Orhan Pamuk: „Es bedarf einer Ethik des Widerstandes“
Okzident und Orient, Europa und Asien, osmanische Tradition und westliche Moderne: Orhan Pamuk ist der Denker des Dazwischen. Im Gespräch erläutert der Literaturnobelpreisträger, welche Philosophen sein Schreiben prägten, was ihn an der Türkei ängstigt und warum er trotzdem stolz auf seine Heimat ist.
Der Mann, der uns an diesem Septembertag in einem Salon des Pariser Verlagshauses Gallimard empfängt, wirkt zu groß für die kleinen, blauen Velourssessel. Das liegt nicht an seinen Armen oder Beinen. Es liegt an seinen lachenden Augen. Sie werfen ein anderes Licht auf einen Raum, der nicht recht weiß, was er zu sein versucht: das geronnene Bild einer längst vergangenen Zeit oder die elegante Version einer Flughafenlobby. Doch dieser Ort passt zu Orhan Pamuk, dem Schriftsteller des Dazwischen, der 2006 als erster türkischsprachiger Romancier den Literaturnobelpreis erhielt. In seinen Romanen zeigt Pamuk Istanbul als eine Weltstadt und die moderne Türkei als einen Kosmos des Literarischen. Er erzählt von den osmanischen Traditionen und den westlichen Sehnsüchten einer Bourgeoisie mit ihrer Lust nach Raki und Freiheit. Diese doppelte Zugehörigkeit, seine Kenntnis der westlichen literarischen und philosophischen Kultur, führten Pamuk dazu, die großen Figuren des zeitgenössischen Romans alla turca neu zu interpretieren. Seine Bücher erfahren auch in der Türkei einen großen Erfolg; eines seiner jüngsten Werke, Diese Fremdheit in mir, verkaufte sich dort rund 250 000-mal. Doch Pamuk, dessen aktueller Roman Die rothaarige Frau gerade auf Deutsch erschien, hat sich niemals hinter seinem Werk versteckt. Als mutiger Demokrat unterstützte er stets die Meinungsfreiheit. 2005 brach er etwa ein Tabu, als er die Verantwortung seines Landes für den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 anerkannte. Von der Justiz verfolgt und mit Morddrohungen konfrontiert, musste er für eine Weile das Weite suchen. Anfang 2008 kehrte er in die Türkei zurück. Noch heute, da Erdogan den Staat autoritär umbaut, gelte, wie er mit besonnener, doch fester Stimme sagt, dass es für „ein Land ohne Meinungsfreiheit keine Zukunft gibt“. Und seine Augen lachen noch immer.
Philosophie Magazin: Herr Pamuk, Sie wollten anfangs Maler werden. Wie sind Sie dann doch zum Schreiben gekommen?
Orhan Pamuk: Als Kind zeichnete ich die ganze Zeit. Daheim und in der Schule sagten alle: „Mein Gott, das ist ein Maler.“ Doch ich komme aus einer Familie von Bauingenieuren, mein Großvater konstruierte Eisenbahnen, mein Vater und mein Onkel folgten ihm auf diesem Weg. Sie sagten mir: „Warum wirst du nicht Architekt? Ein Architekt ist ein Maler, der zugleich auch Ingenieur ist.“ Während meines Architekturstudiums kam es mir aber so vor, als würde sich ein Schraubenzieher in mein Hirn bohren. Ich verließ die Universität und entschied, Schriftsteller zu werden. Doch die Zeit zwischen meinem siebten und 22. Lebensjahr, in der ich glaubte, Maler zu werden, hat mich auf das einsame Leben des Romanciers vorbereitet. Schon mit 15 war mir klar, dass ich mein Leben in einem Zimmer zubringen würde, damit beschäftigt, irgendetwas zu kreieren. Ich sah mich als Maler, ich wurde Romancier.
Und welche Autoren, welche Denker haben Sie beeinflusst?
