Pandemie: Das Ende der Öffentlichkeit?
Die Coronakrise erzeugt keineswegs nur einen Mangel an Nähe. Vielmehr sind uns nahe Menschen oft zu nah, ferne zu fern. Das beschleunigt den vom Soziologen Richard Sennett diagnostizierten Verfall des öffentlichen Lebens.
Die Tragik der Coronakrise, könnte man meinen, liegt in dem Nähe-Mangel, den sie erzeugt. Und es stimmt: Insbesondere Alleinstehende leiden dieser Tage an Einsamkeit und fehlender Berührung. Doch viele andere dürften in Wirklichkeit an einer komplexeren Irritation der Nähe-Distanz-Verhältnisse leiden: Im Lockdown sind die nahen Menschen zu nah, die fernen zu fern. Wer im Homeoffice arbeitet und seine Kinder aus dem Nebenraum schreien hört, wird sie sich ein gutes Stück weiter wegwünschen. Wer mit seinem Partner seit Wochen in der Einzimmerwohnung festsitzt, dürfte sich das wohl nicht zuletzt zwecks erotischer Spannung ebenfalls wünschen. Auf die durch Videokonferenzen vermittelte Präsenz der Arbeitskollegen im eigenen Wohnzimmer könnten sicher auch viele verzichten.
Auf der anderen Seite ist das, was man „Distanzbeziehungen“ nennen könnte, seit Beginn des Lockdowns so gut wie verschwunden. Erstens ist seitdem jene lockere Distanz unmöglich, die ein Treffen mit Freunden im öffentlichen Raum erlaubt. Zweitens fehlen all die flüchtigen Plaudereien mit Unbekannten, die sich in Cafés, Bars, Restaurants oder Theatern ergeben können. Und drittens ist sogar die äußerst distanzierte Verbindung, die man im nicht-pandemischen Alltag durch Blickkontakt oder bloßes Beobachten herstellen kann, quasi verschwunden – nicht zuletzt als ein Nebeneffekt der Maskenpflicht.
Unwirtlichkeit der Städte
Die Coronakrise offenbart damit keine völlig neuen Phänomene. Vielmehr spitzt sich eine Entwicklung zu, deren Beginn der Soziologe Richard Sennett in seinem 1977 erschienen Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität bereits im 19. Jahrhundert ausmacht: das Verschwinden der öffentlichen Sphäre. Ihre Blütezeit hatte die Öffentlichkeit in den bürgerlichen Metropolen des 18. Jahrhunderts: Die Menschen, so Sennett, begriffen den öffentlichen Raum damals als Bühne, auf der sie ein durch Höflichkeitsnormen kodifiziertes Rollenspiel vollzogen. Gerade diese soziale Maskierung, die Selbst-Distanz ermöglichte ihnen den Kontakt mit Fremden, denen sie auf den Plätzen, in den Parks und in den Kaffeehäusern begegneten: „Eine Maske zu tragen gehört zum Wesen von Zivilisiertheit. Masken ermöglichen unverfälschte Geselligkeit, losgelöst von den ungleichen Lebensbedingungen und Gefühlslagen derer, die sie tragen.“
Der Verfall dieser Öffentlichkeit vollzog sich laut Sennett sodann in Folge der Zumutungen des Industriekapitalismus und politischer Enttäuschungen. Die Menschen zogen sich im 19. Jahrhundert zunehmend ins Private zurück und suchten nach Wärme und Wahrhaftigkeit in Familie und Freundschaften. Diese Tendenz zum Rückzug in Gemeinschaften lässt sich auch in der Gegenwart beobachten, wobei an die Stelle der Familie inzwischen häufig die eigene „Filterblase“ getreten ist. Auch die Suche nach Wahrhaftigkeit und Authentizität hält an: „Sei du selbst“ wird allenthalben von großen Werbekampagnen befohlen und in therapeutischen Kontexten als Allheilmittel gepriesen. Die von Sennett diagnostizierte „Intimisierung“ der Gesellschaft lässt sich an einer Reihe weiterer Entwicklungen aufzeigen – etwa an der Ausbreitung des informellen „Du“, dem Tragen von Jogginghosen und Turnschuhen bei der Arbeit oder an der Thematisierung intimster Erfahrungen in den sozialen Netzwerken. Vom Verfall der Öffentlichkeit sprechen nicht zuletzt auch die Stadtbilder Bände: Plätze verwaisen, die Innenstädte sind von Bürotürmen und leerstehenden, als Spekulationsobjekte dienenden Wohnimmobilien geprägt, Geschäfte werden in Malls und Gewerbezentren ausgelagert.
Der infektiöse Andere
Sennett zufolge bedeuten diese Entwicklungen leider keineswegs, dass wir nun endlich die steife, bürgerliche Welt zugunsten aufrichtiger und liebevoller Nahbeziehungen hinter uns gelassen haben. Vielmehr entstünden soziale Deformierungen: Zunächst lasse der Authentizitätskult paradoxerweise die emotionale Expressivität verkümmern. Wer immer in sich hineinhorcht und von nichts Fremden, keinen allgemeinen Konventionen kontaminiert werden will, findet zu keinem adäquaten Gefühlsausdruck mehr. Die spielerische Distanz zum eigenen Selbst geht verloren. Zweitens wird die Fähigkeit zur Verständigung mit Unbekannten beschädigt: Der „Umgang und Austausch mit Fremden gilt allenfalls als langweilig und unergiebig, wenn nicht gar unheimlich. Der Fremde selbst wird zu einer bedrohlichen Gestalt“. Gerade für diverse, multikulturelle Gesellschaften ist dies offensichtlich ein Problem. Drittens, so Sennett, führt die Intimisierung zu einer Entpolitisierung: Der solidarische Klassenkampf über Gemeinschaftsgrenzen hinweg wird erschwert, während Politiker zunehmend nach persönlichen Gefühlsäußerungen und Haltungsbekundungen statt nach ihren Handlungen beurteilt werden.
Die Pandemie verschärft den Verfall der Öffentlichkeit also nun nicht nur dadurch, dass die Eindämmungsmaßnahmen (aus guten Gründen) Kontakte und politische Versammlungen im öffentlichen Raum stark beschränken. Die Pandemie befördert zudem auch eine Sichtweise auf den (fremden) Anderen, die diesen noch weniger als öffentliche Person wahrnimmt. Im schlimmsten Fall erscheint der Fremde nicht einmal mehr als Privatperson, sondern als potentiell infektiöser Körper. Wie sich das öffentliche Leben nach Ende der Pandemie entwickeln wird, ist freilich noch nicht abzusehen. Werden wir im Rückzug verharren? Oder werden die Menschen nach Monaten der Abkapselung auf die Straßen und in die Cafés strömen und das öffentliche Leben zu einer neuen Blüte bringen? •
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