht dem Verlust des direkten Kontakts mit unserer Umgebung. „Das Spektakel als Tendenz, durch verschiedene spezialisierte Vermittlungen die nicht mehr unmittelbar greifbare Welt zur Schau zu stellen, findet normalerweise im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn, der zu anderen Zeiten der Tastsinn war.“ Eine Filmszene bringt eben diese Frage nach der Bedeutung des Blicks ins Spiel: Ein Schimpanse, der gerade ein Blutbad auf einer Fernsehbühne angerichtet hat, kommt auf uns zu und schaut uns in Großaufnahme ruhig und bedrohlich an. In diesem Moment kann der Zuschauende nicht anders, als sich ausgeliefert zu fühlen. Während der Blick des visuellen Konsumenten oft mit einem Raubtier gleichgesetzt wird – so gilt der Zuschauende als bildhungriger Moralapostel und die Darstellenden, insbesondere die Schauspielerinnen, als das zu konsumierende Material –, kehrt Jordan Peele diese Perspektive auf intelligente Weise um: Der Zuschauende erweist sich als Beute einer Industrie, die deutlich mehr Ähnlichkeit mit einem zynischen Raubtier hat als der Zuschauende selbst.
Was zählt nun zu dieser bedrohlichen Unterhaltungsindustrie? Die Gestalt des Monsters und die Wolke als sein natürlicher Lebensraum – was wahrscheinlich als eine Anspielung auf die Cloud, in der unsere digitalen Daten gespeichert sind, zu verstehen ist – lassen vermuten, dass es sich um jene Bilder handelt, die in sozialen Netzwerken gepostet werden. Der Filmemacher greift die Manie unserer Zeit an, in der wir all unsere Erlebnisse fotografieren, filmen und online stellen und das Bild als ultimativen Beweis für die Existenz der Realität betrachten. „Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich“, stellt Debord fest. „Die gegenseitige Entfremdung ist das Wesen und die Stütze der bestehenden Gesellschaft.“
Em, die Schwester von Otis, ist zwar eine sympathische und mutige Figur, doch hat auch sie das Bedürfnis, das Monster zu fotografieren und hegt die Hoffnung, eines Tages bei Oprah Winfrey über ihre Erlebnisse berichten zu können. Hätten wir nicht alle dasselbe getan?
Genügt es, nicht hinzusehen?
Bei Guy Debord kontaminiert das Spektakel alles und lässt keinen Raum für Erlösung: „Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht aus der bloßen Tatsache hervor, dass seine Mittel zugleich sein Zweck sind. Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem eigenen Ruhm.“ Jordan Peel versucht, zwischen guter und schlechter Unterhaltung zu differenzieren und unterscheidet den Film von z.B. Instagram und TikTok-Videos, die als bloße digitale Inhalte bezeichnet werden. In einer Zeit, in der die Hollywood-Industrie eine schwere Krise durchläuft, die insbesondere durch soziale Plattformen und Unterhaltungsvideos hervorgerufen und verstärkt wird, formuliert „Nope“ ein klares „Nein“ zur bedingungslosen Herrschaft der flüchtigen Bilder und beweist durch seinen formalen Erfindungsreichtum, dass noch nicht alles verloren ist. Die Kunst des Kinos ist noch immer gegenwärtig und fähig, der allgemeinen Verblödung entgegenzutreten. Es macht nichts, wenn wir zu dieser Erkenntnis nur durch das Ansehen eines weiteren Filmspektakels, in diesem Fall eines Sommerblockbusters, gelangen. Irgendwann muss man sich entscheiden.
Leider gibt es kein Wundermittel, durch das wir der Gesellschaft des Spektakels entkommen können. Otis schlägt vor, einfach nicht hinzusehen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Der Ausstieg aus der Aufmerksamkeitsökonomie erfordert zwar einen eisernen Willen, ist aber nicht unmöglich. Die an Apathie grenzende Gleichgültigkeit O.J.s, der eine fast mausgraue Figur ist, wird zum Instrument im Kampf gegen die Gesellschaft des Spektakels. „Sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit zu emanzipieren, darin besteht die Selbstemanzipation unserer Epoche“, schreibt Guy Debord. Angewandt auf das TikTok-Zeitalter bedeutet dies, sich den Unterhaltungsapps auf stoische Weise zu entziehen, beim Betreten eines Geschäfts nicht sofort nach dem WLAN-Passwort zu fragen und nicht bei jeder überflüssigen Gelegenheit auf sein Smartphone zu schauen, um sich an den immer schnelleren Bildern zu berauschen. Besonders Filmliebhaber sollten wieder in die Kinosäle strömen, statt der Leinwand den Computer im eigenen Wohnzimmer vorzuziehen. Denn das Spektakel im Kino hat einen erheblichen Vorteil gegenüber dem, was uns auf unseren Telefonen und anderen Bildschirmen geboten wird: Nach zwei oder drei Stunden ist es vorbei. •
Weitere Artikel
Patrick Mills: „Die Rede vom ‚Ende der Geschichte‘ ist ein Todesurteil für jede Gesellschaft“
Heute erscheint das ambitionierteste und meist erwartete Computerspiel der letzten Jahre, das zudem äußerst philosophisch ist: Cyberpunk 2077. Mit Patrick Mills, Senior Quest Designer des Entwicklerstudios CD Projekt Red, sprachen wir über die Faszination für dystopische Welten, die intellektuelle Kraft von Videogames und den Widerspruch, Spektakel mit Spektakel zu kritisieren.