Unter denjenigen, denen ich viel verdanke, ist der Philosoph und Literatursoziologe Georg Lukács. Vor zwei Monaten war ich in Budapest und habe zu meiner Bestürzung erfahren, dass die Orbán-Regierung eine Lukács-Statue vom Sockel stürzen wollte. Wissen Sie, es gibt zwei Lukács: den jungen, der eher kantianisch war und die Theorie des Romans schrieb, eine sehr poetische Vision des Lebens. Und den alten, der eher hegelianisch war und die Moderne und das Experimentieren bekämpfte. Für den alten Lukács durften die guten Sozialisten nicht exaltierten Typen wie Kaf ka folgen, sondern mussten große, traditionelle Romane schreiben wie Thomas Mann. Und der junge und unglückselige Orhan Pamuk hat in seinem ersten Roman, Cevdet und seine Söhne, Lukács’ Ratschläge befolgt und eine große, sehr klassische Familiensaga geschrieben. 40 Jahre später bin ich mit Diese Fremdheit in mir zur epischen Saga zurückgekehrt, allerdings mit einem Sinn fürs Experimentieren und tieferen, intimeren Gefühlen.
Auch Sartre soll einen großen Einfluss auf Sie gehabt haben.
Die Entdeckung Sartres verdanke ich meinem Vater. Er kam aus einer reichen Familie, hat jung geheiratet und war in diesem Leben nicht glücklich. So ist er nach Paris abgehauen. In den Jahren 1958 und 1959 war er nicht zu Hause. Er übersetzte Paul Valéry ins Türkische, aber seine wahren Helden waren Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Ich las später eine englische Übersetzung von Das Sein und das Nichts. Und ich erinnere mich an eine Stelle: Sartre spricht über einen Kellner und die Blicke, die wir ihm zuwerfen, die Art, wie wir den anderen wahrnehmen, den anderen betrachten. Das hat mich grundlegend geprägt. So sehr, dass es in Das schwarze Buch mit dem Bild des Auges, das mich beobachtet, wieder auftaucht. Was ich an Sartre liebe, ist, wie er philosophische Ideen mit Personen, Bildern, Szenen illustriert. Ich habe auch viel von seiner Haltung während des Algerienkriegs gelernt. Sein unerschütterliches Engagement, manchmal aufseiten der Kommunisten, manchmal aufseiten der Sozialisten – und zumeist ganz unabhängig.
Wie wird man in der Türkei am Ende der 1960er-Jahre Schriftsteller?
Meine Familie dachte, ich hätte einen Knall. Wie konnte ein braver Junge aus gutem Hause auf die Idee kommen, Schriftsteller zu werden? Sie bedauerten mich. Meinem Vater gegenüber empfinde ich immensen Respekt und Dankbarkeit. Denn er war der Einzige, der mich verstand. Mit seiner Bibliothek von 3000 Büchern hat er mich ermutigt. Meine ersten Jahre waren davon geprägt, meinem Umkreis zu beweisen, dass Schriftsteller zu werden keine Torheit war. Tatsächlich habe ich den Druck gehasst: „Sei normal, werde Ingenieur oder Geschäftsmann!“ Ich wollte die Welt so sehr davon überzeugen, dass man Schriftsteller und normal sein konnte, dass ich nie das Leben eines Bohemien gelebt habe. Ich trank nicht, machte nichts Verrücktes. Ich wollte zeigen, dass ich ernsthaft arbeitete. Unglücklicherweise hatten es, wie es vielen Autoren passiert, meine ersten Bücher schwer, publiziert zu werden, was die Panik meiner Familie steigerte. Sie können sich vorstellen, was ich zu hören bekam: „Er hat vier Jahre gebraucht, um seinen ersten Roman zu schreiben, und niemand will ihn veröffentlichen, was sollen wir bloß machen mit ihm?“
Doch Sie blieben standhaft?
Ja, aber seien wir ehrlich: Ich hatte damals ein kleines Auskommen von 500 Dollar, das aus mir einen Schriftsteller gemacht hat. Meine intellektuellen Freunde haben sich zunächst einmal politisch engagiert; sie haben viel durchlitten, sind oft gefoltert worden und sind anschließend in die Werbung oder den Journalismus gegangen. All das brauchte ich nie, dank diesem Geld.
