Schwäche als Symptom
Wahlkampf wie Kanzlerkandidaten eint eines: Kraftlosigkeit. Mit dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci lässt sich die politische Blutarmut erklären, meint Nora Bossong.
Nur langsam erholt sich die Gesellschaft von einer Jahrhundertpandemie, ums Klima steht es noch schlimmer als befürchtet, die Demokratie röchelt. Eigentlich müsste es in diesem Wahlkampf um alles gehen. Stattdessen beobachten wir seit Monaten einen blutleeren Schlagabtausch, bei dem man sich fragt, wie hoch der Baldrianverbrauch in den Parteizentralen ist und warum eigentlich keiner der drei, die aufs Kanzleramt schielen, heraussticht.
Erklärbar wird dieser kraftlose Wahlkampf, wenn man ihn und das Ende der Ära Merkel als Teil eines größeren Übergangsprozesses versteht, den man als tiefe Autoritätskrise der alten Machtverhältnisse deuten kann. Der italienische Marxist Antonio Gramsci beschrieb Anfang der 1930er-Jahre einen solchen in seinen Gefängnisheften: „Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ,führend‘, sondern nur einzig ,herrschend‘ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Weniger marxistisch gesprochen können wir aktuell beobachten, dass die leitenden gesellschaftlichen Ideen wie die parlamentarische Demokratie, das Parteiensystem und die Marktwirtschaft an Bindekraft verlieren und angezweifelt werden, mal mehr, mal weniger sinnhaft.
Zeiten des Übergangs
Können demokratische Verfahren und freie Märkte gezielt genug auf die Klimakrise reagieren? Sind Politiker korrupt? Leben wir in einer Echsen-Diktatur? Selbst Verschwörungstheorien lassen sich so als Teil dieses Skeptizismus begreifen. Für unsere Grundordnung bedeutet das: Die staatlichen Institutionen stehen noch, aber sie büßen an Autorität ein, und mag die Ausführung demokratischer Macht auch noch funktionieren, so bleibt ihre Legitimation nicht mehr unwidersprochen.
Dieses Unbehagen mobilisieren Klimaaktivisten und junge Menschen, die sich um ihre Zukunft sorgen, aber auch Neurechte und Querdenker. Nicht zufällig beziehen Letztere sich gern auf Gramsci und lassen das Wort Interregnum immer mal wieder verheißungsvoll fallen. Sie wollen nicht eine Krankheitserscheinung sein, sondern den maladen Zustand der alten Zeit nutzen, um ihre Vorstellung des Neuen zur Welt zu bringen, in dem das Autoritäre die Autoritäten ersetzt.
Derweil stolpern die Kanzlerkandidaten übers Hölzchen und fallen übers Stöckchen, in Wahrheit irren sie durch einen Wald mit einem Kompass, der nicht mehr funktioniert. Was also tun? Die Antwort kann laut Gramsci nicht sein, die „neuen Ideologien“ zu unterdrücken. Vielmehr sei es nötig, wieder über die Reduktion auf rein ökonomische und politische Aspekte hinauszuwachsen und eine neue Kultur herauszubilden. Diese wird aber nicht allein in den Parteien entstehen, sondern wesentlich von der Zivilgesellschaft mitgeformt. Ein so gewonnener neuer Konsens kann eine Wahl entscheiden – aber eine Wahl entscheidet noch nicht über einen neuen Konsens. Das wissen wohl auch die Kandidaten dieser Wochen.•