Schuld und Sühne?
Letztes Weihnachten hat sich die niederländische Philosophin Jannah Loontjens dazu entschlossen, das Fest nicht mit ihrer Mutter zu feiern. Die Folge: eine Spirale aus Schuldgefühlen und der Versuch, diese zu ergründen – vielleicht zu lindern.
Jedes Jahr mache ich um Weihnachten herum eine Reise, entweder tausend Kilometer in den Norden oder etwa genauso weit in den Süden. Schließlich lebt mein Vater in Schweden und meine Mutter in Frankreich. Letztes Weihnachten beschloss ich jedoch, zum ersten Mal mit meinen Kindern zu Hause in den Niederlanden zu bleiben. Die Flug- und Bahntickets waren teuer, außerdem hatten wir Lust, in den Ferien einmal zu Hause zu sein. Meinem Vater machte es nichts aus, dass ich nicht kam. Meine Mutter hingegen war sehr enttäuscht. Sie lebt allein in der hügeligen Landschaft von Zentralfrankreich. Und auch wenn sie sich nie langweilt, weil sie immer Beschäftigungen im Haus und dem Garten findet oder sich um ihren Hund, ihre Hühner sowie ihre Katze kümmert, wird es an dem abgelegenen Ort, an dem sie lebt in den Ferien ohne Kinder und andere Verwandtschaft doch etwas einsam.
In mir breitete sich ein Schuldgefühl aus, das mit der Dunkelheit des Winters stetig zuzunehmen schien. Dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass ich nicht nur in den Niederlanden blieb, sondern beschlossen hatte, Heiligabend bei der jüngeren Schwester meiner Mutter zu verbringen, die seit einiger Zeit in einem Dorf in der Region Betuwe, nicht zu weit von uns lebt. Ich hätte mir vorstellen können, dass meine Mutter sich darüber freuen würde, dass ich eine ruhige Zeit zu Hause mit meinen Kindern verbringe und meine Tante besuche, die ich sonst nur selten sehe. Aber stattdessen stellte ich mir vor allem vor, wie traurig es für meine Mutter sein würde, das Fest allein zu verbringen. Ich fühlte mich für ihren Kummer verantwortlich.
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Kommentare
Vielleicht kann man sagen, dass Schuldgefühle mit Konsequenzen vor manchem zukünftigem Fehlverhalten schützen können und manches vergangene Fehlverhalten wieder gutmachen können. Sie können aber wie im Artikel und auch meiner Erfahrung nach im Exzess auch übervorsichtig und zu selbstkritisch machen, auf der anderen Seite kann Mangel an Schuldgefühlen auch zu deren Gegenteil führen, zu zu wenig Vorsicht und zu zu wenig Selbstkritik.
Damit Schuldgefühle eher meist in diesem Rahmen bleiben, schätze ich es momentan hilfreich, wenn man
-versucht, sich und seine Gruppen nur wahrscheinlich ausreichend zu befreien, dies hilft vielleicht, mit den eigenen Gruppen tendenziell eher positive Verhältnisse zu haben, um Schuld begleichen zu können, und wenn man
-sonst eher versucht, was wahrscheinlich Bestes für alle sein könnte, damit man tendenziell eher positive Verhältnisse mit "allen" hat, um Schuld begleichen zu können.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Antwort auf Vielleicht kann man sagen,… von armin.schmidt
Vielleicht kann man sagen, dass Schuldgefühle mit Konsequenzen vor manchem zukünftigem Fehlverhalten schützen können und manches vergangene Fehlverhalten wieder gutmachen können. Sie können aber wie im Artikel und auch meiner Erfahrung nach im Exzess auch übervorsichtig und zu selbstkritisch machen, auf der anderen Seite kann Mangel an Schuldgefühlen auch zu deren Gegenteil führen, zu zu wenig Vorsicht und zu zu wenig Selbstkritik.
Damit Schuldgefühle meist eher angemessen(geändert) bleiben, schätze ich es momentan hilfreich, wenn man
- versucht, sich und seine Gruppen nur wahrscheinlich ausreichend zu befreien, dies hilft vielleicht, mit den eigenen Gruppen tendenziell auch langfristig nachweisbar eher positive Verhältnisse zu haben, um Schuld, auch frei erfundene, begleichen zu können und anderen Schuld, besonders zweifelhafte, eher verzeihen zu können, und wenn man
- sonst eher versucht, was wahrscheinlich Bestes für alle sein könnte, damit man tendenziell nachweisbar eher positive Verhältnisse mit "allen" hat, um Schuld, auch frei erfundene, begleichen zu können und anderen Schuld, besonders zweifelhafte, eher verzeihen zu können.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.