In Ihrem Buch Diese Fremdheit in mir bewegt sich Ihr Protagonist, Mevlut Karataş, ein Straßenverkäufer, durch 50 Jahre, in denen sich Istanbul verwandelt, Staatsstreiche stattfinden, eine Megalopole geboren wird. Anders als viele in seinem Umfeld hat er Mühe, sozial aufzusteigen, doch er beklagt sich nie. Worauf ist seine Zufriedenheit zurückzuführen?
Ich sehe Mevlut als eine Art Verlängerung des Geistes des Optimismus in der Literatur. Mit etwas Abstand gesehen, hat Mevlut die Naivität von Voltaires Candide; er hat die Vitalität und Stärke eines Julien Sorel, er glaubt an eine Form von sozialer Mobilität hin zu den höheren Klassen. Er legt auch eine Art Opportunismus an den Tag. Schließlich hat er auch etwas von der Gutwilligkeit von Dostojewskis Idioten. Es ist eine Variation dieser Figuren. Mevlut ist mein guter Mensch, mein Idiot, mein Naiver. Seine Naivität ist aber auch eine Methode, den Leser in die entlegensten Winkel Istanbuls spazieren zu führen. Beispielsweise gibt es eine furchtbare Gutgläubigkeit in ihm, wenn er sagt: „Ich mag die Kommunisten, da sie sich um die Armen kümmern, aber warum glauben sie nicht an Gott?“ Das ist sehr naiv, doch dahinter steht auch eine Frage, die ich selbst mir stelle: Warum haben sich die Kommunisten nicht wie Pasolini verhalten, der es vermochte, Katholizismus und Marxismus auf kreative Weise zu verbinden? Diese Idee ist nicht naiv, sie wirkt nur so. Vielleicht ist sie sehr intelligent. Nur die Frage zu stellen ist naiv. Was ich sagen will: Das Leben in der Metropole in meinem Teil der Welt zwingt einen, seine politische Meinung zu verbergen. Diese Idee durchzieht das ganze Buch.
Er hat etwas sehr Starkes in sich ...
Was hinsichtlich Mevluts einzigartig ist, ist nicht so sehr seine Naivität, sondern vielmehr seine Freundschaft zu seiner Gattin, Rahiya. Deshalb ist er glücklich. Mevluts Glück verdankt sich nicht einer besonderen Qualität von ihm. Man muss sich vor Augen führen, dass Männer wie Mevlut in der Türkei nach dem Abendessen in Bars gingen, wo sie unter anderen Männern Tee tranken und Fußball schauten. Und die Frauen blieben mit den Kindern zu Hause. Wegen seines Berufs muss Mevlut mit seiner Frau zusammenarbeiten, und daraus entsteht eine starke, für die damalige Zeit sehr untypische Freundschaft.
Er hat auch etwas sehr Traditionelles an sich, in der Art, wie er sagt, dass er nie aufhören werde, Boza, ein gegärtes, leicht alkoholisches Getränk, zu verkaufen.
In diesem Moment, am Ende des Romans, ist Mevlut mir intellektuell sehr nahe. Als er in der Stadt ankommt, ist er ein Immigrant und überhaupt nicht wehmütig. Doch 40 Jahre später, nachdem er mitansehen musste, wie seine Erinnerungen, die Häuser, die Stadt durch den Beton zerstört wurden, wird er nostalgisch, traurig und gewissermaßen auch weiser als am Anfang. Wenn er sagt, „ich werde nie aufhören“, könnte ich seinen Satz fortsetzen und sagen „Romane zu schreiben“. Auch das ist eine Form des Widerstehens, gegen neue Entwicklungen, das Internet, die Filme, den Trubel um uns herum. Es ist die poetische Ethik eines Mannes, dessen Beruf am Aussterben ist, ein verschwindendes Handwerk. Mit der Schriftstellerei verhält es sich nicht anders. Es bedarf einer Ethik des Widerstands. Mein Mevlut widersteht einer Form der Kommerzialisierung der Welt.
Ihr Werk war lange von der Opposition zwischen Orient und Okzident geprägt und von der Notwendigkeit, eine Form orientalischer Moderne zu erfinden, die imstande ist, die westlichen Beiträge – Freiheit, Fortschritt – zu umfassen, die aber auch die Vergangenheit, das Osmanische Reich in ihre Identität mit aufnimmt. Ist das noch immer der Fall?