Ruben Östlund: „Jeder Film verändert die Welt“
Ruben Östlund, zweimaliger Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen von Cannes, beweist mit jedem seiner Filme seine Vorliebe für Gedankenexperimente. Der Regisseur von Triangle of Sadness, der derzeit in den Kinos läuft, spricht mit uns über seine Inspirationsquellen, seine philosophischen Einflüsse und sein Verständnis von Kunst.

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

„Suzume“ – Mythos als Traumabewältigung
Ein lebendiger Stuhl mit drei Beinen, eine Naturkatastrophe und der frühe Tod einer Mutter. Das sind nur ein paar der Komponenten, aus denen der japanische Regisseur Makoto Shinkai Suzume einen „modernen Mythos“ kreiert hat. Der Film kommt nun in die deutschen Kinos.

Royava: Utopia im Krieg
Im umkämpften Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei findet derzeit eines der spannendsten politischen Experimente der Erde statt. Ausgerechnet in Rojava, dem faktisch autonomen Kurdengebiet Syriens, wo ein mitunter als terroristisch eingestufter PKK-Ableger den Ton angibt, wird nach den Vorstellungen eines unbekannten amerikanischen Philosophen regiert. Sein Name lautet Murray Bookchin. Seine anarchistisch inspirierte Vision: eine dezentrale Räterepublik nach griechisch-antikem Vorbild – samt Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionsfreiheit. Reportage aus einem ebenso unwahrscheinlichen wie umstrittenen Ort.
Miquela Sousa - Virtuelle Influencerin
Sie ist 19 Jahre alt. Das sommersprossige Model Miquela Sousa lebt in Kalifornien und hat vor kurzem eine Single mit dem Titel „Hate me“ veröffentlicht.
Unter uns: Die Sache mit dem Schweiß
Folge 6: Wer in der Sommersonne badet, weiß: Es führt ein Weg von der Transpiration in die Transzendenz.
Rios Ringe
Vom 5. bis 21. August 2016 finden in Rio de Janeiro die Olympischen Sommerspiele statt. Fünf Fragen zum brasilianischen Way of life an den Philosophen Carlos Fraenkel, der in Brasilien und Deutschland aufwuchs.

Kommentare
Siehe auch die Kritik in der "Filmanalyse" von Wolfgang M. Schmitt:
https://youtube.076.ne.jp/watch?v=3_qMyn4vsbs