Dieses Buch dreht sich weniger um die Fragen von Kultur und Zivilisation, um das problematische Selbstverständnis der europäisierten Türken. Die Leute von der Straße stellen sich eher die Frage, wie sie ihr tägliches Brot verdienen und überleben können. Anfangs wollte ich das Leben eines Straßenhändlers nachzeichnen, nicht unbedingt eines Boza-Verkäufers. Doch Boza löst eine Diskussion aus, die ich mag: Boza ist ein leicht alkoholisches Getränk, das in der modernen Türkei überlebt hat. Warum? Weil es eine romantische Vision des Osmanischen Reiches und der türkischen Identität vermittelt. Wenn die türkische Identität religiös ist, dürfte man keine Boza trinken! Doch wenn so viele Generationen Boza getrunken haben, bildet das auch einen Teil unserer Identität. Das bringt meine Figuren zum Reden. Und so kommt die Diskussion über die eigene Kultur auf.
Ist diese Dichotomie Orient – Okzident noch so stark wie vorher?
In meiner Arbeit, die ideologisch, politisch, sozial, anthropologisch und sogar soziologisch ist, komme ich um diese Frage nicht herum, die die Türkei seit 200 Jahren umtreibt. Ähnlich wie in Russland oder in Japan wollten einhundert Jahre vor Atatürk die Sultane und die osmanische Administration eine moderne, westliche Kultur übernehmen. Und wenn es innerhalb der Elite ein solches Verlangen nach Wandel gibt, ist es normal, dass sich im einfachen Volk eine Art Widerstand regt. Das ist das unvermeidliche Thema meiner Romane, weil die Türkei zugleich zu Europa und zu Asien gehört. Alle Türken, selbst jene, die Erdogan wählen, sind stolz auf die von Kemal Atatürk gegründete Republik. Wir haben keine Demokratie mehr, doch selbst in dem kläglichen Zustand, in dem wir uns befinden, sind wir das demokratischste aller muslimischen Länder. Und darauf sind wir stolz. Das ist also sehr komplex. Die Probleme, die ich in meinen Romanen anspreche, sind in den Herzen aller Türken. Nichts ist da schwarz und weiß. Es gibt nicht die europäischen Türken auf der einen und die rückwärtsgewandten muslimischen Türken auf der anderen Seite. Alles ist ambivalent und wirr, die Dinge und die Lager vermischen sich, und gerade das ist das Interessante.
Es kommt einem so vor, als hätte Ihre Literatur derzeit eine besondere Rolle: als wäre das Leben letztlich nur die dauernde Relektüre der Vergangenheit.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Moderne stark von Henri Bergson beeinflusst. Die Schriftsteller wollten etwas erfinden. Sie fingen damit an, Symbole für die Zeit zu benutzen. Und nach Joseph Conrad wird die lineare Geschichte links liegen gelassen. Das hat Wege geebnet, die die epischen Narrationen nicht gewährten. Und tatsächlich bin ich glücklich, wenn ich es schaffe, in einem Satz drei Zeiten unterzubringen: Gegenwart, Vergangenheit und eine Idee von der Zukunft einer Romanfigur. Sie erinnert sich an etwas, während sie etwas anderes tut, und antizipiert ihre Zukunft. Das hat auch unser Gefühl dafür geändert, was es heißt, in dieser Welt zu leben. Philosophen schreiben viel über die Zeit, doch nur Schriftsteller machen diese Konzepte zum Teil unseres Alltags. Die Bewusstseinsströme, die Flashbacks, sich an die Vergangenheit zu erinnern – all das ist wichtig, um die Menschen zu verstehen.
Liebe spielt eine wesentliche Rolle in Ihrem Werk. Fast alle Ihrer Helden versuchen eine Frau zu erobern, zurückzuerobern, nicht zu vergessen. Wie würden Sie Liebe definieren?
Oh, das kann ich nicht. Ich kann Liebesgeschichten schreiben, ich kann Figuren beschreiben, die von der Liebe ergriffen sind, aber wer kann wirklich wissen, was der Sinn der Liebe ist? Vielleicht sind meine Werke in dieser Hinsicht etwas anders: Ich will die Liebe nicht auf ein Podest heben. Vielleicht, weil ich aus einem Land komme, in dem sich die Männer und Frauen nicht so oft vor der Heirat treffen. Sie müssen bedenken, dass 55 bis 60 Prozent der Heiraten noch arrangiert werden. Doch entgegen dem, was man denken könnte, entsteht aus manchen arrangierten Heiraten eine große Liebe. Wie im Fall von Mevlut. Stellen Sie sich vor, dass Sie eine Person nur von ferne sehen. Welcher enormen Anstrengung bedarf es dann, sich zu verlieben! Im modernen Europa sieht man, wie das Mädchen sein Sandwich isst, wie es sich über ihren Vater ärgert, welchen Film es liebt, die Farbe seiner Schuhe. Deshalb verliebt man sich. Was machen Sie aber, wenn Sie das Mädchen nicht sehen? Der arme Mevlut schreibt ihr 300 Briefe! Nicht der Inhalt seiner Briefe, sondern die Tatsache, dass er sie schreibt, beweist seine Liebe. Wenn Sie das Mädchen nicht sehen, ist die Liebe anders. Man rückt näher an Dante. Es gibt viel Poetisches, viel Sublimierung, viel Verlagerung der Idee von Liebe. Doch in den Filmen, die ringsum zu sehen sind, küssen sich trotzdem die Paare, sogar Pornos laufen in den Kinos. Das ist die chaotische Welt, in der sich meine Figuren zu behaupten versuchen.
Und die Liebe geht oft aus einem Blick hervor?
In meinem Teil der Welt ist das sehr geläufig – jedenfalls haben Sie kein Anrecht auf einen zweiten Blick.
Vor etwa zehn Jahren wurden Sie mit dem Tode bedroht und gerichtlich verfolgt, weil Sie über den Völkermord an den Armeniern von 1915 gesprochen haben. Die Frage bleibt in der Türkei bis heute tabu. Was denken Sie darüber?
Ich bin froh über die wirtschaftlichen Entwicklungen der Türkei in den letzten 15 Jahren, doch ohne Redefreiheit gibt es keine Zukunft. Darüber sprechen zu können, was sich 1915 zugetragen hat, ist eine Frage der Meinungsfreiheit. Inzwischen sind wir beunruhigt über die Repression, den Verlust von Freiheit. Wir erleben furchtbare Dinge. Nach dem gescheiterten Militärputsch im letzten Jahr wurden 130 000 Personen aus ihren Ämtern entlassen. Manche unter ihnen werden nie mehr Arbeit finden. Es gibt viele Selbstmorde. Und nur hin und wieder wird über diese Selbstmorde in den Zeitungen berichtet. Außerdem sind 50 000 Personen verhaftet worden. Viele unter ihnen wurden noch nicht einmal einem Richter vorgeführt. Das ähnelt den Romanen Kafkas. An die 170 Journalisten sitzen in Haft, die beschuldigt werden, Terroristen zu sein. Das ist die Situation, wie sie sich im Laufe der letzten drei Jahre entwickelt hat. Ich bin wütend und sehr beunruhigt. Leider kommt der Autoritarismus leichter durch, als ich geglaubt hätte.
Und das überrascht Sie?
Ja und nein. Immerhin gibt es 49 Prozent, die den Autoritären ablehnend gegenüberstehen. Was auch immer die Regierenden durchsetzen wollen, trifft auf Schwierigkeiten, das darf man nicht vergessen.
Worin kann unter diesen Umständen die Rolle eines Schriftstellers oder eines Intellektuellen bestehen?
Ich schreibe Romane. Nicht um die Gesellschaft zu verändern. Das ist gewiss einer meiner geringsten Beweggründe. Ich glaube, dass die journalistischen Kommentare viel wichtiger sind. Und zuweilen fühlt man sich kastriert und hat Lust, selbst politische Kommentare abzugeben und jene Katharsis durchzumachen. Ich bin nie für meine Romane, immer nur für meine Äußerungen in der Presse verfolgt worden. Also hören Sie sofort auf, mir Fragen zu stellen! (lacht) •